Deadman's Hostel

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Dem Mädchen wurde mulmig zumute.

Ehe sie auch nur irgendwie reagieren konnte, hatte er sich zu ihr vorgebeugt, sie an den Beinen gepackt und mit einem starken Ruck zu sich auf den Schoß gezogen. Sie fühlte seine Haut, sein warmes Blut in den starken Armen und Beinen, durch Adern pulsierend, und eine beunruhigende Hitze unter sich … etwas zuckte gegen ihre unbedeckten Pobacken.

„Jetzt, wo deine Flennerei vorbei ist … Ist dir eigentlich klar, dass meine Augenringe schlecht weggehen könn’, wenn ’ne kleine Furie wie du mich vor der Zeit aus der Kiste wirft?“, stellte Ace sie mit gespieltem Ernst zur Rede.

„Ähm …“, stammelte sie und es verstärkte sich das ungute Gefühl in ihr.

„Willste dich nicht bei mir entschuldigen?“

Worte wollte er jetzt sicher nicht hören. Sein Geschlecht wurde hart und stieß fordernd gegen sie.

„Ich glaub, du verstehst. Jetzt mach mal brav die Beine aus’nander.“

Sheryl schluckte schwer und bat ängstlich: „Muss das sein? Mir tut noch immer -“

„Schon vergessen, was meine Bedingungen sind?“, erinnerte er sie mit unnachgiebigem Blick. „Sex wie und wann ich will, ohne großes Trara … Das kleine Anheizen gestern war nur der Jungfrauen-Bonus, bevor ich mir was einklemm’. Dein Körper funktioniert richtig, also …“

Unverhofft hob er sie an, warf sie mit den Rücken auf die Matratze, spreizte ihre Schenke und presste sich hinein. Ein erschrockenes Keuchen konnte sie nicht unterdrücken, ebenso das kleine Wimmern, als er sich in ihr vor und zurück bewegte. Jeder Stoß schien ihre Knochen zum Bersten zu bringen.

„So läuft das Geschäft, Süße!“, stöhnte er und steigerte das Tempo. „Genieß’s oder ertrag’s!“

Ihre Finger krallten sich vor Schmerz in das Laken.

Als wenn ich das genießen könnte!, fluchte sie stumm und biss die Zähne zusammen.

3

Nun, immerhin war sie diesmal nicht ohnmächtig geworden. Dennoch fühlte sich ihr Fleisch völlig überdehnt und wund an. Obwohl ihre Anatomie dafür ausgelegt sein sollte, richteten sich ihre Organe nur langsam auf die neuen Umstände ein. Vor allem die Magensäure brannte ihr noch auf der Zunge.

Würde es etwas bringen, ihn zu bitten, sanfter zu sein?

Wohl eher nicht …

Ace stand unter der Dusche. Sheryl hörte das Wasser im Bad rauschen. Bis vor zehn Minuten hatte sie noch unter dem Wasserstrahl gestanden und sich die klebrigen Spuren fortgewaschen. Es widerte sie an. Der ganze Schleim, Schweiß und Gestank.

Ihn schien das Gemisch nicht zu stören. Er genoss den direkten Akt und wusste ziemlich genau, was eine Frau brauchte. Er konnte es ihr bieten, es ihr „besorgen“, bis sie quasi willenlos nach ihm gierte. Die Ekstase seiner Partnerin war ihm dabei unwichtig, selbst wenn sie schrie und sich an seine ach-so-tollen Körper klammerte, um dieses Gefühl zu erleben. Bestimmt hatte er schon mit Hunderten geschlafen, an Hunderten verschiedenen Orten auf Hunderte verschiedene Arten.

Und immer dachte Ace in erster Linie an sich und seine Befriedigung. Zwar kannte sie ihn kaum, doch seine Egomanie war nicht zu leugnen. Der Erfolg bei Frauen war bloß ein bauchpinselnder Nebeneffekt.

Sie dagegen … bezahlte nur ihre Rechnung.

Ob Sheryl etwas vom Sex hatte, stand für ihn nicht zur Debatte. Es war ein Geschäft ohne Emotionen, daher auch kein Hochgefühl für sie als … werdende Frau. Er war fertig, sie hatte das Nachsehen.

Ich lege ja keinen Wert darauf … Doch wenn ich wüsste, was daran so toll sein soll, könnte ich mich vielleicht besser auf ihn einlassen. Dann könnte ich unseren Deal wirklich versuchen, zu genießen …

Hauptsache, er wollte nicht auch noch eine Quittung für die gefüllte Cornflakesschüssel, die sie sich in seiner Küche gemacht hatte. Oder für die Klamotten, die sie aus seinem Schrank geholt und sich angezogen hatte. Nicht, dass er bei ihrem Anblick im losen Bademantel Bock auf eine zweite Runde bekam. So kurz hintereinander würde sie diese Prozedur niemals überstehen.

Sheryl öffnete die rot-weiße Milchpackung, die sie seinem fast leeren Kühlschrank entnommen hatte, und schnupperte vorsichtig daran. Schien nicht schlecht zu sein. Trotzdem trank sie einen kleinen Schluck mit Bedacht. Sie hatte Glück und begoss ihre Maischips.

Cornflakes, Milch, ein paar Eier, einige Konservengerichte – mehr gab Aces Wirtschaft nicht an Lebensmitteln her. So etwas wie Wasser oder gar Saft fand sie überhaupt nicht. Überlebte der Mann tatsächlich nur von Whiskey, Scotch und Zigaretten? In allen Küchenschränken fand sie größtenteils bloß Leere, da sie auf der Suche nach einer Schüssel gewesen war. Die toten Insekten und Spinnen in den Ecken versuchte sie zu übersehen.

Sie spülte einen Löffel im Abwasch ab und begann zu frühstücken. Laut Uhr war es erst kurz nach neun, was das Mädchen sehr überraschte. Sie rechnete eher mit fast Mittag. Ace kam sogar pünktlich zum Dienst – worin auch immer dieser bestehen mochte, denn vor der Rezeption bildete sich nicht gerade eine Menschenmasse.

Die Wasserrohre rauschten nicht mehr und sie hörte ihn husten.

Raucherhusten, vermutete sie ganz stark.

Mit einem Badetuch, welches um die schlanken Hüften geschlungen war, verließ er die Nasszelle … und hob bei ihrem Anblick verdutzt die Brauen, dass sich auf seiner Stirn erneut die Falten bildeten. Sie konnte genau sehen, wie seine Augen über die Camouflage-Hosen wanderten, die bei ihm kurz saß, ihr aber weit über die Knie ging. Ebenso das schwarze T-Shirt mit dem Bandaufdruck, das Sheryl mit einem Knoten und aufgerollten Ärmeln zum bauchfreien Top abgeändert hatte – jedoch hingen beide Klamotten noch ziemlich locker an ihr herunter.

Sie zuckte die Schultern und erklärte die stumme Frage: „Ich finde meine Sachen nicht.“

„Und da nimmste dir meine, okay …“, schnaufte er verdrießlich.

„Was sollte ich sonst tun?“

Er zuckte die breiten Schultern und behauptete: „Klar.

Deine Klamotten sind alle im Wäschesack – die standen vor Dreck. Die Reinigung kommt Mittwoch und Sonntag. Also nehmen die sie morgen mit und du hast sie nächste Woche wieder. Ich bestell dir auch was, so ist’s nicht. Dein Taschenmesser liegt bei mir in ’ner Schreibtischschublade – du rennst hier nicht mit ’ner Waffe rum. Neue Zahnbürsten findeste im Bad …

Aber was zum Geier machste überhaupt noch hier, eh?“

Er verschränkte die Arme vor der Brust und wirkte ungehalten.

„Frühstücken“, sagte sie wahrheitsgemäß. „Ich habe Hunger.“

Ace ging an ihr vorbei ins Schlafzimmer und maulte beim Laufen: „Kannst auch bei dir essen. Hab ich nicht gesagt, du sollst mir fernbleiben, wenn die Sache Sex erledigt ist?“

Sheryl hörte ihn im Kleiderschrank wühlen und versuchte, sich geduckt zu halten, indem sie sprach: „Entschuldigung. Ich dachte nicht, dass ich störe.“

„Störst immer. Wie gesagt, du hättest hier eigentlich gar nichts verloren!“, rief er ihr zu.

„Warum nicht?“, wollte sie wissen.

„Ist ’ne innerbetriebliche Chose. Häng dich bloß nicht rein, sonst fliegste raus!“

Das war sicher sein Ernst.

Sich wieder dem Essen zuwendend, beschloss Sheryl vorerst zu schweigen.

Angezogen, mit Zigarette im Mundwinkel, kam Ace wieder zu ihr in die Küche. Er trug ein erstaunlich sauberes schwarzes Hemd, dessen letzten silbernen Knopf er gerade schloss, zu gleichfarbigen kurzen Stoffhosen und Turnschuhen. Seine Haare fielen durch die Seife locker und luftig. Selbst den Wildwuchs seines Bartes hatte er gebändigt, sowie geölt und die Haut gekremt. So gesehen machte er wirklich einen gepflegteren (sogar gut aussehenden) Eindruck als gestern.

Nur sein Charakter blieb gleich.

„Bist ja immer noch da“, grummelte er auf den Weg zum Kühlschrank.

„Kann ich noch aufessen?“, fragte sie leise und bemühte sich, nicht trotzig zu klingen.

Zischend blies er den Rauch aus und knurrte: „Fein, aber dann geh. Schau dir ’n bisschen das Hostel an, guck dich im Lager um oder verlauf dich in der Wüste – aber geh mir nicht aufn Sack.“

Im Kühlschrank stand eine Flasche Mokkalikör, nach der er griff. Und aus dem Eisfach nahm er ein gefrorenes Glas. Damit kam er zum Tisch zurück, setze sich auf den noch freien Stuhl, dem Mädchen gegenüber, goss das Glas mit dem Likör voll und schüttete einen Schluck Milch dazu. Offenbar genügte ihm das starke Gebräu als Morgenkaffee.

Mit zusammengepressten Lippen blickte Sheryl die Flasche an. Es war kein gutes Zeichen, so früh am Tag Alkohol zu trinken. Sie schaute zu Ace, der allerdings nicht den Eindruck machte, als wolle er unbedingt reden. Eine Zeit lang waren die einzigen Geräusche zwischen ihnen das Knuspern der Cornflakes und das Ticken der Wanduhr.

„Die Ravioli sind weg“, erwähnte er kurz.

„Ja …“, murmelte sie. „Hab sie rausgeworfen.“

„Hab dich nicht drum gebeten …“, hieß bei ihm wohl „Danke“.

„Wolltest du die etwa noch essen?“

„Quatsch … hab sie nur vergessen …“

„Wann?“

„Vorgestern … glaub ich.“

„Hast du keinen Hunger?“

„Nein“, brummte er und warf die Kippe in den leeren Aschenbecher.

„Den habe ich auch ausgekippt“, gestand sie.

Er grunzte. „In der Wüste, wie? Hier gibt’s auch Mülleimer.“

„S-soll ich hier sauber machen, während du arbeitest?“, bot sie ihre Hilfe freiweg an.

„Untersteh dich“, lehnte er sie derb ab.

Tick. Tack. Tick. Tack. Tick. Tack. Tick. Tack. Tick. Tack. Tick. Tack …

„Hast du viel zu tun bei deiner Arbeit?“, wollte Sheryl mehr erfahren.

 

„Mehr als genug“, seufzte er in sein Glas.

„Aber hier steigt doch kaum einer ab, oder?“

„Kümmer dich um dein’ Kram …“

„Sind viele Zimmer belegt?“, überhörte sie seine Worte.

„Kann dir egal sein …“

„Ich habe noch niemanden gesehen – weder im Haus noch auf dem Hof.“

Mit seinen dunkel unterlaufenen Augen blickte Ace sie vielsagend an.

Sheryl verstand: „Halt die Klappe.“

Tick. Tack. Tick. Tack. Tick. Tack. Tick. Tack. Tick. Tack. Tick. Tack …

„Wer bringt die Verpflegung hierher? Und den ganzen Alkohol?“, versuchte sie eine Frage zu stellen, die er ihr beantworten musste.

Ace seufzte und stellte sein leeres Glas ab.

„’n Lieferant kommt einmal die Woche, Donnerstags. Und wenn’s dringend ist, steht er immer bereit. Nimmt auch Bestellungen an. Fallste was außerhalb der Reihe willst …“

„Ich schätze mal, er bringt meistens nur den Whiskey, wie?“

Wieder sah er sie an, als wolle er sie umbringen.

„Sagt der nichts, weil du trinkst? Oder dein Boss?“

„Ich mach meine Arbeit, damit hat sich’s“, sprach er unmissverständlich.

„Du wolltest deinen Boss noch anrufen“, erinnerte sie ihn, „wegen mir.“

„Weiß ich“, blieb seine Miene eisern. „Ich telefoniere mit ihm, wenn du weg bist.“

Sheryl sah in ihre Schüssel, worin nur noch Milch und ein paar restliche Flakes schwammen. Ihr Frühstück war bald beendet und sie musste wie versprochen gehen.

„Woher kommst du eigentlich, Ace?“

Genervt legte er den linken Ellenbogen auf die Tischplatte und hielt sich mit den Fingerknöcheln stützend die Stirn. Sie las endlich die vier Buchstaben darauf halbwegs klar: N, R, O, Z.

„Warum interessiert dich das?“, fragte er mit rauer Stimme.

„Na ja …“, zuckte sie unbekümmert die Schultern, „einfach so halt. Ich komme ja aus Carson City bei Reno. Und du? Hier aus der Gegend?“

Er fingerte nach einer neuen Zigarette und rauchte etwas, ehe er antwortete: „Nein.“ Nach einer weiteren Pause murmelte er: „Aus Detroit.“

Mit großen Augen kommentierte sie: „Das ist aber echt weit weg!“

„Bin mit der Zeit ziemlich viel rumgekomm’“, nahm er es leicht.

„Warst du schon mal in New York?“

Schweigend nickte er.

„Das ist cool!“, lächelte sie und wollte wissen: „Was hast du dort erlebt? Hast du dort gearbeitet? Was ist mit deiner Familie? Deine Eltern, leben die noch in Detroit? Hast du Geschwister? Was sagen die dazu, dass du hier -“

„Ist mir egal!“, unterbrach Ace sie und wies barsch auf die Schüssel. „Biste endlich mal fertig? Muss langsam vor!“

„Entschuldigung“, sagte sie kleinlaut und trank rasch die Milch aus.

Neugieriges kleines Biest, dachte Ace kalt, als ihr Gesicht hinter der Schüssel verschwand. Das wird noch Ärger geben. Und wenn es Beschwerden gibt, bin ich auch dran. Dann ist sie aber fällig. Wenn sie Scheiße baut, werde ich ihr schon klarmachen, dass das nicht so geht.

Gesittet trug Sheryl die Schüssel zum Waschbecken, spülte diese aus und legte sie zum Trocknen ab.

„Wenn du hier rumschleichst“, ermahnte er sie mit festem Blick, „sollteste drauf achten, nie ’n andres Zimmer als dein eigenes zu betreten. Wenn ich aber hör, dass du deine verdammte Nase in fremde Angelegenheiten steckst, werd ich sauer. Und du willst nicht, dass ich sauer werd. Verstanden?“

Mit gesenkten Kopf nickte das Mädchen.

Eingeschüchtert verließ sie seine Wohnung.

Dafür gab es anderen Besuch.

Wer war denn die Kleine?

Ace erhob sich vom Stuhl und streckte sich zu voller Größe. Dabei antwortete er: „So was wie meine Neue. Bleibt ’ne Weile hier wohnen, wenn alles klargeht.“

Junge, biste bescheuert? Die ist noch fast ’n Kind! Wenn das einer rauskriegt, landeste im Knast!

Er verdrehte die Augen und winkte ab. „Wär nicht das erste Mal. Außerdem ist die Kurze alt genug. Spätestens irgendwann.“

Na, auf deine Verantwortung …

Übrigens wartet draußen Kundschaft und Ellie sucht dich. Heute ist’s angeblich ’ne Ratte.

„Bullshit, sag ich dir“, fluchte Ace, „die Alte kann warten.“

Mit zwei Schachteln Zigaretten und einer vollen Flasche Bourbon betrat er sein Büro. Die ersten Gäste standen schon vor der Tür und glotzten – unwissend, was denn nun mit ihnen geschehen würde – durch die Scheibe. Da durfte er wieder vielen Deppen erklären, wie der Hase wirklich läuft. Er stellte seine Utensilien auf dem Tisch ab, ging zur Außentür, nahm sein selbst gemachtes Schild weg und öffnete offiziell für die Besucher. Die stolperten beinah über die Türschwelle.

„Ein’ Moment, ja? Einer nach dem andren, nicht drängeln!“, wies er sie deutlich an und richtete ihre glasigen Blicke auf das Sofa. „Setzt euch! Ich hab noch ’nen Anruf zu machen. Dann geht’s los.“

Während die neuen Mieter teils stumm, teils unter Gemurmel gehorchten, ging er zum Schreibtisch zurück, griff sein Mobiltelefon und wählte die Nummer von Mister Black Deadman.

Und ich befürchtete schon, meine Namen wären einfallslos, dachte er zynisch von seinem Chef.

„Ja?“, meldete sich nach drei Tönen die abscheulichste Stimme des ganzen Universums am anderen Ende der geschalteten Verbindung. Eine Stimme, die jedem noch so gestandenen Mann das Herz in der Brust erstarren ließ. Für gewöhnlich.

„Tag“, grüße Ace dagegen leichthin, „Abteilung Arizona hier. Ich hätte ein kleines Anliegen.“

„Dienstlich?“

„Eher privat.“

In der geliehenen Kluft, den leeren Rucksack unter dem Arm, schlenderte Sheryl quer über den verlassenen Innenhof. Noch immer barfuß, fühlte sie den Sand zwischen ihren Zehen kratzen.

Sie widerstand dem mächtigen Drang, zurück zur Rezeption zu gehen und durch die Fensterscheiben Ace bei der Arbeit zu beobachten. Irgendwie konnte sie sich nicht vorstellen, dass er so viel zu tun hatte.

Womit denn? Hätte sie gestern Abend nicht selbst die Lichter in den Wohnungen brennen sehen, würde sie glauben, hier wäre kein Mensch. Vielleicht waren ihre Sinne auch nur von der Hitze getäuscht … oder Ace war im Haus herumgerannt und hatte dort und da das Licht eingeschaltet – was ihr ziemlich dämlich vorkam.

Gut, wenn er das jeden Abend machen würde, wäre das zumindest eine Erklärung für seine Fitness. Bei dem schlechten Lebenswandel, den er an den Tag legte, wunderte sie sich wirklich über den Körper, auf welchen er derart stolz war. Am Ende arbeitete er jetzt überhaupt nicht, sondern trainierte in aller Seelenruhe für sein Ego.

Ihre Gedanken kreisten auch um das Gespräch, das sie in der Küche geführt hatten. Es hatte schon viel über ihn verraten. Mit seiner Familie stand er auf Kriegsfuß und musste Detroit verlassen haben, um sein altes Leben, seine Kindheit, weit hinter sich zurückzulassen. Was war wohl der Auslöser für den Streit?

Vielleicht schlechte Noten. Zu hohe Erwartungen waren oft ein Grund für Konflikte und Sheryl hatte Probleme, in Ace einen guten Schüler oder gar College-Absolventen zu sehen. Er schien keineswegs dumm zu sein, weil er im Beruf kaufmännische Fähigkeiten vorwies. Dennoch glaubte sie nicht, dass er ein einfacher Junge gewesen war. Die Lehrer an seiner Schule hatten bestimmt ganz schön mit ihm zu kämpfen und wenn es in der Schule nicht funktionierte, führte das zu Krach im Elternhaus. Ob er davor in die Wüste floh?

In der Hofmitte blieb das Mädchen stehen und sah sich um. Hinter keinem der unzähligen Fenster bewegte sich ein Gast. Niemand sah nach draußen oder lehnte sich gar hinaus. Sie hörte keine Musik, keine Stimmen. Gerade mal das Holz vom Schild des Hostels arbeitete leise knarzend im warmen Wind.

Das ist die gähnende Einsamkeit … Kein Wunder, dass Ace so nuschelt. Ohne Kontakt zu anderen Menschen verlernt man das saubere Sprechen.

Wie sie so unschlüssig herumstand, durchfuhr Sheryl plötzlich unerwartet ein kaltes Frösteln. Mit schnellen Schritten lief sie zur Treppenhaustür, um nach oben in ihr Zimmer zu gelangen.

Dort angekommen atmete sie erst einmal kräftig durch und sortierte ihre Gedanken. Wahrscheinlich hatte sie das verlorene Gefühl erschreckt. Das Mädchen ließ sich in den Sessel fallen, legte die Tasche auf dem Boden ab und betrachtete eingehend die Zimmerdecke. Eine Leuchte mit blauem Glaslampenschirm hing dort.

Das war jetzt ihre Lampe. Sie saß in ihrem Sessel. Dort stand ihr Bett.

Alles in diesem Raum gehörte nun ihr. Solange sie mit Ace Sex hatte.

Sheryl stand auf und begutachtete ihre Umgebung genauer. In den Küchenschränken fand sie natürlich keinen essbaren Inhalt, aber ein paar Utensilien. Ein wenig Gästebesteck, einen Topf, eine Pfanne, zwei Teller – flach und tief – und eine Tasse. Obwohl genug Platz vorhanden war, befanden sich die Dinge in einem Fach. Am Spülbecken betätigte sie kurz den Hahn, sah zu, wie das Wasser im Abfluss verschwand und schloss die Leitung dann wieder. Der kleine Kühlschrank war nicht in der Steckdose. Sobald sie etwas zum Essen besaß, würde sie ihn in Benutzung nehmen.

In dem Kleiderschrank im Wohnbereich fand sie jeweils zwei weiße Bade- und Handtücher. Im Bad selber gab es kleine Fläschchen mit Duschgel und Haarlotion, Handseife und verschiedene Salben. Auf dem Waschbecken stand ein nagelneuer Zahnputzbecher, eine noch abgepackte Zahnbürste und die passende Krem dazu. Und im Gegensatz zu Aces Wohnchaos fand sie keinerlei tote Tiere.

Zufrieden schüttelte sie das Laken ihres Bettes auf und legte sich wieder hin. Es schadete sicher nicht, noch etwas Zeit zu verschlafen.

Der Kugelschreiber tanzte über das Papier.

Rauchend füllte Ace den Vertrag zusammen mit dem Kunden aus. Es war bereits das dritte Formular an diesem noch so frühen Arbeitstag. Auf dem Sofa saßen weitere vier Personen und warteten geduldig, bis sie an die Reihe kamen. Sie hatten ja alle Zeit der Welt …

Er machte eine kurze Pause, atmete durch und wechselte gelassen beim Schreiben die führende Hand. Mit einem Lockern der Schultern setzte er von Links an und schrieb genauso gut wie vorher mit Rechts. Es war von Vorteil, in seinem Beruf beidhändig zu sein.

Wo die Kleine wohl rumgeistert?, fragte er sich zum x-ten Mal.

Stimmt etwas nicht?, fiel es scheinbar auf, dass er mit dem Kopf woanders war.

„Schon okay“, versicherte er und arbeitete weiter.

Na ja … solange sie mich nicht verfolgt, kann es mir doch wurscht sein, oder?

Etwas über zwei Stunden döste Sheryl noch vor sich hin, dann weckte sie der Durst. Da sie noch nicht wusste, wo Ace die Reserven versteckt hatte, trank sie mit der Tasse Leitungswasser und erfrischte sich auch gleich das Gesicht. Im Zimmer staute sich die Wärme. Eine Klimaanlage suchte sie vergebens.

Im Korridor wiederum war es kühl. Sheryl überlegte, ob sie einen Durchzug riskieren sollte, entschied sich aber dagegen. Sie hatte schlicht Angst um ihren neuen Besitz. Wer nichts hatte, konnte nichts verlieren.

Ohne große Erwartungen verließ das Mädchen ihr Zimmer und ging den Flur entlang. Weil es nirgends eine Form der kleinsten Dekoration gab, die Zimmer aber gut beschriftet waren, konnte sie sich nur schwer verlaufen. Ihr Raum befand sich in der Mitte des Us und die beiden Seitenarmen wirkten exakt gespiegelt. Insgesamt gab es auf der zweiten Etage sechzig Türen, wovon bloß vier in ein Treppenhaus mündeten und zwei für das Reinigungspersonal bestimmt waren. Demnach gehörten die restlichen Zimmer den zeitweiligen Besuchern des Hostels. Die Zahl allein kam Sheryl reichlich groß vor.

Noch größer wurde ihre Überraschung, als sie die Wohnetagen nach oben hin zählte. Sieben. Sieben volle Etagen für Gäste? Wenn ihre bescheidenen Kenntnisse in Mathe nicht völlig versagten, waren das gut dreihundertachtundsiebzig Räume. Ihren ausgenommen, dreihundertsiebenundsiebzig sehr stille Räume, denn kein einziger Mensch zeigte sich ihr. Niemand war im Flur oder im Treppenhaus, aus keinem Zimmer kamen Stimmen oder Bewegungsgeräusche. Ace und sie mussten die einzigen Bewohner des Gebäudes sein.

Neugierig öffnete Sheryl die letzte Tür nach oben und fand sich auf dem Flachdach der Herberge wieder. Frischer Wind blies durch ihr Haar und zerzauste es. Vorsichtig schritt das Mädchen zum Rand der Plattform und lugte vorsichtig über das Geländer in den Hof hinunter. Die Höhe schlug ihr auf den Magen. Rasch zog sie sich zurück und schaute stattdessen in die Ferne.

 

Um sie herum gestaltete sich die Wüste. Ein paar steinige Hügel im Norden, ja, doch sonst gab es augenscheinlich nur Sand, ein paar vertrocknete Büsche und blassgrüne Kakteen. Der Highway zog sich wie ein schwarzer Strich durch das gelbe Land. Am Horizont flimmerte die Hitze und Sheryl glaubte, eine Stadt zu erkennen. Zumindest Häuser. Oder es war eine Fata Morgana, sie wusste es leider nicht.

Viele Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf.

Das Deadman’s Hostel war tatsächlich riesig. Es erschien ihr fast unmöglich, dass jemand, der auf der Straße unterwegs war, es nicht sehen konnte. Normalerweise würden diese hohen Mauern doch schon meilenweit ins Auge fallen. Wieso hatte auch sie vorher nichts gesehen? Der eigentümliche Name war ihr unbekannt. Im „Paradise“ oder sonst wo hätten Flyer und Visitenkarten ausgelegt sein können. Doch es gab keine Werbung! Und welche Hostel-Kette konnte schon auf diese verzichten?

Dann diese Einöde. Entweder musste das Hostel gut besucht sein – als einzige Anlaufstelle in der Umgebung – oder aber es verirrte sich niemand hierher. Über dreihundert Zimmer konnten doch niemals alle ausgebucht sein? Eine Herberge von dieser schieren Größe in einer gottverlassen Gegend grenzte an wirtschaftlichen Irrsinn.

Ihr war schleierhaft, wie Ace es hier aushalten konnte. Allein verantwortlich für all diese Räume und mit einer Arbeit beschäftigt, die eigentlich keine Früchte tragen konnte. Auf Dauer musste diese Situation einem Menschen ganz schön aufs Gemüt schlagen. Vom Verstand ganz zu schweigen. Vielleicht betrank er sich deshalb bereits am frühen Morgen.

Würde Sheryl sein Schicksal teilen?

Sie war schließlich mit ihm abgeschnitten vom Rest der Welt. Beide dienten sich nun als alleinige Gesellschaft. Im Grunde konnten sie tun und lassen, was sie wollten, solange jeder von ihnen seinen Willen bekam. Ace würde ihr auch kaum irgendwelche erzieherischen Grenzen setzen, dessen war sie sich bewusst. Es war ihre Entscheidung, ob sie das denn wollte.

Im Hostel besaß Sheryl Zuflucht und Freiheit gleichermaßen, ohne irgendwelche Einschränkungen. Jedoch erschreckte sie eben das. Sie musste für sich selbst die Regeln festlegen, wenn sie nicht in dieser Weite den Kopf verlieren wollte. Eine Struktur musste her, ein bestimmter Ablauf. Eine Aufgabe. Egal wie sinnlos sie auch sein mochte …

Ace wüsste möglicherweise etwas. Allerdings wollte sie ihn nicht stören, ehe seine Schicht rum war. Und wenn heute Samstag war, würde sein Tag spät werden.

Sheryl verbrachte eine gute halbe Stunde damit, auf dem Dach zu stehen. Während sie in ihrer Fantasie Pläne fasste und Spekulationen verfolgte, betrachtete sie die Fernstraße. Gerade mal ein Auto fuhr in dieser Zeit am Hostel vorbei.

Ansonsten war dort draußen keine Menschenseele.

Die Sonne trieb das Mädchen wieder rein ins Haus.

Nun stieg sie hinunter ins Erdgeschoss und sah sich dort in den Gängen aus Langeweile um.

Anders als der Gästebereich, war dieser Teil des Hostels bloß zweckmäßig gehalten. Auf steinigem Boden waren die Wände nur notdürftig verputzt und die Deckenbeleuchtung eher spärlich, was dem Flur ein düsteres Erscheinungsbild verlieh. An den wenigen eisernen Feuerschutztüren konnte sie ablesen, wozu die dahinterliegenden Räume dienten, und wenn die Pforten nicht verschlossen waren, warf sie einen Blick hinein.

Die zuständigen Sektionen für Wasserleitungen, Heizungsrohre und Elektronikversorgung waren vor ihren Übergriffen sicher. Teils aus Desinteresse, aber auch eben wegen des Schlosses.

Im mittleren Areal traf sie auf eine große Halle, die scheinbar als Garage und gleichzeitig Werkstatt diente. Neben einer Werkbank, verschiedenen Werkzeugen, Benzinkanistern, zwei Mülltonnen, alten Ersatzreifen, einem metallischen Schrank, einem Bohrer und vielen anderen technischen Gerätschaften, von denen sie wenig Ahnung hatte, fand sie ein blaues Motorrad (laut Aufschrift eine Yamaha Super Sport), das unter einer Abdeckplane abgeschlossen stand.

Dass die Maschine Ace gehörte, nahm sie stark an: Auf dem Tank klebte ein Pik-Sticker. Sie war im guten Zustand, ihr trunksüchtiger Besitzer musste sie erstaunlich gewissenhaft pflegen – was die Ölflecken von gestern erklärte. Bevor der aber später ihre Fingerabdrücke auf dem glänzenden Lack entdecken würde, lenkte Sheryl ein Geräusch ab.

Am anderen Hallenende öffnete sich quietschend eine Tür.

Verwundert ließ sie die Plane wieder über das Motorrad fallen und näherte sich dem Durchgang, der in einen weiteren, zwielichtig beleuchteten Abschnitt führte. Das Mädchen untersuchte kurz das Schloss und vermutete einen kleinen Defekt, gepaart mit einem Luftzug. Nach einem seichten Schulterzucken lief sie durch das Dunkel.

Der Korridor brachte sie bald zum interessantesten Raum des ganzen Hostels: dem Lagerbereich.

Mehrere hohe Regale standen dort herum und beinhalteten alles, was sie für ihre eigene Wohnung brauchte. Das meiste waren konservierte Lebensmittel in Dosen- und Glasform, aber auch abgepacktes Trockenfleisch. Teigwaren und Fertiggerichte konnte man schnell mit heißem Wasser in Essbares umwandeln. Aus einem Getränkedepot holte sie sich eine Flasche Limonade, deren Inhalt ein Segen war für ihre Kehle.

Ein anderer Teil des Inventars bestand aus unterschiedlichen Haushaltsgegenständen wie Geschirr, Kochutensilien, Hygieneartikeln und Schreibwaren. Dazu gab es Bücher, Bücher und noch mehr Bücher. Lesen schien die einzige Freizeitbeschäftigung im Deadman’s Hostel zu sein. Gut, vielleicht auch Schreiben und Malen, wenn man denn dazu Talent besaß. Sheryl seufzte und besah sich die bunten Buchrücken, die mehr oder weniger von Benutzung sprachen. Der Welt der Buchstaben gegenüber war sie zwar nicht abgeneigt, doch bisher hatte sie ihre Tage anderweitig verbracht. Das würde sich nun ändern müssen …

Sie griff nach einer der leeren Pappstiegen, die sich seitlich stapelten und nahm, was sie benötigte aus den Fächern. Im hinteren Bereich des Lagers fand sie sogar einen Kühlraum für Tiefgefrorenes. Da dieser aber abgesperrt war, begnügte sie sich mit dem Gebotenen.

Vorsichtshalber schrieb das Mädchen auf einem Zettel eine Liste aller Dinge, die sie entnommen hatte, und wollte diese später Ace geben, damit der über ihren „Einkauf“ Bescheid wusste.

Ace goss sich das Glas bis zum Rand voll und trank einen kräftigen Schluck.

Bisher wurde er von fünf Personen gestört, die ihn darauf aufmerksam machen wollten, dass Sheryl sich im Haus herumtrieb. Er überlegte, ob er nicht ein Schild aufstellen sollte. „Achtung, frei laufende Göre!“, oder so.

„Hat sie was angestellt?“, war seine einzige Gegenfrage, doch offenbar hielt sich die Kleine an seine Vorgaben. Dass sie sich im Lager rumtrieb, beruhigte ihn. Somit versorgte sie sich selbst, statt bei ihm angekrochen zu kommen und weinerlich um Hilfe zu betteln. Er hatte genug zu tun und wollte sich nicht auch noch um sie kümmern.

Was seine Kunden betraf, so sollten die sich an die dauerhafte Anwesenheit des Mädchens gewöhnen. Sheryl würde vorerst bleiben. Ob die Leute wollten, oder nicht.

Was ist mit den Anderen?

Er atmete rauchend aus und trank noch einen Schluck.

Na, erst mal sehen. Die müssen es ja nicht wissen …

Der Kühlschrank brummte.

Sheryl stopfte dessen bislang leere Fächer mit Eistee, Limonade, Butter, Toastbrot, Salami, Käse und Marmelade voll. Im Küchenschrank lagerte sie ein paar Konservendosen und Nudelgerichte. Zumindest für die nächsten Tage sollten diese Vorräte reichen. Ihre „Einkaufsliste“ legte sie auf dem Beistelltisch bereit. Laut Uhr war jedoch noch sehr viel Zeit, eh Ace Feierabend hatte.

Also setzte sie sich in den Sessel und nahm eines der Bücher zur Hand, welches ihr interessant genug schien, gelesen zu werden. Es handelte sich um einen tragischen Liebesroman. In der Schule hatten viele ihrer Freundinnen von dieser Geschichte geschwärmt, seit sie mit Starbesetzung verfilmt im Kino lief. Ein gut aussehender, doch leidgeplagter Junge – etwa in ihrem Alter –, der sich nach Anerkennung sehnte und verzweifelt versuchte, das Herz des schönsten Mädchens der Stadt zu erobern.