Marionette des Teufels

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„Ich glaube, Sophia war krank.“ Nina Breitmann war noch nicht richtig zur Tür hereingekommen und hatte der Oberkommissarin nur lasch die Hand gereicht, da legte sie auch schon los. Franziska deutete mit der rechten Hand auf den eben erst frei gewordenen Stuhl und sah sie interessiert an.

„Wie kommen Sie darauf?“ „Sie sah nicht gut aus in letzter Zeit, war immer so blass und fahrig, und dann hat sie ja auch immer diese Tabletten nehmen müssen.“

„Tabletten? Davon haben uns Ihre Kollegen ja gar nichts erzählt.“ Franziska beugte sich ein wenig vor.

„Wer sollte Ihnen auch davon erzählen? Carlos? Der ist ein Mann. Männern fällt so was nicht auf. Oder Katharina? Ach, die große Eschenbacher, die achtet doch nicht auf so was!“ Franziska dachte an Carlos‘ Warnung. „Aber Sie, Sie haben darauf geachtet?“

„Ja, natürlich. Ich hab es ihr immer gleich angesehen, wenn es ihr nicht gut ging. Ich musste ihr nur in die Augen gucken. Ich hab ihr dann oft ein Glas Wasser hingehalten und gesagt: Sophia, du musst deine Tabletten nehmen.“

„Und wie hat sie reagiert?“

„Es gab Tage, da hat sie gar nicht hingeschaut, so als wäre ich nicht da, und an anderen Tagen hat sie mich angelächelt und gesagt: Danke, Nina, wenn ich dich nicht hätte.“

„Aber Sie wissen nicht, um welche Krankheit es sich gehandelt hat?“

„Nein, leider. Vielleicht war es ihr ja peinlich, immerhin war sie ein gefeierter Star. Sie bekam ja auch tolle Artikel in der Presse, und einmal war sie sogar im Fernsehen.“

„Hatten Sie Mitleid mit ihr?“

„Nein. Ich meine, die hatte doch alles. Warum sollte sie mir Leid tun?“ Fragend sah sie Franziska an, doch die zuckte nur mit den Schultern, also fuhr sie fort. „Wissen Sie, wie ich mir mein Studium finanziert habe? Ich habe morgens um fünf Zeitungen ausgetragen und bin abends putzen gegangen, und auch heute kann ich mir kaum was leisten und muss jeden Cent umdrehen.“ Franziska nickte, dachte an die schöne Wohnung der Weberknecht, und dass sie sich so was auch nicht leisten konnte.

„Und wegen der Krankheit?“

„Wenn sie ihre Tabletten genommen hatte, ging es ihr ja wieder gut.“ Nina Breitmann überlegte, zuckte mit den Schultern und fügte dann etwas milder hinzu: „Ein bisschen Leid getan hat sie mir vielleicht schon. Die Sophia, die hatte Geld, aber glücklich war sie nicht. Verwöhnt schon. Aber nicht wirklich glücklich.“

„Wie sah es denn bei Sophia mit Männern aus? Hatte sie einen festen Freund? Jemanden, der sie regelmäßig nach der Vorstellung abgeholt hat oder so?“

Die Zeugin zuckte erneut mit den Schultern, sah aus wie ein Schulmädchen bei der Vokabelabfrage. „Also, wenn Sie mich jetzt so fragen“, zur Bekräftigung zuckte sie erneut mit den Schultern, bis auf einmal ihr Gesicht zu leuchten anfing, „doch einmal, da ist sie von jemandem abgeholt worden. Ich war hinter ihr und dem Heinzi, aber der ließ sich so viel Zeit, dass ich ihn nicht richtig sehen konnte. Und wenn Sie mich fragen, dann wollte Sophia das auch nicht. Sie ist ganz schnell mit ihm verschwunden.“

„Sie meinen, sie wollte nicht von Ihnen gesehen werden?“

„Vielleicht wollte sie ja auch nur nicht, dass ich ihn anspreche.“

„Wie sah er denn aus?“, wollte Franziska wissen.

„Hm, groß, breite Schultern …“

„Mit langen Haaren?“ Franziska biss sich auf die Zunge, verdammt – Zeugenbeeinflussung!

Aber Nina Breitmann schien sie gar nicht gehört zu haben: „… irgendwie, ja, wie soll ich sagen, so ganz jung war der nicht mehr.“

Als ihre Zeugin nach einer guten halben Stunde Befragung gegangen war, war Franziska froh, dass Hannes endlich den Kopf hereinsteckte und sich mit zwei Bechern Tee zu ihr an den Tisch setzte. „Ramona war von unserem Carlos ja ganz angetan.“

„Ja, und stell dir vor, er wusste, warum der Schaffroth eine Zweitbesetzung wollte.“ Franziska fasste das Gespräch zusammen.

„Ich sag doch, Sänger sind unberechenbar!“

Franziska nickte, „Vielleicht. Hast du was herausgefunden?“

„Ja. Also, laut der Unterlagen, die mir Schaffroth gegeben hat, war keiner aus dem derzeitigen Ensemble mit Sophia zur gleichen Zeit an einem anderen Theater. Erst in Passau trafen sich ihre Wege.“

Franziska nickte und dachte an das, was sie eben von den Theaterleuten erfahren hatte. „Weißt du, was ich glaube?“ Hannes zog erwartungsvoll die Augenbrauen hoch. „Es ist gar nicht so einfach, ständig in neue Rollen zu schlüpfen.“

„Meinst du?“

Franziska hob den Becher und atmete tief. „Hhhm, herrlich!

Jasmintee?“ Hannes nickte.

„Nina Breitmann?“ „Hm!“ Franziska stellte ihre Tasse wieder ab. „Sie meint, Sophia sei krank gewesen und hätte Tabletten genommen.“

„Hätten uns das die Eltern dann nicht gesagt?“

„Also, wenn ich einen Schnupfen hab, ruf ich auch nicht extra bei Mama an, aber wer weiß. Vielleicht hat sie diese Nina Breitmann ja auch auf den Arm genommen, die scheint eine richtige Nervensäge zu sein. Das ist so eine, die hinten rumstichelt und dann aber doch nichts sagt“, berichtete Franziska.

„Nettes Mädchen.“

„Ja.“

„Glaubst du, sie kommt infrage?“

„Die Breitmann? Das glaub ich nicht, ich meine, die war neidisch auf Sophia, aber deshalb würde sie sie nicht umbringen. Sowie ich das sehe, wäre sie eher gern die beste Freundin gewesen und ist in der Besetzung nicht angenommen worden. Sie sagte, sie wäre gern mal zu ihr nach Hause eingeladen worden, aber Sophia hätte dort niemanden rein gelassen.“

„Woher weiß sie das so genau?“

„Eben.“

„Meinst du, sie war als Stalker unterwegs?“

„Wenn, dann nicht in der Nacht des Mordes, denn sonst hätte sie es mir unter die Nase gerieben.“

„Wenn sie nicht selbst zugeschlagen hat.“

„Dafür schien sie mir nicht kräftig genug. Obwohl …“ Hannes sah sie lauernd an. „Obwohl, Frau Oberkommissarin?“

„Sie hat kein Alibi.“

„Aha.“

„Sie war am besagten Abend allein zu Hause, hat sich in der fünften Wiederholung ‚Bridget Jones‘ angesehen.“

„Au weia.“

„Du sagst es.“

„Und nun?“

„Freuen wir uns auf Heinz Wagenthaler und Katharina Eschenbacher. Wen willst du?“

„Wagenthaler.“

„Ich dachte, du stehst auf die Eschenbacher?“

„Die ist mir unheimlich.“

Franziska lachte herzhaft und befreiend. „Wie das denn?“ Hannes zuckte mit den Schultern. „Was ist mit Mimi Wagner?“

„Die darf nicht, Schaffroth hat angerufen und mitgeteilt, dass sie unabkömmlich sei, weil sie sich jetzt ganz besonders in die Rolle der Gilda einarbeiten muss.“

„Lassen wir so was durchgehen?“

„Nein, du wartest nach der Probe auf sie.“

***

„Warum glauben Sie, kam es dazu, dass Sophia Weberknecht Sie in der Probe so unschön angefahren hat?“

„Ach, das!“ Heinz Wagenthaler lehnte sich entspannt in seinem Stuhl zurück und lächelte Franziska nachsichtig an. „Wissen Sie, ich mach das ja schon ein paar Jahre und so leicht bringt mich da nichts mehr aus der Ruhe. Aber die Sophia konnte tatsächlich sehr ungemütlich werden. Keine Ahnung, warum sie so aufbrauste, ich hab ihr bestimmt nichts getan, und vor allem glaube ich nicht, dass ich sie tatsächlich bevormundet habe. Wie käme ich auch dazu?“ Franziska, die schon wieder an ihrem Bleistift herumkauen wollte, zeigte mit den Händen an, dass auch sie keine Ahnung hatte. „Kamen solche Szenen häufiger bei ihr vor?“

„Hier und da. Es schien, als täte ihr die Rolle der Gilda nicht gut, deshalb hat Schaffroth dann ja auch die Mimi als Zweitbesetzung geholt. Die beiden waren sich dann natürlich auch nicht grün.“

„Sie meinen …“

„Heute würde man das wohl Zickenkrieg nennen, aber so weit gehe ich nicht, und außerdem konnte ich die Sophia da auch verstehen. Man teilt nicht gern seine Hauptrolle. Da ist man dann auch schnell mal ersetzt, verstehen Sie?“

Nur zu gut, dachte Franziska. „War Rigoletto das erste Projekt, das Sie miteinander einstudierten?“

„Nein, wir haben schon in Tosca zusammengearbeitet, aber da war sie ganz anders. Na ja, das war natürlich auch ein Auftritt, der wie für sie geschrieben war. Die Rolle der großen Primadonna Tosca, die liebte und plante und sich mit Leidenschaft Baron Scarpia, dem bösen Chef der Polizei, hingibt, nur um ihren Liebsten zu retten.“ Franziska hörte ihm lächelnd zu. Es schien eine Angewohnheit aller Sänger zu sein, Laien wie ihr die Oper nahebringen zu wollen.

Eifrig erzählte Wagenthaler weiter: „Dabei betrügt Tosca den Betrüger, denn nachdem ihr Scarpia, also ich, versprochen hat, ihren Geliebten nur zum Schein zu erschießen, ersticht sie ihn – also mich – in einer Umarmung. Als der Vorhang nach dem ersten Akt gefallen war, klopfte Sophia mir auf die Schulter und sagte: Nimm‘s leicht, Heinz, ich konnte nicht anders. Ich höre sie noch heute. Und eigentlich ist es aberwitzig, denn auch Tosca stirbt ja am Ende der Vorstellung. Scarpia hatte Toscas Geliebten nämlich doch erschießen lassen, und als Tosca dahinter kommt, springt sie von der Engelsburg in den Tiber und stirbt ebenfalls. Ein großartiges Ende! Alle tot, alle zufrieden, das ist die Oper!“

„In der Oper mag das ja so sein, aber im Fall Sophia Weberknecht gab es keine Vereinbarung mit dem Polizeichef, und sie sprang auch nicht freiwillig in den Tod, sondern wurde erschlagen.“

„Ja, Sie haben Recht, man spielt so oft eine Rolle, dass man die Realität manchmal nicht mehr ernst nimmt.“ Franziska nickte, eigentlich hatte sie ihn gar nicht kritisieren wollen.

„Wann spielte sie die Tosca?“

„Oh, zu Beginn der Spielzeit, im September. Tosca war sozusagen der Startschuss.“

 

„Abgesehen von ihrem cholerischen Auftreten Ihnen gegenüber, gab es etwas anderes, was Ihnen an ihr aufgefallen ist.“

„Nein. An was haben Sie gedacht?“

„War sie vielleicht krank oder hatte sie vielleicht private Probleme?“

„Also, dass sie krank war, ist mir nicht aufgefallen, zumindest hat sie sich nicht beklagt. Das war auch nicht ihr Ding.“ Wagenthaler überlegte eine Weile, bevor er weitersprach. „Ob sie Probleme hatte, kann ich nicht sagen, aber ich glaube eigentlich nicht. Sophia war sich selbst genug im Weg.“ „Haben Sie Sophia Weberknecht je mit einem Mann zusammen gesehen, ich meine nach der Vorstellung?“

„Also, darauf habe ich nicht geachtet. Kann sein. Ich meine, Sophia sah ja wirklich gut aus. Ich denke schon, dass sie Verehrer hatte, und bestimmt gab es einen Mann in ihrem Leben, lesbisch schien sie mir nicht, aber auf so was achte ich auch nicht. Ich bin glücklich verheiratet und habe drei Kinder, und glauben Sie mir, meine Frau sieht vielleicht nicht so toll aus wie Sophia, aber dafür kann man mit ihr Pferde stehlen und das ist es doch, was im Leben zählt.“

„In ihrer Wohnung waren Sie dann sicher auch nicht, oder?“

„Nein, was sollte ich da?“

„Letzte Frage: Wo waren Sie in der Nacht vom 8. auf 9. Oktober?“

„Da war ich zu Hause, ich hatte frei. Wollen Sie meine Frau fragen? Sie erinnert sich bestimmt gut, sie hatte nämlich Geburtstag. Es waren an die zwanzig Gäste da und glauben Sie mir, es wäre aufgefallen, wenn ich da mal schnell verschwunden wäre, um die Weberknecht zu erschlagen, sagten Sie?“ Wagenthaler lehnte sich zurück, sehr lässig, und Franziska fand, dass er das ein wenig demonstrativ tat. Sein Alibi schien ihr zu perfekt.

„Ja, und danach haben Sie dann bestimmt noch ein bisschen aufgeräumt?“

„Na ja, was man halt so macht, wenn man in Feierlaune ist und die Frau Geburtstag hat, Sie wissen schon“, fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu.

Franziska nickte. „Klar! Dann macht es Ihnen sicher auch nichts aus, wenn Sie mir eine Liste Ihrer Gäste erstellen, oder?“

Franziska beobachtete ihn genau und sah, wie sich sein Gesicht veränderte, obwohl er das sicher nicht wollte. Aber mit diesem Wunsch hatte er einfach nicht mehr gerechnet.

***

Auf der schwarzen Seitenbühne stand ein auf alt gemachter Lehnsessel, auf dem Hannes es sich vor einigen Minuten bequem gemacht hatte. Er wartete auf die zweite Gilda, die sich gerade stimmgewaltig von einigen Höflingen des Herzogs von Mantua entführen und in dessen Liebesnest bringen ließ. An den schwarzen Pfeilern und Vorhängen vorbei konnte er hin und wieder einen Blick auf die Singenden erhaschen. Er warf einen Blick auf die Uhr und räusperte sich, woraufhin der Inspizient zu ihm herüber sah.

„Die Szene ist gleich vorbei, dann können Sie mit ihr sprechen.“ Hannes nickte zum Dank für diese Auskunft und legte sich noch einmal seine Fragen zurecht.

„Kannten Sie Sophia Weberknecht schon, bevor Sie für die Rolle der Gilda angeworben wurden?“

Mimi Wagner hatte Hannes einen Stuhl angeboten. Sie selbst saß auf dem Schminktisch der Sammelumkleide mit dem Rücken zum Spiegel und ließ die Beine wie ein Schulkind baumeln. Bei ihrem Anblick versuchte Hannes sich vorzustellen, wie sie im Sack über die Bühne geschleift werden sollte. „Nein, nicht wirklich, aber wir haben uns von Anfang an gut verstanden.“

„Gab es denn gar keine Konkurrenz unter Ihnen? Immerhin wollten Sie doch bestimmt beide mit der Gilda auf der Bühne stehen?“

Mimi Wagner lachte verächtlich. „Aber das hatten wir doch ohnehin nicht in der Hand, das liegt in der Entscheidung des Intendanten.“

„Schaffroth?“

„Sie kennen sich wohl nicht so gut mit der Oper aus, was?“ Mimi blickte ihn ernst an und fügte dann rasch als Erklärung hinzu: „Schaffroth ist der Direktor. Er ist für die betriebswirtschaftliche Seite verantwortlich. Unser Intendant heißt Fritz Mühlbauer, er ist der künstlerische Leiter und auch ein ganz anderer Typ als Schaffroth, obwohl sie natürlich sehr eng zusammenarbeiten.“

„Ach!“ Hannes stand auf und warf einen Blick aus dem Fenster, direkt auf die enge Ballhausstiege, die am hinteren Teil des Opernhauses vorbei hinauf zum Domberg führte. „Kannten Sie eigentlich Freunde von Sophia?“

„Nein, Sie war kein Mensch, der gleich mit seinem Privatleben prahlt.“ Fast wäre Hannes erneut ein „Ach“ herausgerutscht. „Dann waren Sie also nie in ihrer Wohnung?“

„Doch. Wir haben uns dort getroffen, weil wir gemeinsam über die Rolle sprechen wollten. Jeder spielt die Gilda ein bisschen anders, aber bei einer Doppelbesetzung muss man sie natürlich synchron spielen, sonst werden die anderen ja auch total verwirrt.“

„Ja, natürlich. Wann waren Sie denn zuletzt bei ihr?“ Hannes wurde unruhig. Kam jetzt der entscheidende Hinweis?

„Am Dienstag. Nachmittags.“

„Dann waren Sie ja vielleicht die Letzte, die sie lebend gesehen hat.“ Er sah sie eindringlich an. Es verwirrte ihn, dass sie so völlig ruhig blieb, andere würden jetzt sofort nach einem Grund suchen, warum sie die Tote zwar zuletzt gesehen hatten, aber keinesfalls etwas mit ihrem Tod zutun haben konnten.

„Ja, das hab ich mir auch schon überlegt, aber ich kann es nicht ändern und ich wollte es Ihnen auch nicht verschweigen.“

„Hatten Sie an diesem Tag das Gefühl, dass Frau Weberknecht etwas bedrückte?“

„Ja, sie sagte, sie müsse unbedingt noch aufräumen, sie erwarte Besuch. Ich hatte das Gefühl, dass sie sich über diesen Besuch nicht besonders freute, aber ich habe sie nicht danach gefragt. Aber mal ganz ehrlich, vielleicht war das auch nur ein Grund, um mich loszuwerden, denn eigentlich war die Wohnung tipp-topp sauber, also bei mir …“ Sie brach ab und nickte entschuldigend. „Ich musste aber ohnehin weg, ich hatte noch einen Termin beim Gynäkologen, die sind immer schwer zu bekommen und …“, sie sah Hannes schmunzelnd an, „ist nicht Ihr Thema, was?“

Hannes ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Wie lange waren Sie denn bei Ihrem Gynäkologen?“

„Das ist ja das Schlimme: Erst bekommt man keinen Termin und dann lassen sie einen warten! Ich glaube, es war schon fast acht, bis ich rauskam.“

„Und dann?“

„Bin ich zu meinem Freund nach Fürstenzell. Wenn Sie mir einen Stift geben, schreib ich Ihnen seine Adresse auf, die brauchen Sie doch bestimmt.“

Hannes nickte und sah ihr zu, wie sie mit ungelenken Bewegungen Buchstaben auf seinen Block schrieb. Sie lächelte entschuldigend, „Ich hab‘s nicht so mit dem Schreiben, aber das müssten Sie schon lesen können.“

„Als Sie die Wohnung verließen, haben Sie aber niemanden gesehen, oder? Ich meine, jemanden, der wie ein Besucher aussah?“

„Nein, auf der Treppe war niemand und vor dem Haus habe ich nicht darauf geachtet. Wie sieht denn jemand aus, der zu Besuch kommt?“ Hannes nickte. Ja, das war eine berechtigte Frage.

„Hatte Frau Weberknecht Freunde im Ensemble?“

„Ob sie Freunde hatte, weiß ich nicht. Ich bin noch nicht so lange hier, aber eines ist mir gleich aufgefallen: Der Carlos, der hat ein Auge auf sie geworfen. Haben Sie mal seine Augen gesehen? Ach, nein, Sie sind ja ein Mann. Trotzdem, der konnte Sophia anschauen, ich glaube, er war heimlich in sie verliebt. Hat er nichts davon gesagt?“

***

Maria fühlte sich zu ihrer Arbeit im Hospizverein berufen. Sie war einfach gern für andere Menschen da und darum war es ihr auch egal, wie lange sie auf der Palliativstation zubrachte.

Früher hatte sie einen lukrativen Job bei der Volksbank, den sie aber aufgegeben hatte, als ihr Kind unterwegs war. Dort war sie am Schalter mit vielen Menschen zusammengekommen. Eine schöne Zeit. Aber sie hatte auch die tiefsten Nöte armer Seelen kennenlernen müssen und sich oft gewünscht, helfen zu können, was natürlich nicht ging. Heute wusste sie, dass sie das Schicksal nicht ändern konnte.

Die Menschen, zu denen sie ging, waren vom Tod gezeichnet, hatten Schmerzen und Angst. Die Angehörigen waren verunsichert, trauerten und wussten oft weder ein noch aus. An so vieles musste gedacht werden, um bei allem Leid die Würde des Menschen zu bewahren. Maria hatte an vielen Schulungen teilgenommen, um auf ihre Tätigkeit vorbereitet zu sein, aber manchmal traf es sie noch mitten ins Herz. So wie an diesem Freitag, als die alte Frau Linus aus Hacklberg endlich losgelassen und sich von ihrem Leben auf Erden in die Hände Gottes begeben hatte, wie Maria beseelt dachte.

Es war ein langer, schwerer Tod gewesen, der von der armen Frau viel abverlangt hatte, und sie selbst war bis zum späten Nachmittag tapfer bei ihr geblieben. An ihrem Bett sitzend hatte sie ihre Hand gehalten, eine Hand, die immer schlaffer und dünner wurde und aus der das Leben langsam wich, wie Kohlensäure aus einem Limonadenglas, wenn es so lange in der Sonne stand, bis nur noch eine trübe Brühe übrig blieb. Eine leere Hülle ohne Leben. Doch obwohl Frau Linus schon lange nicht mehr konnte, hatte sich ihr ausgemergelter Körper immer wieder aufgebäumt, wollte das Leben nicht preisgeben, so als gebe es noch etwas zu tun auf Erden, etwas, das kein anderer für sie übernehmen konnte. Sie hatte gebetet und gebettelt: „Lieber Gott, nimm diese arme Frau zu dir. Erspar ihr weiteres Leid und lass sie in all deine Herrlichkeit eintauchen. Ich weiß, dass sie nie etwas Böses getan hat, strafe sie nicht länger mit deiner Missachtung, sondern führe sie heim. Amen.“ Und dann hatte Gott sie endlich erhört.

Obwohl es ihr dafür eigentlich schon zu kalt war, hatte sie auch an diesem Tag noch einmal das Rad genommen, was sie vor allem jetzt auf dem zugigen Innsteg bereute. Die feuchte Luft, die vom Wasser heraufstieg, biss ihr geradezu in die Waden, und ihre Finger waren schon ganz steif, weil sie ihre Handschuhe bei Anna im Büro des Hospizvereins vergessen hatte.

Wie war sie nur auf den Vergleich mit der Limonade gekommen, fragte sie sich, während sie tapfer ihr Rad über den Steg schob. So etwas trank sie doch nie. Viel lieber hätte sie jetzt ohnehin einen Becher heißen Tee gehabt. Die arme Frau Linus. Sie hatte sie gemocht, sie hatte sich nie beklagt, hatte ihr Schicksal hingenommen und auf Gott vertraut. Ach, sie war so tapfer gewesen!

Auch Maria war tief gläubig, aber ihr Glaube war schon einmal schwer erschüttert worden, damals, als der Kleine auf die Welt kam und nur wenige Stunden gelebt hatte. Und jetzt wusste sie nicht, ob sie wie die alte Frau Linus wieder ein so großes Vertrauen in Gott fassen konnte.

Aus diesen schwermütigen Gedanken riss sie ein metallenes Klappern. Es hörte sich an, wie wenn eine Rohrzange auf Metall schlug. Sie orientierte sich. Es kam von hinten. Rasch wandte sie den Kopf, konnte in der Dämmerung aber nur eine große Gestalt mit Kapuze entdecken, die langsam näher kam. Maria drängte sich näher an ihr Fahrrad, um Platz zu machen. Aber niemand versuchte, an ihr vorbeizugehen. Im Gegenteil, auch die Schritte wurden langsamer, hielten den Abstand konstant. Maria sah stur nach vorn. Ihr war ein bisschen mulmig bei dem Gedanken, dass da jemand hinter ihr herging. Aber andererseits hatte sie gleich das Ende des Steges erreicht, konnte aufsteigen und davonradeln. Bestimmt war sie mit dem Fahrrad schneller als er zu Fuß. Während sie weiterging, wurde ihr bewusst, dass die Schritte nicht zufällig hinter ihr waren. Sie folgten ihr. Wenn sie ihr Fahrrad langsamer schob, wurden auch die Schritte langsamer, und wenn sie schneller lief, beschleunigten sie ebenfalls, aber warum? Was hatte sie, was der Mann, und sie war sich sicher, dass es ein Mann sein musste, haben wollte? Mit der rechten Hand ließ sie den Lenker los und fuhr damit in die Tasche ihrer gesteppten Allwetterjacke. Sie hatte noch nicht einmal ein Portemonnaie dabei, keine Chance sich freizukaufen.

Bei jedem Schritt hörte sie jetzt seinen Atem, entweder strengte ihn das Gehen an oder der Kerl war erregt. Wovon? Wovon wohl, Mädchen, neckte sie sich, um Ruhe in ihre Gedanken zu bringen, was ihr nicht gelingen mochte. Sie war eine ältere Frau und kein Kerl erregte sich bei dem Gedanken, ihr zu folgen, es sei denn …

Voller Entsetzen hielt sie sich die Hand, die gerade noch in ihrer Jackentasche nach dem Portemonnaie gesucht hatte, vor den Mund – sonst hätte sie vor Schreck laut aufgeschrien.

… es sei denn, er hätte Spaß daran, ihr etwas anzutun. Maria traute sich nicht, noch einmal nach hinten zu sehen, konzentrierte sich nur auf ihre Schritte und seinen Atem, der regelmäßig und laut an ihr Ohr drang. Und eigentlich war es auch mehr ein Stöhnen.

Kaum hatte Maria den Innsteg verlassen, stieg sie so hastig auf ihr Rad, dass sie beinahe auf der anderen Seite wieder heruntergefallen wäre. Da spürte sie, wie jemand den Gepäckträger festhielt, das Fahrrad damit in die Balance zwang und sie gleichzeitig am Losfahren hinderte. Mit eiskalter Hand fuhr ihr die Angst unter den Pullover und kroch unbarmherzig die nackte Haut ihres Rückens hinauf, bis sich ihre kurzen Haare im Nacken aufstellten. Sie wandte den Kopf, die Augen weit aufgerissen, wusste nicht, ob sie schreien oder lieber still sein sollte. Es ging alles so schnell und doch kam es ihr wie eine Ewigkeit vor. Sie hätte später nicht sagen können, ob es Minuten, Stunden oder Tage waren, in denen sie da auf dem Fahrrad festsaß, während der Angstschweiß langsam auf ihrer Haut gefror, bis sie ihn nicht mehr spürte. Und die ganze Zeit hörte sie nichts als seinen erregten Atem, sah nichts als seine Kapuze, die er sich so weit ins Gesicht gezogen hatte, dass sie noch nicht einmal ahnen konnte, ob er alt oder jung war. Endlich bewegte er seinen Kopf. Deutete ihr an, nach vorn zu schauen. Maria wusste nicht warum, aber sie gehorchte, und dann bekam sie einen Schubs, so wie damals, als sie vom Großvater das Radfahren gelernt hatte. Sie wagte nicht zurückzublicken, damals aus Angst, der Großvater könnte wirklich losgelassen haben, diesmal, weil sie fürchtete, der Kapuzenmann könne vielleicht auf dem Gepäckträger sitzen und sie höre seinen erregten Atem nur deshalb nicht, weil ihr eigener vor lauter Anstrengung und Angst so heftig ging.

 

***

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