Marionette des Teufels

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Noch in der Nacht hatte das Team um den Rechtsmediziner Professor Anton Wassly Sophia Weberknecht auf den Seziertisch gelegt und sich angesehen, was kein Mensch im Vorbeigehen je geahnt hätte: Ihr Blinddarm war latent entzündet, sie hatte eine Zyste an der linken Niere, vielleicht ihr nie geborener Zwilling, was gar nicht so selten vorkam. Gestorben war sie jedoch – und das relativ zügig – an der bekannten Kopfverletzung.

„Es liegt eine klare Impressionsfraktur vor, wobei die Tabula interna stärker gesplittert ist. Außerdem konnte ich mehrere konzentrische äquatoriale Bruchlinien finden.“

Hannes, der Franziska nach München in die Frauenlobstraße begleitet hatte, versuchte sich ganz stark auf die Worte des Professors zu konzentrieren. Trotzdem verstand er nicht, was dieser ihnen sagen wollte, bis seine Kollegin nachfragte. „Das heißt in einfachen Worten?“

„Das Schädeldach ist eingebrochen.“ Professor Wassly ergriff das weiße Tuch und enthüllte die obere Körperhälfte der toten Sängerin, sodass nicht nur das Gesicht und der zum Teil rasierte Kopf, sondern auch die Brust mit dem grob zusammengenähten Y-Schnitt zu sehen waren.

„Und mit was?“, Franziska räusperte sich ein wenig verlegen, während sie zusah, wie der Professor der Toten fast liebevoll die verbliebenen Haare aus dem Gesicht strich.

„Mit einem breitflächigen Gegenstand, der gut in der Hand lag. Es war keine glatte Oberfläche, aber da die Vertrocknungsspuren in den Haaren liegen, konnten wir die Zeichen nicht genau erkennen. Ein Kollege hat Fotos gemacht.“

„Kann es sein, dass sie nach dieser Verletzung noch handlungsfähig war?“

„Wohl kaum.“

„Gab es irgendwelche Abwehrspuren?“ Franziska warf dem Professor einen abschätzenden Blick zu. Er trug die dunklen Haare brav gescheitelt, seine Brille war randlos, das Gesicht frisch rasiert. Die Fünfziger lagen hinter ihm.

„Nein, entweder war sie arglos oder sie wurde überrascht, was kein Wunder wäre, denn der Schlag wurde von links hinten oben ausgeführt. Ich denke, sie stand dem Täter gegenüber, der holte mit der rechten Hand aus und schlug einmal zu. Er muss größer als sie gewesen sein.“ Der Pathologe hatte sich vor sie hingestellt und Franziska recht anschaulich seine Theorie vorgeführt. Dabei hatte sie sein dezentes Parfüm gerochen: sportlich fruchtig.

„Hatte sie Geschlechtsverkehr vor ihrem Tod?“ Franziska warf Hannes einen kurzen Blick zu, aber dieser schien keine Fragen zu haben. In Gedanken versunken starrte er auf das Gesicht der Toten.

„Nein, und auch nicht danach. Dem Täter ging es nicht um die Befriedigung des Geschlechtstriebs. Er war nicht besonders grausam zu ihr. Er hat sie mit einem Schlag getötet. Ich würde sagen, es war ein Totschlag im Affekt.“ Franziska nickte, das hatte sie auch gedacht, als sie die Sängerin zum ersten Mal in ihrem Bett gesehen hatte, dass sie friedlich gestorben war.

„Sie hat sich nicht gewehrt, weil sie gar keine Zeit dazu hatte. Vor ein paar Jahren lag eine Studentin aus Passau auf diesem Tisch. Die junge Frau war mit 27Messerstichen grausam getötet worden. Der Täter muss vor Wut wie von Sinnen gewesen sein. Dieses Mädchen“, nun sah auch er Sophia an, „hat zumindest nicht gelitten.“

„Und ist das alles?“ Eigentlich reichte es Franziska fürs Erste, aber Professor Wassly hatte tatsächlich noch etwas für sie. „Nein, eines noch. Sie hat ein Intimpiercing. Ist wohl niemandem aufgefallen, sie trägt es sehr verborgen. Wollen Sie es sehen?“

Franziska zögerte, verborgen konnte nur eines heißen.

„Ihr kriegt ein Foto, okay?“, schlug der Professor auf ihr ausdauerndes Schweigen hin vor.

„Ja, danke. Sonst noch was?“

„Wussten Sie“, der Professor sah von Franziska zu Hannes, „dass sich bei den meisten Tötungsdelikten in Deutschland Folgen stumpfer Gewalt nachweisen lassen?“

„Nein.“

„Doch. Vermutlich ist es am einfachsten, aus Wut kräftig zuzuschlagen. Mit der Faust, mit einer Latte oder einem Werkzeug, was eben gerade greifbar ist.“

***

„Hier ist Bruno.“

„Ach, Bruno, Sie!“

„Störe ich?“

„Nein, nein. Aber ich habe nicht viel Zeit.“

„Gibt’s was Neues?“

„Es hat eine Tote gegeben.“

„Traf es die Richtige?“

„Hören Sie, über so etwas macht man keine Scherze.“

„Sie haben Angst.“ Es war keine Frage, es war eine Feststellung und sein Ton war verächtlich. „Das wäre dann doch genau der richtige Moment, um alles aufzudecken, oder?“ „Ich werde mich darum kümmern und ich werde sehr gewissenhaft vorgehen. Aber dafür brauche ich Zeit und noch mehr Beweise. So etwas muss Hand und Fuß haben, sonst wird das nichts. Wir wollen ja auch überzeugen.“

„Und wie stellen Sie sich das vor, haben Sie schon einen Plan?“ Der Mann schien sich ein wenig beruhigt zu haben, seine Stimme klang jetzt weniger aggressiv.

„Das überlassen Sie mal schön mir. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich es auf meine Art mache.“

„Gut. Ich warte. Aber hören Sie, vielleicht wird es ja nicht bei einem Toten bleiben.“ Mit dieser Feststellung beendete der Anrufer das Gespräch. Er hatte seine Nummer unterdrückt und war damit noch nicht einmal auf der Anruferliste registriert. Aber Bruno war ohnehin nicht der, für den er sich ausgab und somit war auch das egal.

***

„Was war das nur für ein Mann, dem sie da so arglos ihre Wohnungstür geöffnet hat?“, fragte Franziska, nachdem auch Hannes im Dienstwagen Platz genommen hatte. Ohne auf eine Antwort zu warten, holte sie einen Müsliriegel und ihr grünes Notizbuch heraus. Sie riss hastig das Alupapier von ihrem Snack und biss hungrig hinein. Während sie kaute, schrieb sie einige Bemerkungen auf eine freie Seite ihres Notizbuchs.

Hannes beobachtete sie, zuckte mit den Schultern, wusste einfach nicht, worauf sie hinaus wollte, bis Franziska endlich fortfuhr. „Er war größer als sie und so stark, dass er sie mit einem Schlag niederstrecken und anschließend ins Schlafzimmer tragen konnte. Er neigt zu Wutausbrüchen oder lässt sich zumindest leicht reizen.“ Die junge Kommissarin nickte vor sich hin. „Und er hatte Erfahrung im Beseitigen von Spuren.“ Auf einmal sah sie Hannes direkt an. „Oder kannst du dir vorstellen, dass jemand mit Handschuhen zu einer Frau wie Sophia Weberknecht geht? Ich meine, das wäre ihr doch sicher komisch vorgekommen, oder? Hätte sie ihm dann die Tür geöffnet?“

„Du meinst, sie hatte Umgang mit Kriminellen? Aber das passt doch gar nicht zu ihr.“

„Nicht zu dem, was die Nachbarinnen gesagt haben, aber wer weiß, was die wirklich über sie wissen.“ Franziska schob sich den restlichen Riegel in den Mund und kaute in aller Ruhe. „Ich bin gespannt, wie es Obermüller heute mit Paula Nowak ergangen ist.“

„Wegen der Homosexualität?“

„Nein, wegen des Bildes. Wenn es was taugt, kannst du es Agnes Neumüller zeigen und vielleicht erkennt sie den nächtlichen Besucher dann ja doch wieder, hm?“

„Na gut, wollen wir dann erst ins Büro fahren oder …“

„Wir fahren ins Fürstbischöfliche Opernhaus“, entschied Franziska und freute sich nicht nur darüber, von dem unwirtlichen Ort der Rechtsmedizin wegzukommen, sondern auch, das Theater endlich einmal von innen zu sehen. „Sänger sollen ja schließlich auch zu Wutausbrüchen neigen.“

„Oh, Hannes, bitte, lass doch die Klischees!“, mahnte Franziska, legte den ersten Gang ein und fuhr los.

***

Das Haus der Familie Weberknecht stammte aus den 50er-Jahren, hatte zur Straße hin ein großes Panoramafenster, in dem üppige Grünpflanzenwuchsen, war ansonsten aber eher schlicht. Brauser hätte sich mehr erwartet. Etliche Steinstufen führten hinauf zur dunkelgebeizten Eingangstür vor der zwei Buchsbäumchen in großen Tontöpfen standen. Die um den Stamm gebundenen schwarzen Bänder flatterten verspielt im kühlen Herbstwind. Ein Messingschild wies auf den Hausherrn hin: Karl Weberknecht. Nachdem Brauser auf den Knopf unterhalb des Schildes gedrückt hatte und eine schmetternde Fanfare erklang, öffnete ihm das Hausmädchen, das eigentlich eher eine Hausoma war, wie der Kommissar ein wenig amüsiert feststellte.

Der Besuch von nahen Angehörigen eines Opfers war nie leicht und es stellte sich, auch nach so vielen Dienstjahren, einfach keine Routine ein. Im Gegenteil, das Leid schien sich mit jedem Mal noch zu addieren. Am schlimmsten war es, wenn Kinder vor ihren Eltern starben. Trotzdem sah es der Kommissar stets als seine Pflicht, aber auch als eine Möglichkeit an, etwas Näheres über das Opfer zu erfahren. Eine Hilfestellung für die Bewältigung des Schmerzes konnte er nicht anbieten. Schon gar nicht bei den Weberknechts.

Als Brauser gleich darauf der Hausherrin in der Diele gegenübertrat, hätte der Kommissar sie fast nicht wiedererkannt. Zu lange schien es her, seit die Fotos, die er in Sophias Wohnung gesehen hatte, geschossen worden waren. Frau Weberknecht trug eine schlichte graue Flanellhose und einen auberginefarbenen Rollkragenpulli über dem eine lange Perlenkette hing.

Brauser wusste, dass ein schrecklicher Verlust plötzlich altern lassen konnte: Haare wurden auf einmal grau, eben noch strahlende Gesichter fielen in sich zusammen und erblühten nie mehr zu ihrem vorherigen Leben. Doch Reinhilde und Karl Weberknecht, der auch zur Begrüßung auf dem Sofa sitzen blieb, waren bereits alt und gebrechlich, als sie vom tragischen Ende ihrer Tochter erfahren mussten. Während die Mutter mit der einen Hand nach einem weißen, sorgfältig gebügelten Taschentuch griff und vorsichtig hineinschnäuzte, suchte die andere zögerlich die Hand ihres Mannes und seinen Trost. Doch ihr Mann blieb starr und stumm, unfähig sich zu rühren, krampfhaft das Asthmaspray umfassend und verschlossen für den Rest der Welt. Nur das Pfeifen seiner Lungen zeigte, dass er noch lebte. Tief berührt sah sich der Brauser im Wohnzimmer um.

 

An den Wänden hingen große gerahmte Bühnenplakate: Sophia als schöne Blonde, die Männer reihenweise verführende Lulu im Goldlamékleid, mit raffiniert aufgesteckten Haaren. Als Lucia di Lammermoor im weißen Unschuldsgewand mit umherirrenden Blick, dem Wahnsinn bereits verfallen. Und als ausgestoßene, schwindsüchtige Violetta aus La Traviata, bezaubernd und doch nur vom Gevatter Tod zu erwählen. Waren das auch die Rollen in ihrem Leben? Verführen, verzweifeln, sterben? Und war das den Eltern bewusst? Sicher waren sie sehr stolz auf die schöne Tochter, dachte Brauser, der ja selbst nie Kinder hatte und sich somit auch niemals solche Bilder ins Wohnzimmer hängen konnte.

Auf einmal stand Reinhilde Weberknecht neben ihm, folgte seinem Blick und versuchte, ihm das Wesen ihrer Tochter zu erklären.

„Die Lulu, das war ihre Lieblingsrolle, die Urgestalt des Weibes.“ Sie nickte, wobei ihre Augen blitzten und für einen kurzen Moment konnte Brauser ihre einstige Schönheit sehen, bevor sie wieder hinter dem Schleier von Alter, Leid und Verzweiflung verschwand.

„Ich glaube, diese Rolle der Verführerin hat sie so sehr gereizt, weil sie im wirklichen Leben viel zu schüchtern dazu war.“

Fast unbemerkt tupfte sich Reinhilde eine Träne aus dem Augenwinkel und stand dann still und sehr aufrecht wie ein Gardesoldat, der gelernt hatte, sich Gemütsregungen nicht anmerken zu lassen. Nur der Blick haftete noch immer ein wenig träumerisch auf den Bildern ihrer Tochter.

„Auf der Bühne, da taute unsere Sophia auf, das war schon so, als sie klein war. Sie liebte den Applaus, den Moment, wenn ihr fremde Menschen zu Füßen lagen.“

Brauser versuchte gerade diese Bemerkung mit der toten Sopranistin zusammenzubringen, als die Mutter von einem weiteren Detail erzählte. „Dabei war Sophia sehr konservativ. Sie wünschte sich nichts sehnlicher als eine große Hochzeit, ganz in weiß, mit vielen Gästen und einem wunderbaren Ehemann. Für ihn wollte sie sich aufheben. Das war ihr großer Traum“, schniefte sie und der Kommissar sah verlegen weg.

Brauser fragte sich, ob diese Vorstellung, die in der heutigen Zeit nicht gerade üblich war, vielleicht eher den Wünschen der Eltern entsprach.

„Kam Ihre Tochter denn oft nach Hause?“

„Leider nicht. Sie war sehr beschäftigt. Das Leben einer Sängerin ist ja nicht so einfach, wie man sich das vielleicht vorstellt. Und sie hatte ja auch ihre eigene Wohnung, die ihr sehr viel bedeutete.“

„Warum hat sie sich eigentlich keine Wohnung gesucht, die näher beim Theater lag?“, fragte Brauser.

„Sophia legte viel Wert auf ihre Privatsphäre und sie meinte, wenn sie so dicht beim Theater wohnen würde, dann käme nur ständig einer der Kollegen vorbei.“ Reinhilde warf einen Blick zu ihrem Mann hinüber und fügte dann hinzu: „Seit mein Mann so schlimm Asthma hat, bleibt er lieber zu Hause. Aber ich habe sie schon hin und wieder in Passau besucht.“

Auf einmal schien sie eine Idee zu haben. „Möchten Sie vielleicht ihr Zimmer sehen?“

Der Kommissar nickte. Vor allem wollte er raus aus diesem Wohnzimmer, in dem es fast noch mehr nach Tod roch, als in der Wohnung der Tochter, nachdem man sie gefunden hatte.

Gemeinsam stiegen sie eine massive Eichenholztreppe in den ersten Stock empor. Die Stufen waren mit weinroten Teppichhalbrunden belegt. An den weißen, rau verputzten Wänden hingen große goldgerahmte Landschaftsbilder aus der Umgebung und auf dem Absatz eine geheimnisvoll lächelnde Mona Lisa von Leonardo da Vinci. Zu Sophias Zimmer am Ende des Flures gehörte ein hell gekacheltes Bad mit Dusche und Bidet. Der Raum war, genau wie in ihrer Wohnung in Passau, mit hellen Möbeln eingerichtet, hatte rosageblümte Vorhänge und in der Mitte des Zimmers lag ein Flokati. Über dem Bett hing ein Einhornposter, Stofftiere und Puppen mit ordentlich gekämmten Zöpfen auf dem weißen Bettüberwurf schienen die ehemalige Besitzerin nicht zu vermissen. Vor dem Kleiderschrank hing ein Tutu auf einem umhäkelten Holzbügel, an der Wand daneben die dazugehörenden Ballettschuhe – bestimmt die ersten in Sophias Leben. Auf den Brettern des Regals lag kein Krümelchen Staub. Es war das Zimmer eines Kindes, eines kleinen Mädchens, das von einem Prinzen träumte, aber nicht das einer lebenslustigen jungen Frau, die auf der Bühne Karriere machte.

Während Brauser sich umsah, ließ sich Reinhilde Weberknecht schwer aufs Bett sinken und nahm eine der Puppen in den Arm. „Wir hätten sie nicht gehen lassen sollen“, sagte sie mehr zu der Puppe, als zu ihrem Begleiter. „Sie war für so ein Leben nicht geschaffen“, dabei blickte sie gedankenverloren aus dem Fenster in Richtung Fabrikgebäude.

„Natürlich, deshalb wurde sie ja auch Sängerin.“ Mit pfeifenden Lungen stand Karl Weberknecht im Türrahmen und sah den Kommissar aufmerksam an, bevor er ihm erklärte. „Als einziges Kind hätte sie auch das Geschäft übernehmen können. Hinbekommen hätte sie es bestimmt. Sie hat ein glänzendes Abi in Mathe hingelegt, aber wir wollten beide nicht, dass sie in die Firma einsteigt.“

Brauser nickte, wobei ihm nicht klar war, ob das wir beide auch Sophia einschloss. „Und Ihre Tochter hatte das auch nie in Erwägung gezogen?“

„Nein. Ein Neffe von mir hat das Geschäft bereits übernommen.“

Der Alte setzte das Spray an den Mund und nahm einen kräftigen Zug, dann erst fuhr er fort. „Wissen Sie, unsere Senfproduktion ist seit neunzehnhundertvierzehn fest in Familienhand. Anfangs gehörten mehrere Metzgereien dazu und der Senf war eigentlich nur ein Nebenprodukt. Der wurde damals nämlich noch in den Haushalten selbst gemacht, was aber sehr mühsam war. Senfkörner und Blütensaat müssen gemahlen und teilweise entölt werden, bis gelbes und braunes Senfmehl entsteht. Dann kommen Farinzucker, Wasser, Brandweinessig hinzu und natürlich weitere Gewürze, für die jede Familie ihr eigenes Rezept hatte. So wie meine Urgroßmutter. Nur dass die ihren Senf in den Metzgereien portionsweise zur Wurst verkauft hat.“ Der Alte hustete und Brauser hoffte, er würde mehr erzählen. Die Herstellung von Senf hatte ihn schon immer sehr interessiert.

„Und Sie produzieren heute noch nach diesem alten Rezept?“

„Ja. Und nur ganz wenige wissen, welche Gewürze tatsächlich verwendet werden. Der Reifungsprozess ist streng geheim. Aber natürlich nehmen wir nur beste Zutaten. Das Originalrezept befindet sich übrigens im Safe.“

Wieder hustete der Alte und dann huschte ein Schmunzeln über sein Gesicht. „Meine Urgroßmutter hatte einfach das Beste. Die Leute mochten ihren Senf so sehr, dass sie schließlich mit der professionellen Produktion beginnen konnte, allerdings in einer eher bescheidenen Fabrik. Mit den Jahren wurde die Firma dann immer größer. Heute könnte sich niemand mehr vorstellen, seinen Senf im Kochtopf selbst zu machen.“

So wie der Alte das sagte, klang es kein bisschen eingebildet, sondern einfach nur stolz. Wie ein Mann, der sein Leben genutzt hatte, und nun zufrieden zurück sah. „Heute laufen wöchentlich rund eine halbe Million Gläser und Tuben vom Band“, erklärte er abschließend.

„Trotzdem hat sich Ihre Tochter nicht dafür interessiert?“, führte der Kommissar wieder zu seinem eigentlichen Anliegen zurück.

„Unsere Tochter hat getanzt, Geige gespielt und von einer Karriere als Sängerin geträumt. Wir waren in der glücklichen Lage, ihr diese Wünsche zu erfüllen.“

Jetzt besann sich Weberknecht, denn er hatte sich von der Geschichte davontragen lassen und für einen Moment den Grund der Befragung durch den Hauptkommissar vergessen. Er war schlagartig wieder da und fuhr mit milder Stimme fort. „Ich wollte immer nur das Beste für sie. Aber welcher Vater weiß schon, was das Beste für sein Kind ist?“

***

Für die Passauer Bevölkerung war es einfach nur „das Stadttheater“, das da am südlichen Steilhang des Domberges, der Schokoladenseite der Stadt, entlang der Gottfried-Schäfer-Straße lag. Im 17. Jahrhundert war es als Ballhaus für ein beliebtes spanisches Hallenballspiel erbaut worden und hatte dann in seiner wechselvollen Geschichte viele Pächter erlebt. Vom anspruchsvollen Musentempel war es zum mittelmäßigen Theater abgestiegen, in dem Varietés und schlechte Inszenierungen gegeben wurden, bis es wieder zu dem wurde, was es heute war: ein liebevoll restauriertes und modernisiertes Kleinod der Theaterszene.

Schon von unterwegs hatte Hannes sie beim Verwaltungsdirektor angemeldet und so stand dieser, als sie am Nachmittag vor dem Haus anhielten, auf der obersten Treppenstufe, um sie zu empfangen. Die Sonne versank gerade zwischen den Bäumen entlang des Inns, einem der drei Passauer Flüsse, was ein ganz besonderes Schauspiel nach den Tagen im zähen Nebel war.

Lutz Schaffroth schien vom Tod seiner Sopranistin betroffen, wenn auch nicht am Boden zerstört. Die Luft in seinem Büro wirkte so alt wie das Gebäude, obwohl das kleine Fenster, mit Blick auf den Inn, weit offen stand und Franziska ahnte, dass die vielen Zigarettenstummel in seinem Aschenbecher der Grund dafür waren. Der Verwaltungsdirektor war über einen Meter und achtzig groß, trug einen Anzug, der dringend gebügelt werden sollte, und hatte kurze, sehr dunkle Haare. Ob er besonders stark war oder zu Wutausbrüchen neigte, konnte man in diesem Moment nicht sagen, aber schließlich stand der Mann ja auch nicht unter Verdacht.

„Wie konnte so etwas Schreckliches nur passieren?“, fragte er, nachdem alle Platz genommen und seine Sekretärin Kaffee und Mineralwasser angeboten hatte. Er fügte schnell hinzu: „Ich meine, auf der Bühne stirbt man selbstverständlich hundert Tode, aber in der Realität?“ Wie um weitere Gedanken an dieses Thema von sich zu weisen, schüttelte er den Kopf.

„Sie kannten Frau Weberknecht gut?“, fragte die junge Kommissarin und musterte ihn aufmerksam, während sie das Wasserglas in ihren Händen drehte. Es strahlte eine so angenehme Frische aus.

„Was heißt gut? Ich bin seit einem Jahr hier am Theater und da lernt man schon den einen oder anderen kennen. Aber nicht näher, wenn Sie das meinen.“ Schaffroth sprach schnell, beinahe hastig, so als liefe ihm die Zeit davon.

„Nun, wie wir schon am Telefon sagten, Frau Weberknecht wurde erschlagen. In ihrer Wohnung fanden wir aber weder Adressbuch noch Handy. Sie hatte aber doch sicher eines?“

„Äh, ja. Ja, ja.“ Schaffroth schob seine Kaffeetasse ein Stück zur Seite und legte die eben angezündete Zigarette auf dem Aschenbecher ab, um in seinem Adressbuch zu blättern. „Ich habe hier zumindest ihre Handynummer.“

„Ach, würden Sie mir die bitte geben?“ Franziska öffnete ihr grünes Notizbuch und ließ sich die Nummer diktieren.

„Wie war sie denn so?“, wandte sich nun Hannes an Schaffroth, der Franziska ansah.

„Tja, was soll ich dazu sagen. Sophia Weberknecht war eine sehr gute Sopranistin und eine zuverlässige Kollegin. Sie war stets exzellent vorbereitet, pünktlich am Bus, wenn wir auswärts auftraten, und beklagte sich im Vergleich zu manch anderem nie über die Fahrt. Sie kam in der Presse sehr gut an und war sehr beliebt beim Publikum und beim Ensemble. Deshalb ist es sicher ein großer Verlust für unser Theater und womöglich sogar für die gesamte Opernwelt.“ Er machte eine Pause und zog hastig drei, vier Mal an seiner Zigarette, bevor er fortfuhr. „Ich weiß nicht, wie gut Sie mit dem Betrieb eines Theaters vertraut sind?“, fragend sah er die beiden Kommissare an, bis diese unsicher mit den Achseln zuckten. Theater, das war etwas für Liebhaber, für ältere Herrschaften oder einschlägige Studenten. Für Polizisten gab es andere Dinge.

„Nun wir sind eines der kleinsten Zweispartentheater im deutschsprachigen Raum. Dass wir dem Publikum trotzdem eine große Vielfalt an Werken anbieten können, ist nur möglich, weil wir uns das Ensemble mit Landshut und Straubing teilen, wobei in Passau das Musiktheater und in Landshut das Schauspiel zu Hause ist.“ Schaffroth unterstrich seine Ausführungen gestenreich und fuhr hastig fort. „Ein weiterer Punkt ist, dass wir einfach günstiger arbeiten. In der Münchner Staatsoper ist jede Neuinszenierung mit immensem Aufwand in finanzieller, organisatorischer und zeitlicher Hinsicht verbunden. Dort scheut man sich natürlich, selten gespielte Werke anzubieten. Wir in der Provinz können und müssen das, denn unser Publikum möchte ja auch Abwechslung haben.“

Franziska nickte, was Schaffroth als Aufforderung auffasste, fortzufahren.

„Natürlich wird man in Passau nie den Pomp und Prunk eines Münchner Bühnenbildes oder dessen technische Finessen erreichen können, aber die Frage ist doch, ob wir das überhaupt anstreben wollen und sollen. Die Chancen für uns sind andere. Das Fürstbischöfliche Opernhaus bietet einen so einmaligen und intimen Rahmen, in dem das Publikum gewissermaßen hautnah das Geschehen auf der Bühne miterleben kann. Bei uns brauchen Sie kein Opernglas, um die Mimik der Sänger zu erkennen. Der Zuschauerraum, der die Besucher als festliches Gartentheater empfängt, kann direkt in die Aufführung einbezogen werden.“

 

„Sie wollen damit sagen, dass es für die Sänger eine besondere Auszeichnung ist, in Passau aufzutreten?“ Franziska war sich nicht sicher, aber nach den schwärmerischen Ausführungen des Verwaltungsdirektors lag dieser Schluss einfach nahe. Schaffroth lächelte nachsichtig und zündete sich eine neue Zigarette an.

„Na ja, ganz so ist es nicht. Eine ganz wichtige Aufgabe des Musiktheaters in der Provinz ist es, jungen Sängern, die eben ihr Studium vollendet haben, die Möglichkeit zu bieten, sich in großen Partien auf der Bühne zu erproben und zu bewähren.“ Der Direktor drückte seine Zigarette aus, stand auf und zeigte auf einige Fotos hinter sich an der Wand. „So manch großer Star trat in jungen Jahren an unserem Theater auf. Ingeborg Hallstein, Rosel Zech oder Klaus Wennemann zum Beispiel.“

Er setzte sich wieder auf seinen Stuhl und überlegte. Es schien, als habe er den Faden verloren. „Und Frau Weberknecht kam direkt nach dem Studium nach Passau?“

Er holte einen dicken Ordner aus seinem Schreibtisch und blätterte darin. „Nein, sie hat in Nürnberg studiert. Dort hat sie während des Studiums auch schon kleinere Partien am Staatstheater gesungen. Hm, dann hatte sie einen Gastvertrag am Theater in Heidelberg, das ist ein kleineres Theater, und war dann drei Jahre am Theater in Lübeck, bevor sie zu uns kam.“

„Mit wem war denn Frau Weberknecht des Öfteren zusammen? Ich meine, wer war mehr als nur ein Kollege für sie?“, fragte Franziska in die eingetretene Stille hinein, unbeeindruckt der großen Künstlernamen, und brachte den Direktor damit ein bisschen ins Schleudern.

„Also, das dürfen Sie mich jetzt nicht fragen! Ich weiß, dass sie mit unserer Kostümbildnerin Swetlana Hermannova ab und zu einen Kaffee getrunken hat, aber sonst … Da fragen Sie mal besser die Mitglieder des Ensembles.“

„Sind die gerade da?“

Schaffroth warf einen Blick auf seine Uhr „Einige. Wir haben heute Ensembleproben. Um fünf geht es los, und wenn Sie möchten, bringe ich Sie hin.“

Wenn man bei der Kriminalpolizei arbeitet, bleibt es nicht aus, dass man in vielen Häusern ein und aus geht: große Fabriken, kleine Gartenhäuschen, verkommene Wohnungen und elegante Einfamilienhäuser. Das Verbrechen machte vor nichts halt. Ein Theater war Hannes und Franziska allerdings noch nicht untergekommen, und so waren beide sehr gespannt, als Lutz Schaffroth sich erhob, den großen Schlüsselbund von seinem Schreibtisch nahm und sie über die moderne Edelstahltreppe aus dem Verwaltungstrakt durch den großen Redoutensaal, vorbei am Zuschauerraum bis hinüber zur Nebenbühne des Theaters führte.

Umgeben vom tiefen Schwarz der Bühnenrückseite und den Vorhängen rechts und links stand mitten im Raum eine einzelne Tür, auf die ein Herz mit den Buchstaben „G“ und „M“ gemalt war. Auf beiden Seiten der Tür waren Stoffbahnen angebracht, die mit dem hellen Bodenbelag so etwas wie ein Zimmer darstellen sollten. Bei keinem der vorwiegend jungen Leute, die innerhalb oder außerhalb dieser Kulisse herumstanden und neugierig zu ihnen herübersahen, konnte man erkennen, ob es sich um Sänger oder einfach nur um Bühnentechniker handelte. Sie alle waren unspektakulär gekleidet, manche trugen Jeans und T-Shirts oder Pullis, einige sahen aus, als ob sie gar zu einer Straßengang gehörten, und wieder andere hatten einfach eine Jogginghose an.

„Wäre Frau Weberknecht heute auch dabei gewesen?“, fragte Franziska leise, den Blick dem Geschehen auf der Bühne zugewandt.

„Im Prinzip schon.“ Verwundert blickte die junge Oberkommissarin den Verwaltungsdirektor an. Warum war er denn auf einmal so wortkarg?

„Das heißt, Sie müssen sich jetzt eine neue Besetzung für ihre Rolle suchen?“

„Richtig. Aber das ist beim Musiktheater kein allzu großes Problem.“

„Und warum ist das kein großes Problem?“

„Weil wir bereits einen Ersatz haben.“

Franziska nickte und sah erneut zur Bühne. „Woher wussten Sie, dass Sie Ersatz brauchen?“

„Äh, ja also“, nervös fuhr er sich übers kurze Haar. „Sophia hatte Probleme mit der Rolle und da habe ich zugesehen, dass ich eine Zweitbesetzung für sie bekomme.“

„War sie ihr zu schwer?“

„Nein, nein! Zumindest glaube ich das nicht. Aber sie stand in letzter Zeit unter großem Druck. Das ging schon eine ganze Weile so. Vielleicht hat sie sich zu viel zugemutet. Auf jeden Fall war ich mir nicht sicher, ob sie alle Termine absolvieren kann, und da hab ich mich, in weiser Voraussicht sozusagen, nach einer anderen Besetzung umgesehen.“

„Aha. Kam das häufiger vor?“

„Es ist nicht unüblich. Große Rollen haben manchmal zwei Besetzungen. Ich meine, so was kann ja immer mal passieren. Also, ich meine natürlich nicht, dass jemand stirbt, aber ein Ausfall schon. Ja, das schon.“

Franziska nickte.

„Und wo ist jetzt diese Kostümbildnerin?“ „Swetlana Hermannova ist in diesem Stadium mit ihrer Arbeit eigentlich schon fertig. Sie hat die Entwürfe an die Schneiderei gegeben und dort werden die Sachen gefertigt. Sie kommt erst zur Anprobe wieder.“

„Und wo finden wir sie bis dahin?“ Franziska fand es ermüdend, wie sich Schaffroth jetzt alle Informationen aus der Nase ziehen ließ.

„Ich denke, sie ist zu Hause, in Krumau.“

Franziska sah ihn ungläubig an. „Im tschechischen Krumau?“

„Ja, natürlich. Sie stammt von dort. Ihre Mutter ist Kostümbildnerin am Schlosstheater. Waren Sie noch nie dort? Ein herrliches Theater, sehr alt, sehr schön.“

„Ich werde es mir ansehen, aber vorher würde ich gern mit einigen ihrer Kollegen sprechen. Wenn Sie das vielleicht organisieren könnten?“

„Ja, natürlich. Ansonsten hätte ich Ihnen noch den Rest des Hauses gezeigt.“ Unschlüssig nickte Schaffroth zur Tür, die von der Seitenbühne zum Treppenhaus führte. Das Ruhe-Schild war für die Proben nicht beleuchtet.

„Ja, gern. Ach, da fällt mir ein: Als Solistin hatte sie doch sicher auch eine eigene Garderobe?“ Franziska überlegte, ob sie dort vielleicht auch private Gegenstände verwahrte, ein Handy oder vielleicht ein Adressbuch?

„Ich glaube, Sie machen sich da falsche Vorstellungen.“ Der Verwaltungsdirektor stieg bereits die Steintreppe, die in den oberen Stock führte, hinauf. „Wir sind ein kleines Opernhaus, wie ich vorhin schon ausführte. Wir können günstiger arbeiten, müssen aber eben auch sparen. Bei uns gibt es nur je eine Sammelumkleide für Männer und Frauen und natürlich für den Chor und das Orchester. Aber Sie können sich gern alles anschauen.“ Auffordernd zeigte er mit dem rechten Arm in einen schlicht eingerichteten Raum. Ein Tisch mit großem Spiegel darüber und einem Stuhl davor. Alles in hellem Kiefernholz gehalten, wie in einem Klassenzimmer. Nur die Fotos, die an manchen Spiegeln im Rahmen steckten, wiesen auf die Individualität ihrer Besitzer hin.

„Hier ist der Platz von Sophia Weberknecht.“ Schaffroth wollte schon weitergehen, doch Franziska hielt ihn zurück.

„Hatte sie keinen Schrank oder so?“

„Nein, nur diesen Platz. Alles was die Künstler brauchen, haben sie dabei und die Kostüme werden im Fundus in großen Holzkisten aufbewahrt, schließlich müssen sie ja jederzeit auf Reisen gehen können.“ Der Verwaltungsdirektor hatte inzwischen viel von seiner Selbstsicherheit eingebüßt, vielleicht fehlten ihm auch seine Zigaretten. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn und immer wieder fuhr er sich mit der Hand durchs Haar. Fast tat er Franziska Leid, als sie die Treppe nach unten ansteuerten und sie fragte: „Welches Stück proben Sie eigentlich?“