Mehrsprachigkeiten (E-Book)

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

2 Zwei Formen von Mehrsprachigkeit

Mehrsprachigkeiten erfassen kommunikative, identitätsstiftende Realitäten im gesamten Lebenskontext. Die öffentliche Bildung hat Lernende optimal darauf vorzubereiten.

Wir unterscheiden grob zwei Formen von Mehrsprachigkeiten, die sich nicht scharf voneinander trennen lassen.

Einerseits wird die «Landessprache» in unterschiedlichen beruflichen und Bildungssituationen verwendet. Stichworte dazu sind Fachsprachen, Berufssprachen oder Firmensprachen. Dazu gehören auch die diversen Formen von Alltagssprachen und Sprachregistern, mit denen Menschen Beziehungen, Zugehörigkeit und Distanz ausdrücken. Wie sich diese Mehrsprachigkeit – auch individuell – entwickelt, zeigt sich besonders deutlich in der Altersphase zwischen 16 und 30 Jahren: Nicht nur markieren Berufs- und Gruppensprachen die Entwicklung von (beruflichen) Identitäten, sie befördern sie auch.

Andererseits stehen mehrere Herkunfts-, Landes- oder Unternehmenssprachen wie etwa Albanisch, Deutsch und Englisch sowohl getrennt also auch sich durchdringend in verschiedenen Kontexten nebeneinander und sind dabei nicht gleichwertig oder gleichberechtigt.

Lernkontexte funktionieren vorab sprachlich, und ein Grossteil der Lernenden und Lehrenden lebt in komplexen mehrsprachigen Identitäten. Neben dem Unterricht, der offiziell in der Bildungssprache stattfindet, verwenden sie, in den Korridoren, auf dem Campus oder dem Pausenplatz, verschiedene Soziolekte, Wissenschafts- und Berufssprachen. Bestimmte Sprachen werden je nach Kontext auch versteckt, in der Schweiz etwa Serbisch während des Jugoslawienkriegs.

«Mehrsprachigkeiten» – gezielt im Plural verwendet – meint also die Vielfalt an Sprachen, Sprachverwendungen und Sprachregistern im Kontext der Professionalisierung und die Formen ihres Erwerbs (gesteuerter oder ungesteuerter Spracherwerb).

3 Thesen zu Mehrsprachigkeiten in der Ausbildung auf der Sekundarstufe II und an Hochschulen

Für den Unterricht in Deutsch als Zweitsprache existieren zahllose Hilfestellungen und Ideensammlungen, die meisten davon allerdings nur für die Volksschule. Auch sind ausgreifende didaktische Anregungen zur «Förderung der Schulsprache in allen Fächern» (Neugebauer/Nodari 2016) selten. Was fehlt, wird oftmals an den Sprachunterricht/allgemeinbildenden Unterricht delegiert. An Hochschulen gibt es für das «Fehlende» spezifische Dienstleistungen (Kurse), manchmal auch Dienstleistungsstellen (Sprachzentren, Schreibzentren u. a.).

Der vorliegende Band versucht, in diese Lücke zu springen, mit dem Risiko, den Erwartungen nicht gerecht zu werden. Wir beleuchten den Umgang mit Sprache auf der Sekundarstufe II und Hochschulstufe, berücksichtigen dabei Dimensionen von Mehrsprachigkeiten und geben Hinweise für die Unterrichtspraxis. Es gibt vier gute Gründe, dieses unmögliche Unterfangen zu wagen:

Mehrsprachigkeiten an sich sind kein Grund für Schulerfolg oder -misserfolg. Der sogenannte Migrationshintergrund ist keine aussagekräftige Kategorie, haben doch gewisse migrierte Einwohner*innen der Schweiz sogar einen durchschnittlich besseren Schulerfolg als die einheimische Bevölkerung. Erst in Kombination mit der sozialen Schicht können Mehrsprachigkeiten Misserfolg in der Schule erklären (Khan 2018, S. 386–399). Daher sind Lehrende, auch wenn kein sprachliches Fach im Vordergrund steht, angehalten, mit der Dimension der Mehrsprachigkeiten bewusst und gezielt umzugehen.

Mehrsprachigkeiten sind die Norm und nicht eine Störung des Unterrichts. Diese Haltung von Lehrpersonen ist produktiv für den Unterricht (Khan 2018, S. 406–429). Mehrsprachigkeiten zu akzeptieren, zu berücksichtigen, sie als Chance wahrzunehmen und auch didaktisch zu verwenden, dazu bedarf es viel Übung. Hier können persönliche Überzeugungen und subjektive Theorien das Unterrichtsgeschehen behindern. Etwa: Wenn die Volksschule das nicht geschafft hat, dann die Berufsbildung erst recht nicht. Zentral ist die Überzeugung der Lehrenden – wie immer beim Unterrichten –, dass Menschen lernen wollen und aus verschiedenen Kontexten und Perspektiven heraus unterschiedlich lernen. Zu dieser Haltung gehört auch ein offener Blick auf die vorhandenen sprachlichen und kulturellen Ressourcen. Wir plädieren dafür, dass diese Haltung professionell unterfüttert wird mit didaktischem Know-how zu Scaffolding, Arbeit mit Textsorten, effektivem Sprachenlernen sowie Kenntnissen über Besonderheiten der deutschen Sprache allgemein und der Bildungssprache (vgl. Schader 2012). Auf diese Weise nähern sich Lehrende dem Ziel, Sprachförderung in jedem Fach, jeder Lehrveranstaltung und jedem Seminar zu betreiben.

Der Spracherwerb, das Sprachlernen ist weder auf der Sekundarstufe II noch auf der Hochschulstufe abgeschlossen. Ab Sekundarstufe II beginnt die Sprachentwicklung hin auf elaboriertes Leseverstehen, materialgestütztes Schreiben sowie angemessene mündliche und schriftliche Sprache in bestimmten Berufen und Disziplinen. Gerade in Naturwissenschaften ist die Studiensprache ganz oder teilweise Englisch. Auch diese Form des Englischen muss eingeübt werden, sind doch die Gepflogenheiten wissenschaftlichen Schreibens auf Englisch andere als auf Deutsch (vgl. Sieber 1994 sowie Jörissen/Verhein in diesem Band).

Berufslernende und Studierende sind nicht grenzenlos fähig, mit eigenen Mehrsprachigkeiten umzugehen. Es ist Aufgabe der Lehrenden und der Bildungsinstitutionen, sie dabei aktiv zu unterstützen. Entwicklungspsychologisch gesehen, verhindern Pubertät und Adoleszenz als Phasen der Identitätsbildung aufgrund der oben dargestellten sozialen Bedingungen tendenziell, dass junge Menschen souverän mit ihrer mehrsprachigen Identität umgehen. In der Adoleszenz – und auch später – vermeiden es Menschen besonders in formellen Settings, auf persönliche Hintergründe hinzuweisen, die nicht der Norm entsprechen. Sie gehen bewusst oder unbewusst davon aus, dass offener Umgang mit Mehrsprachigkeiten dem Selbstwert, ihrem Ansehen und der Karriere schaden kann (Honegger/Sieber 2013). Wenn sie lernen, dass Mehrsprachigkeiten in einem formellen Umfeld (Beruf, Schule) negativ konnotiert werden, verstecken sie sie. Dies gilt besonders für sozial markierte Sprachen wie jamaikanisches Patois oder für «uninteressante» Sprachen wie Tigrinya – wobei in beiden Fällen (heute noch) die Hautfarbe dem Aufgehen im Mainstream einen Riegel vorschiebt. Bilaterale Bildungssettings (vgl. Thomann/Honegger/Suter 2016) würden einen bewussten Umgang mit der Situation des «anders und gleichzeitig nicht anders sein Wollens» ermöglichen und auch generell Vielfalten in der Bildung berücksichtigen können.

4 Aufbau des Bandes
Teil A, Mehrsprachige Praxis und Übergänge

Teil A bietet differenzierte Blicke auf die Sprachenvielfalten in der schulischen Praxis und an den Stufenübergängen, welche die hohe Komplexität, die hier berücksichtigt werden muss, offenbaren:

Afra Sturm zeigt das Konzept der Enkulturation auf, in das sie die Arbeit mit Feedback integriert, die für Lernen immer zentral ist. Insbesondere stellt sie dar, wie inhaltliche und prozessuale Aspekte des Modellierens den Spracherwerb aller Lernenden gleichermassen unterstützen.

Inwiefern erfassen Übertrittsprüfungen in die Sekundarstufe II tatsächlich diejenigen Kompetenzen, die bei mehrsprachigen Jugendlichen für Bildungs- und Berufserfolg relevant sind? Dies diskutieren Mathias Müller und Anja Winkler. Als Basis dienen ihnen ihre schweizweiten Untersuchungen zu Übertrittsprüfungen in die gymnasiale Sekundarstufe II.

Kirsten Schindlers Beitrag verdeutlicht die sprachlichen Realitäten, die Lehramtsstudierende zu bewältigen haben. Sie verwendet dazu das Modell der Mehrstimmigkeiten, das unterschiedliche Sprachverwendung in diversen Rollen (Studierende, Praktika als Lehrperson) im Studium erfasst und reflektiert.

Sandra Buchmann und Nadine Vetterli beleuchten in ihren praxisorientierten Essays mögliche Realitäten im Unterricht mit mehrsprachigen Lernenden an Berufsfachschulen. Sie zeigen auf, wie Berufslernende je nach Lebenskontext sprachlos werden, nicht am (Unterrichts-)Geschehen teilnehmen und nicht lernen können. Weiter weisen sie auf Ansätze hin, mit denen diese «kontextuelle» Sprachlosigkeit aufgelöst werden kann.

Teil B, Sprachlernen aus der Perspektive der Lehrenden

Dieser Teil bietet Werkzeuge für didaktisches Handeln, das beim Sprachenlernen unterstützt. Die Frage, wie und ob mehrere Sprachen in Individuen eine gegenseitige positive oder negative Transferwirkung erzeugen, lässt sich noch nicht beantworten: Der Forschungsstand zeigt zwar Korrelationen auf, jedoch lassen sich die konkreten Wirkungen einzelner didaktischer Massnahmen bis anhin evidenzbasiert nicht nachweisen (Lambelet u. a. 2020; Berthele/Lambelet 2018).

Saskia Sterel und Manfred Pfiffner erläutern das Lese-Diagnose-Tool «Judit» für mehrsprachige Lernende der Sekundarstufe II. Sie informieren über die didaktische Basis und den Aufbau von «Judit» und formulieren Implikationen für dessen didaktische Langzeitwirkung.

Das Scaffolding und inwiefern es beim Lernen auf Sekundarstufe II sowie auch mit Studierenden eingesetzt werden kann, präsentiert Alex Rickert. Er hat dafür den aktuellen Stand des Wissens anhand eines konkreten Beispiels von wissenschaftlichem Schreiben aufgearbeitet.

 

Einen Prozess, der auch mehrsprachige Studierende bei ihren Abschlussarbeiten im Studium fördert, stellen Stefan Jörissen und Eva Buff Keller dar. Sie zeigen, wie diese komplexe Situation, in der Lernen, Beraten und Beurteilen zu kombinieren sind, produktiv gestaltet werden kann.

Teil C, didaktische Anlagen innerhalb von Curricula

Beatrice Müller fokussiert die Chancengerechtigkeit im Studium und stellt ein Tutoring-/Mentoring-Programm vor, in dem durch Einzelberatungen mehrsprachige Studierende und Lernende begleitet werden.

Stefan Jörissen und Annette Verhein Jarren beleuchten, wie Studierende beim Schreiben im Studium fördernd begleitet werden können und dass dies ohne gezielte curriculare Einbindung nur in Ansätzen möglich ist.

Nachwort

Abschliessend werden offene Fragen zu Forschung und Didaktik dargelegt, die der vorliegende Band lediglich knapp angedacht hat oder weglässt. Ein Blick in eine Zukunft, die wohl schon Gegenwart ist.

Gerahmt werden alle drei Teile durch Interviews. Sie sind anonymisiert und redigiert und lassen daran teilhaben, wie neun Personen unterschiedlichen Alters und diverser Berufe ihre Mehrsprachigkeiten erleben.

Literatur

Abraham, Ulf (2014). Geschichte des schulischen Schreibens. In: Feilke, Helmuth; Pohl, Thorsten (Hrsg.). Schriftlicher Sprachgebrauch – Texte verfassen (S. 3–30). Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren (Deutschunterricht in Theorie und Praxis Bd. 4).

Avramovska, Nataša u. a. (2020). Deine Sprache – meine Sprache. Handbuch zu 19 Migrationssprachen und zu Deutsch. Für Lehrpersonen an mehrsprachigen Klassen und für den DaZ-Unterricht (erweiterte und aktualisierte Neuausgabe). Zürich: Lehrmittelverlag Zürich.

Bachmann, Thomas; Feilke, Helmuth (Hrsg., 2014). Werkzeuge des Schreibens – Beiträge zu einer Didaktik der Textprozeduren. Stuttgart: Fillibach bei Klett.

Barkowski, Hans; Harnisch, Ulrike; Kumm, Sigrid (1980). Handbuch für den Deutschunterricht mit ausländischen Arbeitern. Königsstein/Taunus: Scriptor.

Beck, Bärbel; Klieme, Eckhardt (Hrsg., 2007). Sprachliche Kompetenzen: Konzepte und Messung. DESI-Studie (Deutsch Englisch Schülerleistungen International). Weinheim: Juventa.

Berthele, Raphael; Lambelet, Amelia (2018). Heritage and school language literacy development in migrant children: interdependence or independence? Berlin: de Gruyter (Second language acquisition).

Bräuer, Gerd; Schindler, Kirsten (Hrsg., 2011). Schreibarrangements für Schule, Hochschule, Beruf. Freiburg im Breisgau: Fillibach.

Busch, Brigitta (2017). Mehrsprachigkeit (2. Auflage). Wien: Facultas.

Coray, Renata; Duchêne, Alexandre (2017a). Sprache in der Berufsbildung. In: Dies. Mehrsprachigkeit und Arbeitswelt, Literaturübersicht. Bericht des Wissenschaftlichen Kompetenzzentrums für Mehrsprachigkeit (S. 37–39). Freiburg/Schweiz: Universität, Institut für Mehrsprachigkeit.

Coray, Renata; Duchêne, Alexandre (2017b). Sprachökonomische Studien. In: Dies. Mehrsprachigkeit und Arbeitswelt, Literaturübersicht. Bericht des Wissenschaftlichen Kompetenzzentrums für Mehrsprachigkeit (S. 49–51). Freiburg/Schweiz: Universität, Institut für Mehrsprachigkeit.

Cummins, Jim; (1979) Cognitive/Academic Language Proficiency, Linguistic Interdependence, the Optimum Age Question and Some Other Matters. Working Papers on Bilingualism, No. 19, Toronto: Ontario Institute for Studies in Education. Bilingual Education Projekt.

Dreyfürst, Stephanie; Sennewald, Nadja (Hrsg., 2014). Schreiben. Grundlagentexte zur Theorie, Didaktik und Beratung. Opladen: Barbara Budrich (UTB).

Gogolin, Ingrid; Lange, Imke (2010). Durchgängige Sprachbildung: Eine Handreichung. Münster: Waxmann (FörMig-Material 2).

Grin, François (2013). Les besoins des entreprises en compétences linguistiques. Babylonia, (2): Sprachenlernen in der Berufsbildung, 17–21.

Hattie, John (2009). Visible Learning. A Synthesis of Over 800 Meta-Analyses Relating to Achievement. London: Routledge.

Honegger, Monique; Sieber, Peter (2013). Schreibkompetenz von mehrsprachigen Lehramtsstudierenden. Die Schulsprache als Knackpunkt. In: Knorr, Dagmar; Verhein, Annette (Hrsg.). Schreiben unter Bedingungen von Mehrsprachigkeit (S. 39–55). Frankfurt am Main: Peter Lang.

Humboldt, Wilhelm von (1836). Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues. 2. Von der Natur der Sprache und ihrer Beziehung auf den Menschen im Allgemeinen. www.zeno.org/Philosophie/M/Humboldt,+Wilhelm+von/Ueber+die+Verschiedenheiten+des+menschlichen+Sprachbaues/2.+Von+der+Natur+der+Sprache+und+ihrer+Beziehung+auf+den+Menschen+im+Allgemeinen [11.5.2020].

Khan, Jeannine (2018). Mehrsprachigkeit, Sprachkompetenz und Schulerfolg. Kontexteinflüsse auf die schulsprachliche Entwicklung Ein- und Mehrsprachiger. Wiesbaden: Springer VS.

Klug, Katrin (2014). Die Umsetzung und Entwicklung australischer Sprachenpolitik. München: Grin.

Lambelet, Amelia u. a. (2020). Langue d’origine et langue de scolarisation: dans quelle mesure les compétences en littéracie sont-elles transférables? Rapport du Centre scientifique de compétence sur le plurilinguisme. Fribourg: Université, Institut de plurilinguisme.

Langer, Inghard; Schulz von Thun, Friedemann; Tausch, Reinhard (2011). Sich verständlich ausdrücken. München: Reinhardt.

Movetia (2019). Jahresbericht 2018. www.movetia.ch/fileadmin/user_upload/1_News/Archiv_2019/Mai_2019/Movetia_Jahresbericht_2018.pdf [11.5.2020].

Neugebauer, Claudia; Nodari, Claudio (2016). Förderung der Schulsprache in allen Fächern. Praxisvorschläge für Schulen in einem mehrsprachigen Umfeld. Kindergarten bis Sekundarstufe 1 (4. Auflage). Bern: Schulverlag plus.

Neuland, Eva; Peschel, Corinna (2013). Einführung in die Sprachdidaktik. Stuttgart: Metzler.

Philipp, Maik (2018). Lesekompetenz bei multiplen Texten. Grundlagen, Prozesse, Didaktik. Tübingen: Francke (UTB).

Schader, Basil (2012). Sprachenvielfalt als Chance. Das Handbuch. Hintergründe und 101 praktische Vorschläge für den Unterricht in mehrsprachigen Klassen (2., erweiterte Auflage). Zürich: Orell Füssli.

Sieber, Peter (Hrsg., 1994). Sprachfähigkeiten – Besser als ihr Ruf und nötiger denn je! Ergebnisse und Folgerungen aus einem Forschungsprojekt. Aarau: Sauerländer.

Sieber, Peter; Sitta, Horst (1994). Sprachwandel – Sprachfähigkeiten. In: Sieber, Peter (Hrsg.). Sprachfähigkeiten – Besser als ihr Ruf und nötiger denn je! Ergebnisse und Folgerungen aus einem Forschungsprojekt (S. 13–50). Aarau: Sauerländer.

Thomann, Geri; Honegger, Monique; Suter, Peter (2016). Zwischen Dozieren und Beraten. Praxis, Reflexion und Anregungen für die Hochschullehre (2., überarbeitete Auflage). Bern: hep (Forum Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung, Bd. 2).

Volksschulamt Kanton Zürich (VSA) (O.J.). Fremdsprachige Privatschulen. vsa.zh.ch/internet/bildungsdirektion/vsa/de/schulstufen_schulen/aufsicht_privatschulen/privatschulen_bewilligungsverfahren.html [11.5.2020].

Teil A

Afra Sturm
Schreiben im Übergang als literale Enkulturation
1 (Schreib-)Gemeinschaften als Ausgangspunkt

Am Ende der Sekundarstufe I sollten alle Schüler*innen verschiedene Textmuster wie Erzählung, Argumentation, Zeitungsbericht oder Lernjournal kennen und entsprechend ihrem Schreibziel für die eigene Textproduktion nutzen können (Bildungsdirektion Kanton Zürich 2017, S. 33). Dazu gehört auch, dass sie über ein Repertoire an Schreibstrategien verfügen und Formulierungsmuster kennen, die typisch für die jeweilige Textsorte sind (a.a.O.). Dabei ist es ein wichtiges Ziel des Schreibunterrichts, dass die Schüler*innen Schreiben als «sinnhaftes» Tun erfahren: Eine gelingende Schreibentwicklung setzt voraus, dass man sich als Mitglied einer «Schreibgemeinschaft» erfahren kann, in der Texte nicht nur geschrieben werden, sondern in der auch auf die Texte reagiert wird.

Während zur Etablierung einer Schreibgemeinschaft auf Sekundarstufe I die eigene Klasse oder auch das schulische Umfeld eine wichtige Rolle spielt, ist in den weiterführenden Schulen die berufliche bzw. akademische Gemeinschaft entscheidend (Kapitel 2). Gleichzeitig gewinnt das schreibende Lernen – oftmals in Form von Lernjournalen – an Bedeutung (Kapitel 3).

2 Berufliches Schreiben als literale Teilhabe

Textmuster wie etwa Protokolle, Berichte oder Briefe (auch in Form von E-Mails) können in nahezu jeder Gemeinschaft eine Rolle spielen. Da aber eine Gemeinschaft aus unterschiedlichen Mitgliedern besteht und verschiedene Funktionen oder Zielsetzungen hat, ergeben sich für die literale Teilhabe auch entsprechend unterschiedliche Formen und Anforderungen. So dient ein Regierapport im Bauwesen unter anderem dazu, die erbrachten und «protokollierten» Leistungen dem Auftraggeber verrechnen zu können, während die Patientenakte in der Krankenpflege beispielsweise beim Dienstwechsel dazu dient, die Kolleg*innen auf den neuesten Informationsstand zu bringen. Eine Schreibgemeinschaft zeichnet sich also durch bestimmte Merkmale aus (Graham 2018), vor allem durch folgende:

Die Mitglieder nehmen in den jeweiligen Gemeinschaften unterschiedliche Rollen ein. Ist man Mitglied mehrerer Gemeinschaften, muss man auch verschiedene Rollen wahrnehmen können.

Jede Gemeinschaft erfüllt eigene Zwecke oder Funktionen. Damit verbunden kann eine Gemeinschaft eigene Textmuster oder Normen (oft auch in Form von Vorlagen) herausbilden.

Es können sich spezifische Tools (Handschrift, abrufbare Textbausteine im Textverarbeitungsprogramm usw.) etablieren.

Eine Schreibgemeinschaft kann eine kollektive Geschichte entwickeln. Dies kann beispielsweise meinen, dass eine Chefin begonnen hat, ihren Mitarbeitenden zum Geburtstag eine Postkarte zu schreiben, dass ihre Mitarbeitenden das wissen und eine entsprechende Erwartungshaltung aufbauen.

Wie berufliche Schreibfähigkeiten erworben werden, ist entsprechend wesentlich eine Frage der Enkulturation im jeweiligen beruflichen Feld (Jakobs 2005). Daraus lassen sich zwei zentrale Implikationen ableiten:

a) Schulisches Schreiben kann zwar die Voraussetzungen für den Erwerb des beruflichen und akademischen Schreibens schaffen, es kann jedoch nicht berufliches bzw. akademisches Schreiben vermitteln, da die Merkmale einer beruflichen oder akademischen Gemeinschaft anders ausgeprägt sind als die einer schulischen Schreibgemeinschaft. Wer beispielsweise selbst nicht als Ärztin oder Maurer mit Kundenkontakt arbeitet, wird die entsprechenden literalen Praktiken auch nicht erwerben und damit keinen beruflich angemessenen Rapport verfassen können.

b) Die Vermittlung und Förderung beruflicher Schreibfähigkeiten kann nicht nur eine Aufgabe der weiterführenden Schulen sein, sondern ist auch eine wichtige Aufgabe der jeweiligen (Lehr-)Betriebe beziehungsweise der akademischen Institutionen (zu Letzteren sind auch die Hochschulen selbst zu zählen), da sich die Textproduktion, die «Dokumentenentstehung» und die Unternehmenskultur gegenseitig beeinflussen (Jakobs 2005, S. 30).

 

Wissen die Schüler*innen, welche Funktion etwa Protokolle grundsätzlich haben, haben sie im Verlauf ihrer schulischen Bildung zudem bereits verschiedene Formen kennengelernt – zum Beispiel ein Versuchsprotokoll aus dem naturwissenschaftlichen Unterricht oder ein Klassenratsprotokoll aus dem Deutschunterricht – und dabei auch erfahren, dass Form und Funktion zusammenhängen, dann sind sie zwar eher in der Lage, andere Formen zu verstehen und selbst Texte in dieser Form zu verfassen. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie sich einen Regierapport oder eine Patientenakte selbstständig erschliessen können. Hinzu kommt, dass mehrsprachige Lerner*innen, die einen Teil ihrer schulischen Bildung nicht in der Schweiz erworben haben, möglicherweise andere Textformen kennengelernt haben. Auch diese Lerner*innen müssen nicht nur wissen, wie bestimmte Textformen aufgebaut sind, sondern auch, wie Form und Funktion zusammenhängen, mit welchen sprachlichen Mitteln sie angemessen umzusetzen sind.

Insgesamt sind damit bestimmte Anforderungen an den Schreibunterricht an weiterführenden Schulen verbunden: Es braucht in erster Linie Lehr- und Lernarrangements, die berufliche beziehungsweise berufsnahe, aber prototypische Situierungen zum Ausgangspunkt nehmen. Solche Situierungen können die spezifischen Merkmale ihrer beruflichen Schreibgemeinschaft modellieren. Das hat auch den Vorteil, dass die Lernenden Schreiben nicht als etwas Isoliertes wahrnehmen oder als Selbstzweck erleben, sondern dessen berufliche Relevanz erfahren können (Schneider u. a. 2013, Kapitel 5).

Eine Verzahnung von berufsfachlichem und sprachlichem Lernen ist nicht nur ein didaktisches Gebot, vielmehr geht es ebenso mit weiteren Herausforderungen einher: Zum einen können diese organisatorisch gemeistert werden, indem Sprach- und Fachlehrpersonen gemeinsam unterrichten, zum anderen wäre auch denkbar, dass die Fachlehrpersonen und Ausbilder*innen in der Aus- und Weiterbildung so vorbereitet werden, dass berufliches Schreiben (und Lesen) Teil ihres Unterrichts, ihrer Förderkonzepte werden.

Im Folgenden wird dies mit Blick auf das Schreiben mit Deutsch als Zweit- oder Fremdsprache – hinsichtlich wirksamer Fördermassnahmen und darauf aufbauend auch bezogen auf formatives Feedback – kurz ausgeführt.