Götter, Monster und Heroen

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Athene/Minerva

Die mythische Göttin der Weisheit und des Handwerks – das ist Athene (römisch: Minerva). In Griechenland ist sie außerdem die Schutzherrin der Stadt Athen, wie der Name schon sagt. Oft wird sie auch als „Pallas Athene“ bezeichnet, dies hat mit einer weiteren göttlichen Gestalt zu tun – Pallas, einer Tochter des Meeresgottes Triton, die (nach unterschiedlichen Überlieferungen) entweder Vater, Schwester, Gefährte, Gefährtin oder Gegnerin Athenes ist. Auf jeden Fall tötet Athene versehentlich Pallas und erhält dadurch deren Namen als Beinamen. Ebenso bizarr ist, wie Athene zur Welt kommt: Zeus zeugt sie mit Metis, einer Tochter des Titanen Okeanos. Als Metis schwanger ist, erfährt Zeus durch ein Orakel, dass ihm das noch ungeborene Kind gefährlich werden kann: Wenn es sich um einen Sohn handelt, wird er Zeus stürzen. Daher verspeist Zeus die noch schwangere Metis. Das Kind kommt schließlich aber doch zur Welt, und zwar indem der Schmiedegott Hephaistos Zeus den Kopf einschlägt. Dem Spalt in Zeus’ Schädel entsteigt zu Zeus’ Glück kein Sohn, sondern eine Tochter: Athene, bereits in voller Rüstung mit Speer und Schild, wie sie auch in der Kunst stets dargestellt wird. Athene ist also im wahrsten Sinne des Wortes eine „Kopfgeburt“.

Eine weitere Besonderheit bei Athene ist, dass sie niemals einen Geliebten hat; daher stammt auch ein weiterer ihrer Beinamen: Parthenos, „die Jungfräuliche“. Ein Attribut Athenes neben der Rüstung ist die Eule, die so zum Symbol für die Stadt Athen wurde und vor allem in der Numismatik eine Rolle spielt. Von den antiken Drachmen, auf denen die Eule zu sehen war, stammt das geflügelte Wort: „Eulen nach Athen tragen“. Und auch heute noch findet sich auf der Rückseite der griechischen 1-Euro-Münze eine Eule. Doch auch in Rom spielte die Göttin, in Form ihrer Entsprechung Minerva, eine wichtige Rolle. Zusammen mit Jupiter und Juno bildete sie die sogenannte Kapitolinische Trias, das Göttertrio, das als Schutzgötter der Stadt auf dem Kapitol verehrt wurde. In der Neuzeit findet sich Athene/Minerva als Verkörperung von Fleiß, Tugend und Intelligenz vor allem in Form von Skulpturen, gerne an Schulgebäuden oder vor staatlichen Einrichtungen wie dem österreichischen Parlamentsgebäude in Wien.


Parthenon (Athen, 430 v. Chr.)

Der große Athene-Tempel auf der Athener Akropolis ist das berühmteste Bauwerk der Antike. Dabei ist bis heute nicht klar, warum man den Tempel „Parthenon“ nannte – vielleicht weil im Tempel Jungfrauen (griech. parthenoi) im Dienste Athenes beschäftigt waren, oder nach einem Beinamen Athenes selbst. Immer wieder wurde der Tempel zerstört und wieder aufgebaut, zuletzt im 19. Jahrhundert, nachdem venezianische Bomben 200 Jahre zuvor die Akropolis in Schutt und Asche gelegt hatten.

Karl Kraus, Unsere Pallas Athene! (1918)

Karl Kraus (1874–1936) war ein österreichischer Publizist, Schriftsteller und Kulturkritiker. 1899 gründete er die bedeutende Satirezeitschrift Die Fackel, die sein wichtigstes Sprachrohr wurde. Er kritisierte die Kriegstreiberei und später den Nationalsozialismus. In den 1920er-Jahren war Kraus dreimal für den Literatur­nobelpreis nominiert.

Gestern früh gab ein Soldat von einem Straßenbahnwagen aus bei der Haltestelle vor dem Parlamentsgebäude gegen die vor diesem stehende Statue der Pallas Athene zwei scharfe Schüsse aus einem Gewehr ab. Der Mann wurde von einem Offizier und zwei Soldaten entwaffnet und das Gewehr entladen. Der Soldat, der offenbar geistesgestört ist –

Wieso? Die kann einen schon aufregen. Ich war nicht im Krieg und trage kein Gewehr bei mir. Aber so oft ich die sehe, in ihrer vollkommenen Nichtbeziehung zu den Dingen, die in dem Haus drin und außerhalb vorgehen, höchstens daß einem der Abgeordnete Groß einfällt oder daß einem jetzt um das viele Stearin leid ist – wie sie dasteht, ein Denkmal des Wiener Schönheitssinnes, so eine noch immer fesche Hausmeisterin des hohen Hauses oder Verkörperung des Ideals halt von etwas Idealem oder Antikem oder in der Art, die meisten Passanten glauben jetzt, daß es die Austria ist oder die Germania, aber die Gebildeten wissen, daß es eine Palastathene ist, eigentlich gehört sie vors Burgtheater, weil sie akkurat aso aussieht, wie ich mir das christlichgermanische Schönheitsideal des Herrn Dr. von Millenkovich in antiker Gewandung vurstelle – so oft ich die sehe: was ist, frage ich da, aus all den Arbeitskräften geworden, die das in den Neunzigerjahren hinpappen mußten, ja die Katzelmacher die haben mit ihnerem Colleoni einpacken können aus Furcht vor uns, aber unserer Pallas Athene, der kann nichts g’schehn, in dem Punkt sind wir sicher, sie steht einmal da, keine feindliche Bombe, keine Kugel wird die treffen, und wenn jetzt einer von den Unsrigen sich so weit hat hinreißen lassen, so handelt es sich um die Tat eines offenbar Geistesgestörten, man darf nicht generalisieren, solche Leute soll man nicht auf die heimischen Kunstschätze loslassen, sondern soll sie einrückend machen, die Pallas Athene die muß uns erhalten bleiben im Weltkrieg, wär’ nicht schlecht – und so oft ich die sehe und alles andere rings herum sehe und höre, da spür’ ich ordentlich, daß ich kein Gewehr bei mir trage!

Castor und Pollux


Im Griechischen heißen sie Kastor und Polydeukes, bekannter sind sie aber unter ihren römischen Namen: Castor und Pollux, die man auch die „Dioskuren“ (Zeus’ Söhne) nennt. Im Mythos sind sie zugleich Halbbrüder und Vierlinge, denn beider Mutter ist die ätolische Königstochter Leda. In ein und derselben Nacht zeugt Leda vier Kinder: zwei mit Zeus, nämlich Pollux und die schöne Helena, und zwei mit ihrem Ehemann Tyndareos, nämlich Castor und Klytaimnestra (die spätere Frau des Agamemnon). Durch Helena und Agamemnon ist der Zeugungsmythos von Castor und Pollux also eng mit dem Krieg um Troja verbunden. Was besonders skurril anmutet, ist, dass diese Vierlinge im Mythos im wahrsten Sinne des Wortes „zweieiig“ sind: Leda bringt nämlich keine Säuglinge zur Welt, sondern zwei Eier, aus denen dann später die Kinder schlüpfen – da Zeus sich mit Leda in Gestalt eines Schwans vereinigt hat, verwundert dies nicht allzu sehr. Castor und Pollux tauchen immer wieder in der Mythologie auf, etwa als Begleiter Jasons auf der Argo. Gemäß ihrer Abstammung ist Pollux ein Halbgott, Castor jedoch sterblich – dafür, dass dennoch beide als Götter verehrt wurden, liefert der Mythos ebenfalls eine Erklärung: Als Castor stirbt, stellt Zeus Pollux vor die Wahl, entweder dauerhaft auf den Olymp überzusiedeln oder seinem Bruder einen Teil seiner Unsterblichkeit abzugeben. Pollux entscheidet sich für Letzteres und so verbringen beide abwechselnd einen Teil ihrer Zeit in der Unterwelt und auf dem Olymp.

Der Dioskuren-Mythos zeigt also vor allem eines: eine brüderliche Verbundenheit und Loyalität bis über den Tod hinaus. Kein Wunder, dass sie zu den beliebtesten Göttergestalten der Antike gehörten. Vor allem im Römischen Reich gab es zahlreiche Dioskurentempel. Besonders bekannt ist derjenige auf dem Forum Romanum, dessen erster Bau bereits 484 v. Chr. entstand. Dass man Castor und Pollux in Rom schon relativ früh verehrte, ist darauf zurückzuführen, dass sich in der römischen Mythologie bei den Dioskuren griechische mit etruskischen Mythen vermischten. In der Rezeption der Neuzeit hat man alle möglichen Brüderpaare „Castor und Pollux“ getauft – so z. B. zwei Elefanten des Pariser Zoos, die während der Belagerung 1870 durch die Deutschen traurige Berühmtheit erlangten, als sie erschossen wurden, weil man ihr Fleisch brauchte. Wirklich geschmeckt hat das Elefantenfleisch wohl niemandem.


CASTOR (von Gesellschaft für Nuklear-Service, seit 1995)

Heute denkt man bei „Castor“ wohl eher an Atommülltransporte als an die olympischen Götter. Dabei ist der geschützte Markenname CASTOR der deutschen Firma GNS für ihren Behälter zur Zwischenlagerung bestrahlter Brennelemente eigentlich ein clever gewähltes englisches Anagramm (cask for storage and transport of radioactive material), als dass er auf den Mythos verweist. Für den ebenfalls von GNS hergestellten Behälter POLLUX zur atomaren Endlagerung fand die Firma übrigens (noch) kein Anagramm.

Aus: Wilhelm Heinse, Die Entführung der Töchter des Leykippos von den Dioskuren (1776)

Wilhelm Heinse (1746–1803), eigentlich Johann Jakob Wilhelm Heintze, war ein deutscher Schriftsteller und Bibliothekar. Er war Mitglied im einflussreichen Halberstädter Dichterkreis. Mit seinem Roman Ardinghello, geschrieben nach einer langen Italienreise, brachte er den Lesern bereits 30 Jahre vor Goethes Italienischer Reise Italien näher.

Das Gemälde ward also durch meinen Begriff von mir angesehn, wie andre dasselbe durch ihren Begriff von der biblischen Geschichte der Dina betrachteten, durch ihren Begriff von dem Fragment eines Sabinerinnenraubes, von der Geschichte der Himmel weiß was für einer Prinzessin Armenia und so weiter: und folgendergestalt dem Maler große Gewalt angetan. [. . .]

Es ist die Entführung der Bräute des Lynkeus und des starken Idas, wobei die Söhne der Leda, wenn es sich zugetragen wie Theokrit zu ihrem Lobe singt, nun freilich mehr gezeigt, daß ihr Vater ein Schwan gewesen, als in unserm Gemälde; wo sie nicht so sehr Halbgötter zu sein scheinen, und gütiger aussehn. Auch dürfte man heutiges Tages, wo der Gewalt der Natur Flügel und Kralle abgeschnitten sein soll, auf Prinzen die gleiches täten, kein solches Loblied anstimmen, wie Theokrit auf den Kastor, dessen heißer Begierde der Sicilianer noch dazu das letzte Hindernis seinen Vater Zevs mit einem Wetterstrahl aus dem Wege räumen läßt, damit sie in aller Gemächlichkeit sich austobe: ohngeachtet ihn Braut und Bräutigam freundschaftlich zur Hochzeit eingeladen hatten. Welches jedoch Pindar in der zehnten Nemeischen Ode zur Ehre des Zevs ganz anders erzählt.

 

Die Hauptperson in unserm Gemäld ist Kastor in griechischer Rüstung auf einem braunroten Rosse, dem ein Amor den Zügel hält, mit dem Pollux, der von seinem Schimmel gestiegen ist, dessen Zügel gleichfalls ein Amor hält. Kastor zur Rechten, Pollux zur Linken.

Kastor hebt auf freiem Feld eine ganz entblößte junge Dame an einem rotseidenen Tuche (das ihr vom Rücken am Hintern durchgeht, der davon einen schönen Widerschein wirft) mit der rechten um den in die Höhe gezogenen linken Schenkel am Knie herum, mit der linken um den rechten Arm – nach seinem Rosse. Pollux hat dieselbe unterm linken Arm mit seiner rechten Schulter gefaßt, und hält mit der linken Hand ihre Schwester unter der rechten Achsel.

Die Schönheit der Gruppe ist schwerlich mit Worten nur einigermaßen sinnlich zu machen.

Kastors Roß steht rechter Seite des Gemäldes zu, und der Schimmel bäumt sich von der Linken her in die Höhe. Die beiden Jungfrauen sind in vollem Licht vor den Pferden in der Mitte.

Die erste, von der linken Seite her, mit den Brüsten und dem Kopf von ihrem Räuber abgedreht, der den linken Schenkel mit dem Knie schon oben am Sattel hat, indes sie das rechte Bein mit dem Schenkel am Pferde sinken läßt, den linken Arm über des Bruders Schulter hinausstreckt, und die rechte Hand an des Räubers Arm über das gehobene Knie hält.

Die zwote steht, gleichfalls von der linken Seite, an der ersten; erstaunt sich sträubend und den Rücken in die Seite krümmend, mit dem Gesicht nach dem Kastor sehend, und mit der Linken ihren Räuber etwas von sich haltend, der sie unter der rechten Achsel faßt. Ihr rechtes Bein steht, bis auf den Schenkel welcher sich schräg zieht, noch gestämmt auf den Boden, und der linke Schenkel, der ganz zu sehen ist, berührt fast mit dem Knie die Erde.

Pollux ist nackend, so weit man ihn sehen kann; denn die Mädchen verbergen von ihm Unterleib und Schenkel.

Kastors Gesicht ist wahrhaftig schöne männliche Jugend, im aufgesproßten braunen krausen Barte. Inbrunst leuchtet überall hervor. Die erhabene Stirn, das in süßer Begierde Wollust ziehende Auge, die Lippen voll Glut, und die Wangen voll Scham, der nervichte Arm, und das Hippodamische der Stellung machen einen reizenden Räuber. „Ach, daß ich dir Leid tun muß! (flüstert er) aber es war nicht möglich, daß du die Meine nicht sein solltest!“ Das Bittende, die Zärtlichkeit ist unbeschreiblich: und die Kühnheit in dem über den Augen Hervorgehenden der Stirn, und die Blüte der Stärke.

Die Jungfrauen sind beide ganz nackend in blonden Haaren, die los und in Flechten den Lüften zum Spiele dienen, wie aus dem Bett oder Bade: und in Jugendfülle, die im Zeitigwerden ist. Der Ausdruck im Gesicht der ersten ist unbeschreiblich fürtrefflich: Ergebung, in der Ohnmacht zu widerstehen; Scham und das süßstechende Gefühl derselben, und Außenbleiben der Überlegung. Die Brüste schwellen sich empor in der drängenden Lage. Sie wendet das Gesicht vom Räuber, und schielt doch zurück. „Ha, nun bist du weg! (scheint sie zu seufzen) er hat dich!“ und doch furchtsam Hoffnung künftiger Freuden. Der junge Halbgott, der das goldne Vließ zurückgebracht und den Archipelagus von den Räubern befreit, hat wider ihren Willen mehr Liebesgewalt über sie, als ihr Bräutigam, was bei einem Mädchen nicht anders sein konnte; aber doch geht ihr dessen Schicksal nahe. Es ist Furcht und Liebe; Zweikampf zwischen Moral und Natur; um die Augen das Bange und Süße, um die Lippen das Weinen und Lächeln. Nur eine Phantasie, wie Rubens hatte, konnte diesen Ausdruck treffen. Ihr Leib schwebt wie eine Rose im Gepflücktwerden.

Die zwote ist im Profil, voll Schönheit und Mädchenheit, und scheint sich auf das, was Mann ist, in Unschuld ein wenig zu verstehen. Sie blickt, sich lässig sträubend, nach dem Kastor, und was dieser mit der Schwester anfängt, und blickt nach ihm nicht ungern, und lieber, als nach dem, welchem sie zu Teile werden soll. Die Drehung, und das Ringen in den Muskeln des Rückens, wie überhaupt das Fleisch des ganzen Rückens gehört unter die fürtrefflichste Malerei.

Dionysos/Bacchus

Er ist der mythische Gott des Weins und der rituellen Ekstase: Dionysos (römisch: Bacchus oder Liber). Er ist einer jener olympischen Götter, deren Verehrung sich am weitesten zurückverfolgen lässt, bis zu den Mykenern im 2. Jahrtausend v. Chr. Ursprünglich stammt sein Kult wohl entweder aus dem Osten oder aus dem Süden (z. B. aus Äthiopien). Er geht mit Sicherheit auf bereits prähistorische Riten zurück, bei denen Rauschmittel wie Cannabis und natürlich auch Alkohol, der schon vor rund 9000 Jahren hergestellt wurde, zur Erlangung religiö-ser Ekstase dienten.

In der Mythologie ist Dionysos der Sohn von Zeus mit der Sterblichen Semele. Sein Zeugungsmythos ist äußerst bizarr: Zeus’ Ehefrau Hera sagt Semele, sie solle (den verkleideten) Zeus bitten, sich ihr in seiner wahren Gestalt zu präsentieren. Als er dies tut, verbrennt sie durch Zeus’ Blitze. Sie ist jedoch bereits von ihm schwanger und es gelingt Zeus, den Fötus zu retten und ihn sich in eine Wunde einzunähen, die er sich selbst am Schenkel beigebracht hat. Dionysos kommt so schließlich als „Schenkelgeburt“ zur Welt. Einer der wichtigsten (und in Kunst und Literatur des öfteren aufgegriffenen) Auftritte des Dionysos in der Mythologie hängt mit dem Theseus-Mythos zusammen: Nachdem Theseus Ariadne einsam und allein auf der Insel Naxos ausgesetzt hat, erscheint der Gott und rettet ihr das Leben, indem er sie in sein Gefolge aufnimmt. Diese umfangreiche Entourage ist besonders für die Welt der Kunst wichtig: Auf festlichen Umzügen begleiten Dionysos Mänaden (bzw. Bacchantinnen), ein glatzköpfiger Silen und zahlreiche Satyrn (römisch: Faune) – vor allem Letztere finden sich auf unzähligen griechischen Vasenbildern, oft in ekstatischen Szenen bzw. beim Geschlechtsverkehr mit Frauen, Männern oder untereinander.

Das wichtigste Fest des Gottes in Athen war zugleich der Höhepunkt des attischen Kulturschaffens: Bei den städtischen Dionysien führten Tragödien- und Komödiendichter wie Sophokles und Menander im Wettstreit ihre neuesten Werke auf. Im heutigen Sprachgebrauch findet sich vor allem der Name Bacchus, und zwar losgelöst von jedem Kontext als eine Art Schutzpatron des Weinanbaus: Allein in Deutschland gibt es Hunderte Restaurants und Weinkeller, die sich mit seinem Namen schmücken.


DJ Dionysos. Geschichten aus der Diskowelt

(von Hans Nieswandt, 2010)

Der DJ als neuer Dionysos, als Herr der Lust und des Überschwangs, dem die Tanzwütigen, die modernen Mänaden und Satyrn, hinterherlaufen – Hans Nieswandt, selbst DJ, gibt in diesem Buch eine Bestandsaufnahme der Clubkultur rund um den Globus und hat sich für dieses Projekt das richtige Pseudonym ausgesucht: DJ Dionysos. Eine clevere Mischung aus Roman und Tatsachen­bericht.

Gottfried August Bürger: Herr Bacchus (1770)

Gottfried August Bürger (1747–1794) war ein deutscher Schriftsteller des Sturm und Drang. Er war Redakteur des Göttinger Musenalmanachs und veröffentlichte darin viele seiner teils komischen und politisch-satirischen Gedichte. Sein bekanntestes Werk ist eine Bearbeitung der Feldzüge und Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen (1781).

Herr Bacchus ist ein braver Mann,

Das kann ich euch versichern;

Mehr, als Apoll, der Leiermann,

Mit seinen Notenbüchern.

Des Armen ganzer Reichtum ist

Der Klingklang seiner Leier,

Von der er prahlet, wie ihr wißt,

Sie sei entsetzlich teuer.

Doch borgt ihm auf sein Instrument

Kein Kluger einen Heller.

Denn frohere Musik ertönt

Aus Vater Evans Keller.

Obgleich Apollo sich voran

Mit seiner Dichtkunst blähet:

So ist doch Bacchus auch ein Mann,

Der seinen Vers verstehet.

Wie mag am waldigen Parnaß

Wohl sein Diskant gefallen?

Hier sollte Bacchus Kantorbaß

Fürwahr weit besser schallen.

Auf, laßt uns ihn für den Apoll

Zum Dichtergott erbitten!

Denn er ist gar vortrefflich wohl

Bei großen Herrn gelitten.

Apoll muß tief gebückt und krumm

In Fürstensäle schleichen;

Allein mit Bacchus gehn sie um,

Als wie mit ihresgleichen.

Dann wollen wir auf den Parnaß,

Vor allen andern Dingen,

Das große Heidelberger Faß

Voll Nierensteiner bringen.

Statt Lorbeerbäume wollen wir

Dort Rebenstöcke pflanzen,

Und rings um volle Tonnen, schier

Wie die Bacchanten tanzen.

Man lebte so nach altem Brauch

Bisher dort allzunüchtern.

Drum blieben die neun Jungfern auch

Von je und je so schüchtern.

Ha! zapften sie sich ihren Trank

Aus Bacchus’ Nektartonnen,

Sie jagten Blödigkeit und Zwang

Ins Kloster zu den Nonnen.

Fürwahr! sie ließen nicht mit Müh

Zur kleinsten Gunst sich zwingen,

Und ungerufen würden sie

Uns in die Arme springen.

Grazien


Früher gab es eine Redensart: Wenn man Gäste zu sich einlädt, soll die Zahl der Anwesenden weniger als die der Musen (neun) und mehr als die der Grazien (drei) betragen. Diese Faustregel geht auf die Antike zurück und findet sich beim römischen Schriftsteller Varro; heute hört man sie wohl vor allem deshalb kaum noch, weil die Anzahl von Musen oder Grazien nicht mehr zum allgemeinen Bildungsschatz gehört – ebenso wenig wie ihre Funktion und Herkunft. Die Grazien (griechisch: Chariten) sind Göttinnen der Anmut, der Schönheit, der Kreativität und Fruchtbarkeit. Sie gehören nicht zu den 12 olympischen Göttern, sondern sind sozusagen in zweiter Riege zu finden – Homer schreibt, sie gehören dem Gefolge der Aphrodite an. Laut Hesiod sind ihre Namen Thalia (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Muse), Euphrosyne und Aglaia. Die drei Göttinnen sind Töchter von Zeus und Eurynome (einer Tochter des Meeresgotts Okeanos). Andere antike Autoren nennen andere Namen, Herkunftsmythen und sogar Anzahl, aber Hesiods Beschreibung ist es, die kanonisch geworden ist.

Da ihr Name, das griechische charites wie auch das lateinische gratiae, direkt auf ihren Liebreiz verweist, gelten die Grazien als äußerst schön und werden infolgedessen in der bildenden Kunst seit der Antike traditionell nackt dargestellt. Auch heute noch verwendet man den Begriff „Grazie“ als Synonym für ein schönes weibliches Wesen – wenn auch inzwischen oft als ironischen Kommentar. Eine solche Verwendung findet sich bereits in Julius Stettenheims Modernem Knigge (1902), in dem dieser rät, wenn man jemanden besuche und die „Dame des Hauses“ einem ihre nicht allzu hübsche Tochter vorführe: „Ist das Kind ein Affe, so nenne man es eine künftige Venus von Milo. Giebt die Mutter Zeichen der Unzufriedenheit, so lege man noch eine der drei Grazien zu, man gehe aber nicht höher. Wird das Kind dann wieder hinausgeführt, so gebe man seiner Freude durch bedauernde Worte Ausdruck.“


Frühling (von Sandro Botticelli, 1487; siehe Bild)

Eines der berühmtesten Renaissancegemälde, heute in den Uffizien in Florenz, beherbergt links vom Zentrum, neben der Göttin Venus, eine der bekanntesten Darstellungen der drei Grazien. Die Grazien wurden seit der Antike zumeist im Kreis stehend, einander berührend dargestellt – so auch hier. Bemerkenswert ist bei Botticelli die Stellung der einander fassenden Hände: über dem Kopf, in Augenhöhe und in Schenkelhöhe. Was dies (wie das ganze Gemälde) bedeuten mag, beschäftigt noch heute die Kunsthistoriker.

 

Aus: Otto Ernst, Semper der Jüngling (1908)

Otto Ernst (1862–1926), bürgerlich Otto Ernst Schmidt, (s. S. 132) war ein deutscher Schriftsteller. Der Hamburger war zunächst als Lehrer tätig, bevor er mit Humoresken und seinen populären Semper-Romanen reüssierte. Er gründete in Hamburg die Literarische Gesellschaft.

Ein merkwürdiger Mann, dieser Herr Stahmer. Er sprach außer seinen Vorträgen kaum ein Wort zu seinen Schülern; er verlängerte fast jede Stunde um die ganze folgende Erholungspause – ein Ding, das Schüler nicht lieben – er verlangte viel und verschonte weder Trägheit noch Dummheit. Aber er bedurfte keiner Disziplinarmittel. Von diesen jungen Leuten, unter denen manch ein dreister Gelbschnabel war, hätte nicht einer ein unehrerbietiges Wort gegen ihn gewagt; instinktiv verehrten sie in ihm das lautere Gefäß einer großen Kraft. Während zweier Jahre brauchte er wohl nie die Worte „Wahrheit“ und „Gerechtigkeit“, und doch war das die stumme Lehre seines ganzen Wirkens: Wer Wissenschaft will, der muß wahrhaftig und gerecht sein, und wenn es das Leben gilt. Kein Gottesdienst hatte je das Herz des Asmus erhoben wie dieser.

Leider gab es davon nur zwei Stunden die Woche. In seiner Dorfschule waren es wöchentlich sieben bis acht Stunden gewesen. Und welchen Erfolg hatten die gehabt? Mit einem leidenschaftlichen Haß gegen diese sogenannte „Religion“ hatte er die Schule verlassen. In dieser Schule hatte die „Religion“ die ganze Naturgeschichte aufgefressen. Ein einziges Mal hatte Herr Cremer von den Giftpflanzen gesprochen und Bilder dazu gezeigt, nicht etwa die Pflanzen selbst, und ein andres Mal hatte ein anderer Lehrer ganz unmotiviert die Feigwurz behandelt. Die Giftpflanzen und ranunculus ficaria – das war die Naturgeschichte, mit der Asmus Semper, ein Kind der darwinischen Zeit, das Präparandeum bezog. Aber da stapfte nun zweimal wöchentlich mit drolligen Koboldschritten der naturselige „Papa Hamann“ herein; er schleppte jedesmal eine Botanisierdose, die so groß war wie er selbst, und sein Gesicht glänzte wie ein Pfannkuchen, wenn er mit anstoßender Zunge sagte: „Heute meine Herren, hab’ ich Ihnen etwath ganth Bethondereth mitgebracht!“

Und dann kramte er aus mit dem Gesicht eines Vaters, der seine Kinder zur Weihnacht überrascht, und Asmus hörte zum erstenmal vom Bau und vom Leben der Pflanze, und wenn man ihn sah, so konnte man glauben, er wolle die Pflanzen im wörtlichsten Sinne verschlingen, so versessen war er auf dies neue Erkennen. Freilich blieb die Wissenschaft des guten Papas einigermaßen an der Oberfläche; er sprach allerlei vom Chlorophyll; aber was es für eine Bedeutung habe, wußte er eigentlich selbst nicht. Für den ausgehungerten Geist des kleinen Semper aber war alles, was er ihm bot, Gewinn, und überdies war die Lehrweise des Alten so väterlich und fröhlich und mit so wundervollen Redeblumen geschmückt!

„Eth mag wohl funfthehn Jahre thein,“ sagte Papa Hamann zum Beispiel, „dath ich dath Vergnügen hatte, den Schwanth eineth Walfischeth von Angethicht zu Angethicht zu thehen!“

Oder wenn er zu den Damen von den Pflanzen einer bestimmten Familie sprach, so sagte er: „Einige von ihnen, meine Damen, thind ganth reitthende Pfläntthchen; andere dagegen thind häthlich und widerlich!“

Und darin hatte er recht, einige von diesen Präparandinnen, die in einer anstoßenden Straße unterrichtet wur­den, waren wirklich ganz reizende Pflänzchen, und Asmus und ein paar Bürschchen mit ihm ließen es sich nicht nehmen, dreien von ihnen, die auf gleichem Wege heimwärts wandelten, an laulichen Abenden in respektvoller Entfernung zu folgen und sich ihnen durch lautgesprochene Galanterien und wundervolle Witze bemerklich zu machen. Bald schon taufte Asmus die drei auf die Namen Aglaia, Euphrosyne und Thalia, und die eine von ihnen – es war Aglaia – verehrte Asmus viele Monde hindurch, ohne jemals ihre Vorderseite gesehen zu haben. Aber sie hatte einen anmutsvollen Gang, und ein schöner Gang griff Asmussen ans Herz.

Auf andern Wegen schwärmten andre Herzen, und nach den drei Grazien zu urteilen, schien den jungen Damen der schüchterne Kultus der Jünglinge durchaus nicht zu mißfallen; sie verfielen wenigstens aus einer zeitweiligen entrüsteten Gangart immer wieder in Kichern, Lachen und träumendes Hinschlendern; aber sei es nun, daß irgendwo ein Jüngling dem Drange seines Busens zu weit nachgegeben hatte, sei es, daß sich unter den verfolgten Unschulden ein strenges oder ein eifersüchtiges Herz befand – eines Tages lief eine Klage beim Seminardirektor ein, und dieser Mann hatte aus seinem heimischen Preußen und aus dem französischen Kriege, in dem er als Reserveoffizier gefochten, einige üble Gewohnheiten mitgebracht. Er hielt eine donnernde Standrede und nannte die ritterlichen Präparanden „grüne Jungen“. Man war sich sofort darüber einig, daß man sich das mit fünfzehn bis sechzehn Jahren nicht mehr bieten lassen könne und daß der einmütige Austritt aller aus der Anstalt die einzig würdige Antwort auf diese Roheit sei.