Selbstoptimierung und Enhancement

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2) Willensfreiheit

FreiheitFreiheit im vollen Wortsinn erfordert neben dem negativen Moment der Handlungsfreiheit noch den positiven Aspekt der Willensfreiheit: Negative Freiheit als Freisein von Handlungsschranken stellt lediglich die äußere Bedingung für die Möglichkeit von Freiheit dar, bedeutet aber noch nicht die Wirklichkeit oder den Gebrauch von Freiheit (vgl. Wildfeuer, 359). Denn dafür muss noch die innere Voraussetzung des Wollens und Ergreifens bestimmter Handlungsoptionen durch die handelnde Person gegeben sein. WillensfreiheitFreiheitWillens-, Autonomie (positive) meint die mentale bzw. geistige Fähigkeit, durch bewusste Überlegungen zwischen verschiedenen Handlungsoptionen mit Blick auf persönliche Ideale oder Wertvorstellungen eine Wahl zu treffen und die Verwirklichung der Handlungsziele einzuleiten (vgl. Fenner 2010, 56f.). Gemäß dem entscheidenden Kriterium der Urheberschaftsbedingung darf die Person nicht bloßer Spielball des Weltgeschehens sein, sondern muss selbst der Ursprung ihres Wollens und Handelns bilden (vgl. Wildfeuer, 360/BieriBieri, Peter, 20). Von Willensfreiheit kann also nur dann gesprochen werden, wenn sich jemand nicht einfach von inneren Faktoren wie Instinkten, Bedürfnissen und charakterlichen Neigungen oder äußeren sozialen Einflüssen leiten lässt, sondern von vernünftigen Gründen. Wie die Wahl letztlich ausfällt und welche Motive oder Wünsche am Ende handlungsleitend werden, muss entscheidend von der Person selbst und ihren Überlegungen abhängen. Während Handlungsfreiheit ein Anders-Handeln-Können meint, ist für Willensfreiheit wichtig, dass sich eine Person auch anders hätte entscheiden können. Ethische Reflexionen oder Theorien sind überhaupt nur sinnvoll, wenn eine solche Willensfreiheit der handelnden Personen vorliegt und sie entsprechend für ihr Handeln verantwortlich gemacht werden können. Während kein Mensch ein Recht auf maximale Handlungsfreiheit, sondern nur auf ein bestimmtes Minimum davon hat, wird jedem Menschen ein unverletzliches Recht auf Willensfreiheit und auf die damit verbundene Würde zugesprochen (vgl. Fenner 2008, 186ff.). Obgleich die Existenz der Willensfreiheit empirisch weder bewiesen noch widerlegt werden kann, muss sie in der Ethik vorausgesetzt werden. Auch in der Selbstoptimierungs-Debatte wird zwar heftig über Willensfreiheit oder -unfreiheit der Selbstoptimierer gestritten, ohne dabei aber die grundsätzliche Möglichkeit von Willensfreiheit in Frage zu stellen. Im Folgenden geht es daher nicht um empirisch-psychologische Fragen wie diejenige, wie der Wille als mentales Vermögen des Überlegens und Entscheidens eine Kausalkette in der raumzeitlichen Wirklichkeit in Gang setzen kann. Vielmehr geht es um die philosophisch-begriffliche Frage, wann genau einer Person Willensfreiheit zugesprochen werden kann.

Aufschlussreich für das Verständnis des Phänomens menschlicher Willensfreiheit ist die Unterscheidung zwischen einem „Wünschen“ und einem „Wollen“ bzw. zwischen „Wünschen“ und „Zielen“: Das Wollen setzt ein Können voraus und ist mehr als ein bloßes Sich-Wünschen. Typisch für den Willen ist es, dass er im Gegensatz zum bloßen Wünschen etwas in der Realität in Bewegung setzt und das Handeln lenkt. Der Wille einer Person kann sich daher immer nur auf die tatsächlich offenstehenden Handlungsmöglichkeiten beziehen, sodass die Möglichkeiten des Wollenkönnens durch die oben genannten Beschränkungen der Handlungsfreiheit limitiert sind: durch die natürliche und soziale Wirklichkeit, die wir immer schon vorfinden und nicht kurzfristig und grundlegend umgestalten können, und durch interne bzw. innere Anlagen und Fähigkeiten, über die man bereits verfügt und die man lediglich in bestimmten Grenzen optimieren kann (vgl. BieriBieri, Peter, 38f.; 50f.). Wünschen hingegen kann man sich buchstäblich alles, z.B. die Welt zu verändern oder als Opernsängerin in der Mailänder Scala aufzutreten. WünscheWünsche sind grundsätzlich idealitätsorientierte Vorstellungen eines befriedigenden Zustandes, FreiheitFreiheitWillens-, Autonomie (positive)die uns entweder das Gefühl der Fremdkontrolle oder des Getriebenseins vermitteln oder als realitätsfremde Phantasieprodukte sogar das Handeln lähmen (vgl. Fenner 2007, 60). Ganz anders verhält es sich mit realitätsorientierten ZielenZiele, die Gegenstand eines aktiven Wollens sind und mit der Erfahrung von Selbstkontrolle einhergehen. In der Motivationspsychologie wurde für den entscheidenden Übergang vom Wunsch zum Ziel bzw. vom Wünschen zum Wollen das „Rubikonmodell“ entwickelt und nach dem Fluss Rubikon benannt, den Cäsar 49 v.Chr. nach langem Abwägen überschritt und damit den Bürgerkrieg eröffnete (vgl. ebd./Rheinberg, 168f.): Entscheidend für das Überqueren des Rubikon ist der Prozess des Überlegens und Prüfens, ob sich die oft ganz spontan auftauchenden Wünsche unter den gegebenen Bedingungen überhaupt realisieren lassen und ob ihre Erfüllung keine negativen Konsequenzen mit sich bringen würde. Zudem muss sich die Person mit den Mitteln der Umsetzung eines Wunsches beschäftigen und geeignete Methoden und Schritte der Durchführung auswählen. Solange jemand nur den Wunsch hat, eine Chopinsonate zu spielen, braucht es keinen planenden Verstand. Wer sie aber wirklich spielen will, muss sich beispielsweise überlegen, wie er die Noten beschaffen kann und wann er Zeit zum Üben hat (vgl. BieriBieri, Peter, 37). Nur dann bleibt es nicht beim bloßen Gedankenspiel, sondern es entwickelt sich im Planungsprozess die Bereitschaft, die Schritte auch tatsächlich durchzuführen. Der Wunsch kann dann „handlungswirksam“ und damit ein „Wille“ werden, wie es in Harry Frankfurts Modell heißt (vgl. unten).

Erkenntnisbedingungen: hinlängliches Wissen und kognitive Fähigkeiten

FreiheitFreiheitWillens-, Autonomie (positive)Damit sich ein freier Wille bilden kann, müssen etwas konkreter folgende Erkenntnisbedingungen erfüllt sein: Zunächst braucht es ein hinlängliches Wissen sowohl über die vorgefundene Wirklichkeit als auch die eigenen Möglichkeiten und Grenzen. Jemand muss einigermaßen realistisch einschätzen können, welche Handlungsoptionen ihm zu einem bestimmten Zeitpunkt tatsächlich offenstehen. Da in verschiedenen Handlungssituationen jeweils ganz unterschiedliche Kenntnisse vonnöten sind, kann die Willensfreiheit einer Person situativ in größerem oder kleinerem Grad vorhanden sein: Jemand kann in hinreichendem Maß willensfrei sein bei alltäglichen Verrichtungen wie Einkaufen, aber unfrei bei komplexeren Betätigungsformen wie Bankgeschäften. Wenn die kognitiven Fähigkeiten des Wahrnehmens und Erkennens z.B. infolge einer psychischen Erkrankung eingeschränkt sind, kommt es zu einer inadäquaten Situationswahrnehmung wie etwa beim „Tunnel-Blick“ von Depressiven oder einer krankhaft veränderten Körperwahrnehmung bei Kandidatinnen für Schönheitsoperationen (Kap. 3.1). Willensfreiheit erfordert daher zusätzlich die kognitiven Fähigkeiten des kritischen Prüfens und Hinterfragens: Kritisch überprüft werden sollen die eigenen Wünsche und Hintergrundannahmen, auf denen sie basieren. Auszusondern sind zum einen „neurotische WünscheWünscheneurotische“, die einer krankhaften psychischen Verfassung wie der erwähnten Körperbild-Störung oder einem Minderwertigkeitskomplex entspringen (vgl. Fenner 2007, 68f.). Denn die Befriedigung solcher Wünsche etwa nach Schönheitsoperationen oder der Eroberung von Frauen zum Beweis der eigenen Unwiderstehlichkeit bringt nicht die erhoffte Erfahrung von Erfüllung. Zum andern dürfen „uninformierteWünscheinformierte/uninformierte“ oder „unaufgeklärteWünscheaufgeklärte/unaufgeklärte Wünsche“ nicht zu Handlungszielen mutieren, weil ihnen Fehleinschätzungen der Handlungssituation oder der eigenen Fähigkeiten zugrunde liegen (vgl. ebd., 62f.). Dazu zählt etwa der oben erwähnte Wunsch nach einem Auftritt in der Scala bei mittelmäßigem musikalischem Talent. Eine sorgfältige Prüfung der eigenen Wünsche setzt eine reflexive, distanzierte Grundhaltung zu den eigenen Einstellungen und einen inneren, kritischen Abstand zu sich selbst voraus (vgl. BieriBieri, Peter, 71f./LeefmannLeefmann, Jon, 287f.). Ruiniert wird eine solche Haltung durch heftige Affekte oder Triebe: Höchst unfrei ist jemand in einer sogenannten Affekthandlung, bei der ein kurzzeitiger intensiver Erregungszustand etwa aufgrund einer überfordernden Stresssituation oder einer akuten Existenzangst die Einsichts- und Kritikfähigkeit ausschaltet oder stark herabsetzt. Genauso unfrei sind triebhafte Menschen, die sich einfach von ihren unhinterfragten spontanen Wünschen treiben lassen (vgl. FrankfurtFrankfurt, Harry, 72f.).

Wertungsbedingung: Ausbildung von Wünschen zweiter Ordnung

FreiheitFreiheitWillens-, Autonomie (positive)Neben dieser Erkenntnisbedingung muss noch die Wertungsbedingung erfüllt sein: Die eigenen Dispositionen, Wünsche und Einstellungen sollen nicht nur erkannt, sondern auch mithilfe eigener Überlegungen bewertet werden (vgl. LeefmannLeefmann, Jon, 287). Willensfreiheit setzt nicht allein die Erkenntnis der faktisch vorhandenen Wünsche erster OrdnungWünscheerster/zweiter Ordnung voraus, die unmittelbar auf einen ersehnten Zustand oder ein erstrebtes Objekt gerichtet sind. Vielmehr braucht es gemäß Frankfurts vieldiskutierter Theorie der Willensfreiheit noch Wünsche zweiter Ordnung, die sich wertend auf solche Wünsche erster Ordnung beziehen (vgl. FrankfurtFrankfurt, Harry, 71): Wünsche zweiter Ordnung sind die auf einer höheren Reflexionsebene befindlichen Wünsche, bestimmte Wünsche erster Ordnung zu haben oder nicht zu haben. Wünscht sich jemand auf dieser höheren Ebene, dass ein bestimmter bereits vorhandener Wunsch ein Wille werde, nennt FrankfurtFrankfurt, Harry die entsprechenden Wünsche zweiter Ordnung Volitionen. Eine Person wäre genau dann willensfrei, wenn diejenigen Wünsche erster Ordnung handlungswirksam werden, die ihren Volitionen zweiter Ordnung entsprechen. Wichtig ist der Akt der Identifikation, d.h. die positive Bewertung und Bejahung der eigenen handlungswirksamen Wünsche und damit des eigenen Willens, weil dieser erst dadurch eine besondere „Zugehörigkeit“ zur Person erhält (vgl. BieriBieri, Peter, 382/FrankfurtFrankfurt, Harry, 93/KipkeKipke, Roland 2011, 106). Wünsche zweiter Ordnung können zentrale Wertvorstellungen, weiterreichende berufliche oder familiäre Lebensziele oder abstrakte Ideale wie Tapferkeit oder Coolness sein. Sie legen fest, was einer Person in ihrem Leben wichtig ist und wer sie sein möchte, und müssen sich mit vernünftigen Gründen rechtfertigen lassen. Während bei FrankfurtFrankfurt, Harry die Frage nach einem Bewertungsmaßstab für die Wünsche zweiter Ordnung offen bleibt und womöglich in einem unendlichen Regress auf immer noch höhere Stufen verschoben wird, hat man sein Modell später durch das Kriterium der „Kohärenz“ erweitert (vgl. KipkeKipke, Roland 2009, 377): Volitionen müssen kohärent sein, d.h. in den Gesamtzusammenhang einer Persönlichkeit mit stabilem Wertesystem und umfassendem Lebensplan integriert sein. Da die zentralen Lebensziele und Ideale das „Selbstkonzept“ oder „normative Selbst“ einer Person konstituieren, muss der freie Wille mit dem normativen Selbst übereinstimmen (Kap. 1.1). Willensfreiheit ist daher gleichbedeutend mit Selbstbestimmung oder „Selbstübereinstimmung“ sowie AutonomieFreiheitWillens-, Autonomie (positive) oder „Selbstgesetzgebung“, weil sich die Person mit ihrem Selbstkonzept und ihren Lebenszielen ihr „eigenes Gesetz“ gibt und diesem in ihrem Wollen und Handeln Ausdruck verleiht. Nur wenn sie im Einklang mit ihrem normativen Selbstbild handelt, tut sie das, was sie wirklich tun will.

 

Negative Randbedingung: Fehlen von Heteronomie

FreiheitOb Willensfreiheit vorliegt oder nicht, scheint nun wesentlich von der Art der Genese der Wünsche zweiter Ordnung abzuhängen: a) Intern betrachtet bedroht ein psychologischer Determinismus den freien Willen, b) extern gesehen eine Heteronomie im Sinne sozialer Fremdbestimmung. Ad a: Gemäß dem etwa von Gerhard Roth und Wolf Singer vertretenen psychologischen DeterminismusDeterminismus werden der Wille und das Handeln einer Person determiniert durch ihre eigenen Wünsche, Charakterzüge und Gewohnheiten, die ihrerseits durch Faktoren wie genetische Anlagen, frühkindliche Prägung und biographische Entwicklung bedingt sind (vgl. dazu Wildfeuer, 364f./KipkeKipke, Roland 2011, 100f.). Ihrer Ansicht nach ist Willensfreiheit zwar mit einem solchen „weichen Determinismus“ vereinbar, weil kein äußerlicher Zwang, sondern nur eine Determination durch eigene Wünsche oder Motive stattfindet. Im strengen Sinn liegt positive Freiheit im Wollen aber wie gezeigt nur vor, wo reflexive Distanz zu den eigenen Wünschen, Motiven und Überzeugungen gewahrt ist und die Entscheidung für bestimmte Handlungsoptionen auf eigene Überlegungen zurückgeht. Obgleich die bei der Reflexion abgewogenen Gründe faktisch von Erziehung, Sozialisation oder persönlichen Erfahrungen herstammen mögen, müssen sie kritisch hinterfragt und geprüft und aus reflexiver Distanz bejaht oder verworfen werden (vgl. Fenner 2008, 187f.). Ad b: Ethisch gesehen von viel größerer Relevanz ist die Bedrohung der Willensfreiheit durch Heteronomie oder Fremdbestimmung, weil eine solche Verletzung des grundlegenden Rechts auf Selbstbestimmung durch Mitmenschen oder den Staat moralisch höchst verwerflich ist: Ursprung des Wollens und Handelns ist dann nicht das handelnde Subjekt selbst, sondern der Wille einer anderen Person oder einer sozialen Gruppe. Das Fehlen von äußerer Fremdbestimmung oder Heteronomie stellt gewissermaßen eine negative Randbedingung für innere Selbstbestimmung oder Autonomie dar. Ein klarer Fall von Heteronomie ist die ManipulationManipulation, bei der durch einen gezielten Einsatz von Rhetorik, Propaganda, Drogen oder anderen psychologischen Mitteln die kritische Reflexionsfähigkeit und der Wille anderer Menschen ausgeschaltet werden. So versucht suggestive, manipulativeManipulation Werbung z.B. durch die Kürze der Einblendung eine bewusste Wahrnehmung zu umgehen oder unbewusste Ängste oder Bedürfnisse anzusprechen. Um einen Menschen zu manipulieren und seine WillensfreiheitFreiheitWillens-, Autonomie (positive) zu untergraben, reicht aber bereits eine Täuschung durch falsche oder selektive Informationen bzw. das bewusste Vorenthalten relevanter Kenntnisse über die Handlungssituation aus. Wird beispielsweise eine Person durch die Werbung der Schönheitsindustrie mit irreführenden und suggestiven Bildern versorgt und durch die behandelnden Chirurgen unzureichend über eine gewünschte Schönheitsoperation aufgeklärt, kann ihre Entscheidung nicht frei genannt werden.

FreiheitAm häufigsten verbindet man Heteronomie jedoch mit der Vorstellung von einem direkten sozialen ZwangDruck, sozialer, bei dem jemand unter Anwendung oder Androhung von Gewalt zu etwas gezwungen wird, das seinem Willen widerstrebt. Aufgrund des moralischen und auch rechtlich geschützten Rechts auf Selbstbestimmung verbietet sich ein solches Aufzwingen eines fremden Willens durch Gewalt oder Nötigung. Entsprechend ist auch ein direkter Zwang zu Verbesserungshandlungen unter fast allen Umständen ethisch unzulässig (vgl. oben/AchAch, Johann 2016, 127f.). Wie bei der Erörterung der sozial externen Beschränkungen menschlicher Handlungsfreiheit gesehen, sind aber subtilere, gewaltfreie Formen eines indirekten sozialen Zwangs etwa durch gesellschaftliche Normen oder Ideale schwieriger zu kategorisieren und zu beurteilen. Sind wir etwa allein schon deswegen unfrei, weil wir in eine bestimmte Gesellschaft mit vorgegebenen Handlungsoptionen, Wertvorstellungen und Gesetzen hineingeboren werden? Schließlich hat es keiner frei gewählt, in einer Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft mit dem neuen handlungsmächtigen Trend zur Selbstoptimierung zu leben. Auch wenn Willensfreiheit in sozialer Hinsicht sicherlich durch mehr als nur durch direkte Gewalteinwirkung und Manipulation bedroht ist, wird sie schwerlich durch die vorgefundene Auswahl an gesellschaftlichen Selbstbildern, Rollenmustern und Vorstellungen vom guten Leben schon prinzipiell verunmöglicht. Denn Willensfreiheit oder Selbstbestimmung dürfen nicht mit einer absoluten Autonomie oder Autarkie in dem Sinn verwechselt werden, dass sich ein freier Wille in völliger sozialer Isolation und ohne jeden Einfluss entwickeln müsste. Vielmehr spielen zunächst Vorbilder, frühe Bezugspersonen und Lehrer eine zentrale Rolle, damit Heranwachsende mit den in der Gesellschaft realisierbaren Möglichkeiten an Selbstbildern und Lebensformen überhaupt erst einmal vertraut werden. Sowohl die WünscheWünscheerster/zweiter Ordnung erster Ordnung als auch die Bewertungsmaßstäbe der Wünsche zweiter Ordnung formen sich stets in Interaktion mit dem sozialen Umfeld heran. Positiv betrachtet können die Mitmenschen eine große Hilfe dabei sein, die eigenen Wünsche und das eigene Wollen zu erkennen und mit kritischem Nachfragen gegebenenfalls über eine Selbsttäuschung hinwegzuhelfen (vgl. BieriBieri, Peter, 421). Damit sich eine Identität oder ein Selbst herausbilden und stabilisieren kann, ist außerdem die Anerkennung der selbstgewählten Ziele und Ideale durch das soziale Umfeld erforderlich. Doch wo liegt die Grenze zwischen einem im Austausch mit anderen entwickelten autonomen Willen und einem von der Gesellschaft oktroyierten oder durch sie manipulierten heteronomen Willen, wenn es nicht um Autarkie und innere Abgeschlossenheit geht?

FreiheitFreiheitWillens-, Autonomie (positive)Druck, sozialerSozial vorgegebene Ideale und Vorstellungen vom guten Leben müssen sich letztlich in der Praxis dadurch bewährenArgumenteBewährungs-, dass sie dem Einzelnen tatsächlich ein gelingendes gutes Leben ermöglichen. Auch wenn das Verfahren wegen der frühkindlich erworbenen gesellschaftlichen Beurteilungsmaßstäbe als zirkulär erscheint, werden Werterfahrung und Glückserleben nicht vollständig determiniert durch diese internalisierten normativen Orientierungen. Während Handlungsfreiheit nur in einer Gesellschaft realisierbar ist, die dem Einzelnen einen ausreichenden Handlungsspielraum lässt, setzt Willensfreiheit eine gesellschaftliche Offenheit gegenüber verschiedenen Lebensentwürfen und Wertvorstellungen voraus. Statt ihre Mitglieder zu einer teilnahmslosen Anpassung an bestimmte vorgegebene Ziele und Ideale zu zwingen, müsste eine freiheitsfördernde Gesellschaft individuell abweichenden Lebensentwürfen wenigstens ein Minimum an Anerkennung und Unterstützung zusichern. Ein negatives Extrembeispiel wäre eine totalitäre religiöse Gemeinschaft oder „Sekte“, die mit einer lückenlosen Informationskontrolle und einem strengen Regiment des Belohnens und Bestrafens die vollständige Unterwerfung des Einzelnen unter die Gemeinschaft intendiert und jede kritische Auseinandersetzung mit dem religiösen Orientierungssystem unterbindet. Wenn die Mitglieder zuerst emotional und finanziell von der Gemeinschaft abhängig gemacht werden und ihnen bei abweichenden Meinung mit der sozialen Ausschließung gedroht wird, ist das Verlassen der „Sekte“ für die Betroffenen keine erwägenswerte Option mehr. Bezüglich der Selbstoptimierung könnte man einen analogen Fall so konstruieren, dass in Zukunft in sämtlichen Berufsbranchen irgendeine Form von Enhancement zu den Einstellungsbedingungen gehört. Auch hier hat jemand, der Enhancement grundsätzlich ablehnt, keine „echte“ Wahl, weil er die Exklusion aus der Arbeitswelt und damit meist auch aus einem sozialen Netzwerk nicht ernsthaft wollen kann. Von einer regelrechten Zwangslage oder einem gesellschaftlichen ZwangDruck, sozialer lässt sich allerdings strenggenommen nur da sprechen, wo basale menschliche Güter wie Leben, Gesundheit oder Fähigkeit zur Selbstbestimmung geopfert werden müssten. Denn sehr häufig wird in der alltäglichen Lebenspraxis etwas zwar nicht um seiner selbst willen erstrebt, aber als akzeptables Mittel zur Erfüllung eines eigenen Wunsches gutgeheißen (vgl. BieriBieri, Peter, 115f.). So schlucken wir eine bittere Medizin, um gesund zu werden, oder eben Pillen zur Leistungssteigerung, um einen besseren Job zu bekommen oder mit der Konkurrenz mithalten zu können. Sofern keine gravierenden Nebenwirkungen zu erwarten sind, ließe sich kaum von einer echten Zwangslage und der Unfreiheit des Willens sprechen (Kap. 4.4).FreiheitWillens-, Autonomie (positive)

Kontrollbedingung: Selbststeuerungsfähigkeit

FreiheitNeben der Erkenntnis- und Wertungsbedingung muss schließlich noch die Kontrollbedingung erfüllt sein: Eine Person muss sich in ihrem Handeln an den eigenen Gründen orientieren und die Verwirklichung der gewählten Handlungsziele einleiten können (vgl. LeefmannLeefmann, Jon, 287). Als Willensstärke wird die positiv formulierte Fähigkeit bezeichnet, seine eigenen Ziele durch absichtliches und realitätsgerechtes Handeln notfalls gegen innere und äußere Widerstände durchzusetzen. Bei einem Willensschwachen hingegen erlischt der Wille rasch und wird wieder zum bloßen Wunsch, sobald sich die Realisierung der Ziele als schwierig herausstellt (vgl. BieriBieri, Peter, 38; 100/KipkeKipke, Roland 2011, 171ff.). Unabdingbar für die Kontrolle seines Willens ist außerdem die negativ definierte Fähigkeit, unwillkürlich auftretende, den persönlichen Zielen zuwiderlaufende Triebe, Motive und Gefühle hemmen zu können. Beide Fähigkeiten sind wichtige Komponenten der Selbstregulationsfähigkeit oder SelbststeuerungsfähigkeitSelbststeuerungsfähigkeit/Selbstkontrolle als Gesamtheit von bewussten und unbewussten psychischen Vorgängen, mit denen Menschen ihre Aufmerksamkeit, Emotionen und Handlungsimpulse regulieren. Diese individualethisch kaum zu überschätzende Fähigkeit zur Selbstregulierung umfasst außerdem noch die erwähnten Fähigkeiten zur Selbstwahrnehmung und -bewertung sowie die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub und zur Selbstmotivation. Sie ist schon aufgrund genetischer Anlagen sehr unterschiedlich ausgeprägt und z.B. durch impulsive und aggressive Charakterdispositionen oder ADHS stark vermindert. Sie muss aber grundsätzlich in der frühen Kindheit trainiert werden, z.B. dank geeigneter Vorbilder, klarer Ansagen wie „Warte noch ein bisschen“ und der Kommentierung der kindlichen Gefühle und Gedanken als eine Art Anleitung zur Selbstreflexion wie: „Macht Dich das jetzt traurig?“ (vgl. Pauen). Die meisten Freiheitstheoretiker wie FrankfurtFrankfurt, Harry beschäftigen sich nicht weiter mit dem interessanten Fall, dass eine Person sich auf einer höheren Reflexionsebene gegen einen Wunsch erster Ordnung entscheidet, ohne dass dieser aber verschwindet. Diese Unfähigkeit zur KontrolleSelbststeuerungsfähigkeit/Selbstkontrolle des eigenen Willens könnte an einer krankhaften Sucht liegen oder in unbewusst wirkenden, frühkindlich verinnerlichten Idealen oder in dauerhaften Persönlichkeitsmerkmalen wie z.B. einem Hang zu Neid und Eifersucht verankert sein. Um vom Zustand der Unfreiheit wieder in denjenigen der FreiheitFreiheit zu gelangen, wäre dann die Arbeit an der eigenen Persönlichkeit in Form einer Therapie oder Selbstformung erforderlich (vgl. KipkeKipke, Roland 2011, 102). Kontrovers diskutiert wird, ob biomedizinische Mittel zur Selbstoptimierung den eigenen Willen stärken oder langfristig die Fähigkeit zur Selbstregulierung und Selbstbestimmung untergraben (Kap. 4.4)FreiheitWillens-, Autonomie (positive)