Dann stirb doch selber

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14. Szene

Klara



Den Sonntag hielt ich schon immer für ziemlich nutzlos. Überall liefen Pärchen Hand in Hand und vertrödelten den Tag mit Glücklichsein. Die Geschäfte hatten geschlossen, und Auskünfte bekam man auch nur sehr widerwillig. Montags war das etwas anderes. Die Pflegedienstleitung sagte, Sylvia Nigl sei zwar eine allein erziehende Mutter, aber sehr beliebt. Dass der Vater unbekannt sei, führte zu einem kurzen Nasenrümpfen, sonst gab es jedoch keine Beanstandungen. Über ihren Typ sagte sie, sie passe wunderbar in die Urologie, wie sollten sich denn die armen Männer fühlen, wenn lauter aufgedonnerte Weibsleute da herumliefen!



Tja, da war Frau Nigl natürlich keine Gefahr.



Zurück im Büro versuchte ich es wieder mit Julia Fabriosa. Diesmal stürzte das Programm nicht ab, aber dafür gab es über sie auch keinen Eintrag. Komisch, und was war das eigentlich für ein ausgefallener Name?





15. Szene

Magdalena



Gegen Mittag trieb es mich in die Kaffeeküche, mein Körper verlangte Koffein und Glucose. An dem Tisch mit der geblümten Wachstuchdecke saß Jutta und beugte sich konzentriert über ein Blatt Papier, auf dem ein Kreis mit vielen Unterteilungen aufgemalt war. In der rechten Hand hielt sie einen geschliffenen Kristall, der an einer dünnen Kette hing. Vorsichtig schlich ich mich hinter ihrem Rücken vorbei.



„Welche Bachblüten wirken sich auf meine derzeitige Verfassung besonders positiv aus?“, fragte sie mit monotoner Stimme.



„Keine Ahnung“, antwortete ich, weil ich eigentlich nur Sumpfdotterblumen kannte.



„Welche Bachblüten ...“, fing sie erneut an, und endlich kapierte ich, dass sie gar nicht mit mir sprach, sondern mit dem Papier vor ihr auf dem Tisch und dem darüber hin und her pendelnden Kristall. Da sie so sehr in diese Aufgabe vertieft war, beschloss ich, mir schnell meinen Kaffee und ein paar Kekse zu nehmen und mich dann möglichst unbemerkt aus dem Staub zu machen. Doch daraus wurde nichts! Genau in dem Moment blickte sie auf, schob das Blatt beiseite und sah mich über den Rand ihrer Brille aufmerksam an. „Du siehst schlecht aus.“



„Danke“, antwortete ich schwach. „Was hast du erwartet?“



„Ich will dich nicht kränken, ich will dir helfen“, beharrte sie und stand auf.



„Magdalena, du musst was für dich tun!“ Sie nahm mir meine Tasse aus der Hand, stellte sie auf das Tischchen neben ihre Blätter und ergriff erneut meine Hände, um sie zu drücken. Das war zuviel, ohne Vorwarnung liefen mir Tränen über mein mühsam geschminktes Gesicht und richteten ziemliche Schäden an.



„Ja, so ist es gut“, lobte Jutta, „du musst deine Trauer annehmen und darfst sie auf keinen Fall unterdrücken.“



„Ach Jutta, was redest du da, ich kann doch nicht heulend hier herumlaufen, was sollen denn die Kunden von mir denken.“



„Was interessieren dich die Kunden, die haben ja schließlich keinen geliebten Menschen verloren!“



Ich machte mich erneut los, griff nach meiner Tasse und trank eine tiefen Schluck. Jutta drückte mich auf den Stuhl, auf dem sie selbst eben noch gesessen hatte, und hielt mir ein Buch vor die Nase.



„Hier!“





Mit dem Unterbewusstsein die eigene Welt verändern.





„Das ist es, was du jetzt brauchst! Damit kannst du es schaffen!“



„Mit dem Unterbewusstsein?“



„Ja! Du musst es dir so lange einreden, bis es dir besser geht!“



Ich sah sie mehr als skeptisch an.



„Hast du noch nie den Satz gehört: Du redest dir das alles doch nur ein?“



Ich nickte.



„Genau das musst du machen. Rede dir morgens und abends immer wieder ein, dass es dir bald besser geht. Glaub an dich, und Harry wird stolz auf dich sein.“



Dankend nahm ich Buch und Ratschlag entgegen und legte es später in meine Schublade, um es zu vergessen. Was wusste Jutta schon von meinem Schmerz und wie ich damit umgehen musste? Einreden! Ausreden! Harry war tot und ließ sich auch nicht wieder lebendig reden.





16. Szene

Klara



Seit dem Mittagessen arbeitete ich an den Richtlinien für die Aufdeckung von Schwarzgeld-Kurieren. Nach der europaweiten Einführung der Zinssteuer versuchten immer mehr heimliche Sparer, ihr Geld aus dem Ausland unauffällig wieder zurückzuholen. Aufgabe meiner Truppe sollte es sein, sie nach dem Grenzübertritt gemeinsam mit dem Zoll herauszupicken und wenn notwendig zu verhören. Das Verschieben solcher Sparguthaben kostete den Steuerzahler Milliarden. Das Geld wäre sinnvoller in unserer neuen Datenbank angelegt. Alle Welt schrie nach Sicherheit, aber kosten durfte sie natürlich nichts. Und die, die am lautesten schrien, wollten am wenigsten dafür ausgeben.



Nachdem ich meine Notizen dazu geheftet hatte, kam mir spontan die Idee, noch einmal Frau Morgenroth aufzusuchen. Sie und ihre kapriziöse Wohnung ließen mir keine Ruhe.



Beim Mittagessen hatte sich Obermüller vorsichtig nach ihrem Befinden erkundigt, und ich hatte ihm vorsichtig Auskunft gegeben. Der Speiseplan unserer Kantine war zweifellos im Winter geschrieben worden, darum aß ich nur einen Salat und ein belegtes Baguette. Obermüller haute rein. Zwischen zwei Bissen Schweinebraten mit Knödel erzählte er vom Fahndungserfolg. Er war gleich Null. Aber der Zeuge, der sich so gut mit Autos auskannte, hatte ihnen immerhin den Tipp gegeben, es bei den ansässigen Automobilclubs zu probieren. Ich vermied es zu sagen, dass sie selber daran hätten denken können.



Die Frau mit dem Kind war wie die meisten Zeugen. Wenn es darauf ankam, konnten sie sich nicht mehr so genau erinnern.



„Tja ein Fall wie viele. Wir werden irgendwann per Zufall den Wagen finden, den Halter feststellen, und wenn wir Glück haben, hat er kein Alibi!“ Obermüller schob sich das letzte Stück Apfelkuchen rein und fragte, ob er mir noch was mitbringen solle. Dankend lehnte ich ab. Ich sah noch eine andere Möglichkeit, der Sache auf den Grund zu gehen. Als Obermüller mit einem weiteren Apfelkuchen zurück kam, fragte ich ihn, ob er mir nicht einen Vorwand liefern könnte, um Frau Morgenroth noch einmal zu besuchen. Er warf einen Blick auf seine Uhr. „Mit ein bisschen Glück schickt die Spurensicherung heute noch die Auswertung vom Unfallfahrzeug.“ Er schob ein Stück Kuchen in den Mund und sprach dann undeutlich weiter: „Was willst du denn eigentlich damit erreichen?“



„Du meinst, sie haben im Auto Spuren gefunden, die uns weiterhelfen könnten?“



„Am Telefon sagten sie etwas von einer Haaranalyse, auf jeden Fall sind sie blond.“



„Du meinst, eine blonde Frau saß mit im Auto? Dann haben wir ja sogar eine Zeugin für den Unfallhergang!“



Aufgeregt beugte ich mich über den Tisch und wartete, bis er endlich geschluckt hatte.



Doch Obermüller schob noch ein weiteres Stück Kuchen in den Mund und zog ein nachdenkliches Gesicht. „Warum bist du so interessiert an dem Fall? Reichen dir deine Schwarzgeldkonten nicht mehr?“





17. Szene

Magdalena



Auf dem Heimweg lächelte mir plötzlich Bernhard, Harrys großer Bruder, entgegen. Nicht in echt, wie Anna sagen würde, sondern von einem Plakat. Im September standen in Bayern Wahlen an, und Bernhard kandidierte für das Amt des Landrates. Er wurde von den Wählerinnen und Wählern direkt gewählt, und insofern war es nur recht, dass er sich ein bisschen ins Zeug legte.



Für einen Landratsanwärter war er noch recht jung, aber das machte nichts, denn er war sein ganzes Leben darauf vorbereitet worden, sich in Amt und Würden richtig zu benehmen; so hatte es Harry zumindest erzählt.



„Schau ihn dir an, so mausgrau hat er schon seine Jugend verbracht!“ Wir lagen an jenem Tag nackt im Bett. Harry hatte ein Kissen hinter dem Kopf und ich lag auf seiner Brust. Wir waren noch ganz warm, hatten den Fernseher nur aus Zufall angemacht und dann gelacht, weil Bernhard so unvermutet auf der Bildfläche erschienen war.



„Der Erfolg gibt ihm recht“, antwortete ich klug und richtete mich ein wenig auf.



„Schon, aber um welchen Preis! Möchtest du vielleicht die langweilige Marielinde jeden Morgen neben dir im Bett liegen sehen?“



Ich dachte an Bernhards Gesicht und schüttelte den Kopf. „Weder sie, noch ihn“, erklärte ich und sah Harry kritisch an. „Da bist du mir schon tausendmal lieber!“ Ich kuschelte mich an seine Schulter und kämmte mit den Händen seine Haare nach hinten. „Bist du denn überhaupt nicht neidisch auf ihn?“ Harry war ganz schön eitel.



„Auf was? Auf sein Jurastudium oder auf seine Kinder?“ Er sah mich herausfordernd an.



„Ich weiß nicht, sag du es mir.“



„Magdalena!“, fuhr er streng fort, „Kinder möchte ich am liebsten ein halbes Dutzend, das weißt du, aber nicht seine. Ich brauche keinen Stammhalter oder ein Vorzeigeobjekt. Meine Kinder sollen glücklich sein, sollen spielen und sich dreckig machen können, ohne Angst vor dem nächsten Pressetermin!“



Ich stand immer noch unter dem Wahlplakat und dachte zurück. Es war ein schöner Nachmittag gewesen, und Harry hatte noch das eine oder andere von Bernhard und ihrer gemeinsamen Jugend erzählt. Von Streichen, die er ihm gespielt hatte, vom Lauschen an der Zimmertür, während seine Freunde bei ihm waren, und lauter solchen Sachen. Harry sagte, er sei zu dieser Zeit viel lieber mit seiner Kamera herumgelaufen und hätte alles fotografiert, was ihm vor die Linse kam. Immerhin war er fast zehn Jahre jünger als Bernhard.



Ein älterer Herr kam mir entgegen und schaute, was es da zu sehen gab. „Meine Stimme hat er“, sagte er und nuschelte im Weitergehen. „Ein prima Mann, wirklich ein prima Mann!“

 



Bernhard schien mit seiner Politik Erfolg zu haben. Er war sehr konservativ und versuchte den Menschen klar zu machen, wie wichtig ein starkes Land sei. Er bestand darauf, zuerst den eigenen Leuten Arbeit zu geben und erst dann über Zuwanderungsbedingungen zu diskutieren. Er verstand die Bewohner im Grenzgebiet und ihre Ängste um die Arbeitsplätze. Außerdem suchte er nach Möglichkeiten, der wachsenden Jugendkriminalität Einhalt zu gebieten. Harry teilte seine Meinung nicht, er war ein verspäteter Anhänger von Che Guevara, dem 1967 erschossenen Guerillaführer, und stand in seiner politischen Meinung weit links. Genau wie seine Mutter, die zwar voller Stolz von ihrem Ältesten sprach, aber genauso leidenschaftlich mit ihm stritt.



Am Bahnhof kaufte ich mir eine Tageszeitung und ein paar Zeitschriften zur Unterhaltung und ließ dann ihn und die Ausläufer des Stadtzentrums hinter mir. Begleitet von Bernhards aufgesetztem Lächeln lief ich die Straße entlang. Bald schaute ich nicht mehr nach oben. Er sah auf jedem Bild so aus, wie ich ihn bei meinem Antrittsbesuch im Hause Kaufmann kennen gelernt hatte: dunkler Anzug, Krawatte und akkurat gescheitelte, an den Seiten schon leicht ergraute Haare, dazu ein glatt rasiertes Kinn. Und auf manchen sah man sogar die distinguierte, in sanftes Aprikot gehüllte Ehefrau Marielinde.



Nachdem ich die Gleisanlage überquert hatte, ging ich zu

Krösus

 und kaufte ein paar Köstlichkeiten für den Abend. Mit einer Tasche voll teurer Leckereien stand ich schließlich an einer roten Fußgängerampel und dachte plötzlich erneut an Bernhard. Welche Opfer musste er bringen, um da oben mitmischen zu können?



Die Politik war ein hartes Brot. Schon lange ging es den Staatsmännern nicht mehr darum, das Beste für ihr Volk zu wollen. Jeder log und betrog und dachte nur daran, möglichst lange regieren zu können. Wer auf den Listen stand, musste sich entblößen, und das Beste war, man hatte keine Vergangenheit. Gnadenlos fielen Mitglieder verschiedener Listen übereinander her, suchten beim anderen nach möglichen Verfehlungen und verpetzten alles nur Erdenkliche der Öffentlichkeit.



Die Ampel sprang auf Grün. Ich beeilte mich hinüberzukommen. Bei Bernhard konnte ich mir so was nicht vorstellen; aber bei seinem Gegner, der hatte Angst! Im Lokalsender hatte ich einmal eine seiner Reden verfolgt. Sie bestand hauptsächlich aus heißer Luft und hatte besonders Harry köstlich amüsiert. „Was soll das Ganze?“, hatte er gefragt und vorgeschlagen, den Herrn mal von wirklich delikaten Dingen in Kenntnis zu setzen. „Wenn ich auspacke, dann vergeht ihm das einstudierte Lachen!“ Dabei hatte Harry richtig gemein gegrinst, ungewöhnlich gemein, wie ich fand.



Ich hatte die Vornholzstraße erreicht. Auf der linken Seite war eine Wohnsiedlung und auf der rechten Gewerbegebiet. Viele Hallen standen seit langem leer oder wurden umgebaut. Ich nahm die ausgediente Lastwagenzufahrt und betrat den Hof der ehemaligen Druckerei. Vor einigen Jahren, als die Vorschriften über Emissionswerte und Lärmschutz immer schärfer wurden, hatte ein pfiffiger Architekt den oberen Stock umgebaut und drei gemütliche Lofts eingerichtet. Im unteren Bereich befand sich die Werkstatt, die das Ziel hatte, Jugendliche von der Straße zu bekommen und sie wieder für den Arbeitsmarkt fit zu machen. Auch eine Form von Jugendkriminalitäts-Bekämpfung!





18. Szene

Magdalena



Hinter mir fiel die Tür ins Schloss, ich war erleichtert. Es war ein anstrengender Tag gewesen. Soviel Beileidsbekundungen, soviel Rücksichtnahme, soviel Getuschel hinter meinem Rücken! Ich streifte die Schuhe von den Füßen, legte Schlüssel und Handtasche weg und sehnte mich nach einem entspannenden Bad. Doch dann fiel mein Blick auf den dick wattierten Umschlag, der allein im Briefkasten gelegen hatte. Er war an

Harry Persönlich

 adressiert und trug keinen Absender. Die Schrift kam mir irgendwie bekannt vor, darum nahm ich ihn mit nach oben. Ein Fehler, wie sich bald herausstellte.



Mit spitzen Fingern besah ich ihn von allen Seiten. Er war hellbraun, und außer dem Hinweis

Harry Persönlich

, konnte ich nichts Ungewöhnliches entdecken. Wer hatte ihn geschickt? Kein Absender, also wer? Ich verschob mein Bad und kochte erst einmal Kaffee. Wie wichtig musste der Inhalt sein, um den Absender seine Adresse vergessen zu lassen, und stattdessen „Persönlich“ darauf zu schreiben?



Mit der Tasse in der Hand setzte ich mich an den Esstisch und trank. Der Klebestreifen ließ sich leicht öffnen und gleich darauf schob ich meine Hand durch den geöffneten Schlitz, konnte aber außer der genoppten Plastikfolie nichts ertasten. Komisch, dachte ich und warf einen Blick hinein. Leer!



„Was soll das?“, fragte ich laut, drehte den Umschlag herum und heraus fiel ein Schlüssel. Anscheinend hatte er sich irgendwo am Boden festgeklammert, hatte vielleicht gespürt, dass ich nicht autorisiert war, weil ich nicht

Harry Persönlich

 war. Beeindruckt von soviel Willen, drehte ich den Schlüssel hin und her, überlegte, wohin er gehören könnte, und zerlegte den Briefumschlag in seine einzelnen Schichten, um vielleicht dort irgendeinen Hinweis zu bekommen. Aber außer recyclingfähigen Einzelteilen fand ich nichts.



Enttäuscht nahm ich die Zeitung zur Hand und blätterte sie durch. Auf der vorletzten Seite fand ich eine riesige Todesanzeige mit schwarzem Rand und Harrys Namen in großen Lettern. Seine ganze Familie nahm tränenreich Abschied, selbst mich hatten sie in ihre kollektive Trauer mit einbezogen. Sie baten darum, von Beileidsbezichtigungen am Grab Abstand zu nehmen. Ich war gerührt und beschloss, Harrys Mutter anzurufen.



Es wäre eine gute Möglichkeit gewesen, den Abend zu beschließen, aber irgendwie ging mir der Schlüssel nicht aus dem Kopf. Ich klaubte den zerlegten Umschlag noch einmal aus dem Müll und versuchte den Poststempel zu entziffern. Der Ort war ziemlich verschmiert, aber der Datumsstempel zeigte eindeutig den sechzehnten August an, der Tag, an dem Harry mich für immer verlassen hatte.





19. Szene

Magdalena



Dieser merkwürdige Zufall beschäftigte meinen Kopf noch immer, als es an der Tür klingelte. Ich öffnete, und vor mir stand die Kommissarin. Höflich bat ich sie herein; die Wohnung war aufgeräumt und der Kaffee noch heiß. Zum Glück hatte ich mich noch nicht umgezogen. In meinem Kostüm fühlte ich mich ihr gleich viel besser gewachsen. Sie wirkte zielstrebig und sicher, aber vor allem ungewöhnlich frisch, wie nach einem Frühstück im Bett mit anschließender Wechseldusche. Mir schien, sie hatte sich auf diesen Besuch gut vorbereitet!



Sofort kam sie zur Sache, wollte ohne Einleitung von mir wissen, ob mir denn nun eingefallen sei, wo Harry an seinem Todestag hin wollte. Ich schaute sie äußerst kritisch an. Hielt sie mich für blöd? Wenn ich nicht wusste, wo er hin wollte, dann wusste ich es nicht! Schließlich war ich nicht sein Kindermädchen und somit auch nicht über jeden seiner Schritte informiert. Endlich zeigte sie sich einsichtig.



„Dann wissen Sie sicher auch nicht, ob er vielleicht eine blonde Frau mitgenommen hat.“ Sie gab mir Zeit zum Nachdenken. „Wir haben blonde Haare in seinem Auto gefunden“, fügte sie schließlich erklärend hinzu und musterte meine mangogesträhnte Frisur.



Mit meinem freundlichsten Lächeln sah ich sie an. Er hatte eine blonde Frau dabei, ja, aber ich würde den Teufel tun und es ihr erzählen. Das ging sie nämlich nichts an! Außerdem fand ich ihre Art, wie sie von Harry sprach, ohnehin unerträglich.



Sie nickte langsam und erhob sich, dabei warf sie einen sehnsüchtigen Blick auf den Tigersessel. „Naja, ich dachte es mir fast! Haben Sie vielen Dank.“



Nachdem die Kommissarin wieder weg war, setzte ich mich in den Sessel und dachte nach. Sie zog sich gut an, schminkte sich, wirkte gepflegt. Bis auf die Fältchen um die Oberlippe und an den Augenwinkeln sah sie jung aus, trotzdem wirkte sie abgebrüht und alt. Sicher war es nicht leicht, jeden Tag mit dem Tod konfrontiert zu sein und sicher war das ständige Fragen und auf Antworten warten auch nicht einfach, deshalb hatte sie aber noch lange kein Recht, mich zu quälen!



Schlimm genug, dass Harry tot war, aber mussten mich alle immer an die blonde Frau auf dem Beifahrersitz erinnern? Als ob Blondsein etwas Besonderes wäre. Harry liebte mich so, wie ich war. Hätte er mich blond gewollt, hätte er es gesagt. Ich holte mir eine weitere Tasse lauwarmen Kaffee. Zum Glück hatte sie nicht auch noch Bilder von blonden Frauen dabei. War es diese oder diese? Wir haben Haare in seinem Auto gefunden, darf ich mal aufs Laken schauen, vielleicht sind da ja auch welche.



„Niemals!“, schrie ich, stand auf und zog das Bett ab. Niemand sollte Gelegenheit zum Schnüffeln haben - sie nicht und ich selbst nicht. Als ich fertig war, suchte ich im Fotoalbum ein Bild, auf dem Harry so unverwechselbar selbstbewusst in die Kamera lächelte. Zusammen mit der letzten erblühten Rose aus dem Bad stellte ich ihn auf den Kamin. Jeder, der zur Tür hereinkam, sollte sofort sehen: Harry gehört mir!






Dienstag 20.8.

20. Szene

Klara



Der Wecker hatte noch nicht geklingelt, aber ich lag schon lange wach. Als es sechs war