In die grüne Tiefe hinab

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

5

Im Wandel

Es war eine fürchterliche Nacht.

Sie träumte konfuses Zeug zusammen. Eine weiße Riesenschlange hatte sie verfolgt und verschlungen. In ihrem Hals fiel sie wie in einen bodenlosen Schacht. Endlich am Grund angelangt, erwartete sie eine mit Speichel benetzte, fleischrote Grube, gespickt mit Fangzähnen. Die Wände wurden schwarz und goldgelbe Augen öffneten sich in einem schwebenden Schädel, welche sie hasserfüllt ansahen. Ein kalter Schwall Wasser schwemmte das Mädchen davon, eine Gischt aus blanken Knochen, und dann hörte sie die traurigen Stimmen ihrer Eltern, die aus einem grellen Licht heraus Unas Namen riefen.

Als sie erwachte, fühlte sie sich wie gerädert. Ihre Liege war halt nur eine Steinbank. Mit etwas Moos gepolstert.

Hoffentlich entsorgt bald wirklich jemand eine Matratze, dachte sie müde und rieb sich die Augen.

Die Dunkelheit war am Schwinden. Demnach schien oben die Sonne.

Una betrachtete ihre Behausung bei klarerem Licht.

Kein Wunder, dass sie so schlecht geschlafen hatte. Was sie für ein Wohnzimmer gehalten hatte, erinnerte jetzt mehr an einen alten Schweinestall. Am Ende war die karge Liege hier die blutige Schlachtbank. Vielleicht wäre ein Ortswechsel angebracht. Sie sollte den frühen Morgen nutzen, um etwas Angenehmeres zu finden.

Ob Sharik wusste, worauf sie sich gebettet hatte? Wenn ja, hätte er ruhig etwas sagen können. Oder hatte er mit Absicht geschwiegen, um ihr eins auszuwischen?

So ein unsensibler Klotz …

Una packte ihre alte Jacke sowie die Moosdecke und verließ das Schlachthaus.

Im Algenwald war es still. Fische und Lurche schliefen wohl noch und zwischen den Ruinen huschte nichts umher, das sie nach einer gemütlicheren Unterkunft hätte fragen können. Hypnotisierend wanden sich die Pflanzenstängel in der leichten Strömung. Wasserpest versperrte ihr meterhoch die Sicht.

Doch sie erinnerte sich, dass in diese Unterwasserwelt niemand der Schwerkraft gehorchen musste. Somit sprang sie wie ein Frosch auf eine bröckelnde Hausmauer und stieg höher, um sich einen Überblick zu verschaffen. Wie leicht ihr das fiel. An Land hätte sie diese Akrobatik vergessen können. Es fühlte sich wirklich wie ein Spaziergang auf dem Mond an.

Auf dem höchsten Punkt der Mauer angekommen, wagte sie einen weiteren Absprung, quer rüber zu einem anderen Gebäude. Oder das, was davon übrig war. Eine nächste Strecke schwamm sie, weit über dem Boden. Ihr Pullover, der darunter sitzende Schlafanzug und die Jeans blähten und verschoben sich durch die Wassermassen. Ein Badeanzug wäre praktischer gewesen.

Über zehn verfallene Häuser konnte sie zwischen dem wuchernden Grünzeug noch einigermaßen ausmachen. Sie fand sogar eine gusseiserne Glocke wie von einer kleinen Dorfkirche. Treppenstufen, letzte Überbleibsel von gepflasterten Wegen, ein alter Brunnen, alles von Moos und Kraut überwuchert und von Jahrzehnten abgetragen. Oder gar Jahrhunderten …

Im Westen ein Dorf. Und nordöstlich lag Shariks Graben. Ob er dort unten wieder schlief?

War er glücklich, so viel Leid über diese bedauernswerten Menschen gebracht zu haben? Was hatten die Dorfbewohner ihm getan, dass sie seinen Zorn auf sich zogen? Oder hatte er das Dorf aus einer gemeinen Laune heraus vernichtet? Zuzutrauen wäre es ihm. Die Moral „Leben und Leben lassen“ kümmerte ihn nicht.

„Guten Morgen, Una!“, rief plötzlich Penina und die Karausche kam hurtig auf sie zugeschossen.

„Guten Morgen!“, grüßte Una zurück und erschrak sogleich. Ihre Stimme! Sie klang nicht mehr dumpf! Sie war klar und verständlich, wie die der Fische, Frösche, wie die des Wassermanns. Wieso?

„Oh, was seh ich?“, fragte Penina schelmisch und zwinkerte ihr zu.

„Was?“

Wollte sie das echt wissen?

„Du hast dich verändert“, sagte die Freundin, „fühl mal deinen Hals.“

Vorsichtig fasste sich Una an die Kehle. Diese fühlte sich nicht anders an als sonst. Aber Penina würde nichts sagen, wenn alles normal wäre. Sie griff sich an die Seiten, knapp unterhalb der Ohren, wo bei Sharik die Kie-

Oh Gott!

Ihr blieb der Schrei im Hals stecken. Sie hatte es gar nicht bemerkt. Hatte ganz selbstverständlich geatmet, wie immer, ohne zu bemerken, dass ihr über Nacht neue Organe gewachsen waren. Ein schuppiger Kiemendeckel am Hals, dahinter die roten Fasern, eben wie bei Sharik. Wasser strömte in sie ein, Sauerstoff wurde gefiltert. Es geschah ganz von allein, als hätte sie nie eine Lunge besessen.

Hektisch geworden betrachtete sie ihren Körper noch mal genauer – nicht, dass ihr weitere Veränderungen entgangen waren! Hatte sie irgendwo noch mehr Schuppen? Waren ihre Zähne spitz? Hatte sie Schwimmhäute zwischen den Fingern? Algen in den Haaren?

„Was bist du so nervös?“, lachte die Fischfrau ungläubig. „Ist doch völlig legitim, dass dein Körper sich seinem neuen Zuhause anpasst. Das muss dir doch keine Angst machen.“

„Ach nein?“, wurde Una fast hysterisch und ihre Kiemen arbeiteten heftig. „Warst du nicht auch etwas verwirrt, als du plötzlich ein Fisch warst? Aber immerhin warst du es gleich und musstest nicht zusehen, wie du langsam immer menschenunähnlicher wurdest! Es ist ein Unterschied, ob du ins kalte Wasser geschmissen wirst, oder Stück für Stück vorwärtsgehst! Letzteres ist ziemlich quälend!“

„Nun, so hast du aber auch Zeit, dich daran zu gewöhnen“, nahm Penina ihr den Ausbruch nicht krumm.

Diese Geister sind echt durch nichts zu erschüttern, seufzte Una für sich und kam etwas zur Ruhe. Alle Aufregung würde ja nichts bringen. Sie würde eine Nixe werden, daran bestand kein Zweifel. Und die Natur fragte sie auch nicht, ob sie das wollte. Es würde einfach passieren.

„Wie geht es dir denn sonst so an diesem herrlichen Morgen?“, fragte die Karausche fröhlich gestimmt. „Ich glaube ja, heute wird schon ein richtig warmer Frühlingstag.“

Vergisst man alle Sorgen, wenn man schon einmal gestorben ist?

Una atmete erneut durch, hörte auf an ihre Kiemen zu denken und sagte: „Ich suche noch einen guten Platz zum Schlafen.“

„Was ist denn mit dem Haus gestern?“

„Ich bekomme Albträume in Schweineställen“, war ihre knappe Antwort.

Penina zuckte kurz mit der Rückenflosse. „Na ja, okay, verständlich. Aber was schwebt dir denn so vor?“

Eigentlich wollte sie es nicht wissen. Denn wenn sie ihn offenbar nicht kümmerte, wieso sollte sie sich mehr um ihn einen Kopf machen? Dennoch fragte sie: „Wie ist es denn bei Sharik?“

„Im Winter schläft er ja bekanntlich im Graben“, gab Penina ihr freiweg Auskunft, „nah bei seiner Quelle und unbehelligt von jeglicher Art Störung. Ab Frühling haust er auf einem kleinen Hang über dem Graben. Er ist von hohem Laichkraut abgeschirmt und mit Wassermoos gepolstert. Sharik ist halt alt und bereits erfahren in Sachen Bequemlichkeit.“

„Wie alt genau?“

Jetzt schien der Fisch ernsthaft zu überlegen und atmete schließlich durch. „An die … ich glaube, er geht auf die fünfhundert Jahre zu …“

Una pustete kräftig aus.

„Er zählt ja nur die Jahre, er altert doch nicht!“, war Penina gleich alarmiert. Sie befürchtete anscheinend, dass ihre Offenheit den Herrn vom See in ein schlechtes Licht rücken und ihre Meinung über ihn negativ beeinflussen könnte. Zu spät, dafür sorgte er schon selbst.

„Bitte, er sieht ja nicht so aus!“

„Nein, aber er benimmt sich wie ein störrischer alter Knochen“, bemerkte Una unverblümt.

„An seinem Benehmen kann ich nichts ändern“, gab ihr Gegenüber zu, „jedoch, wenn du besser schlafen möchtest, solltest du seinem Beispiel in mancher Hinsicht vielleicht folgen. Du kannst bloß von ihm lernen.“

„Aha. Und wer hat ihm Unterricht gegeben?“

Penina zuckte wieder die Flosse. „Niemand. Ich denke, er hat sich alles selber beigebracht.“

„Auch, wie er Menschen tötet?“, fragte Una ernst.

„Das bestimmt auch.“

„Wie viele hat er auf dem Gewissen?“

„Ich bin mir nicht sicher, ob er da ein Gewissen hat. Hast du eins für jede Kuh, die du gegessen hast?“

Una stöhnte auf. „Du weißt, wie ich das meine! Wie viele Menschen hat er umgebracht?“

„Schwer zu sagen. Rechne mit fünf oder sechs pro Jahr.“

„Na klasse“, schnaufte das Mädchen verdrießlich und betrachtete ihre Jacke. Wie durch weiche Butter waren die Klauen durch den Stoff gegangen. Derart leicht mussten sie auch Knochen und Muskeln zerteilen. So viele Menschen, die gestorben waren … Fast hätte sie gefragt, ob mehr Seelentiere als echte in diesem Gewässer umherschwammen, aber sie wollte das Thema abschließen. Sie wollte nicht mehr von diesem monströsen Massenmörder sprechen …

„Ach ja! War Sharik gestern noch mal bei dir, von wegen Essen?“, ließ leider Penina nicht locker. Irgendwie klang es aus ihrer Richtung so, als hätte der Wassermann sie zu einem romantischen Dinner eingeladen.

Una brummte ein abschätziges: „Ja, war er. Allerdings hat er selber nichts mehr und ich verzichte auch gern darauf, am verfaulten Arm eines Ertrunkenen zu knabbern.“

„Vegan ist für einen Elementargeist aber auch nicht gut. Selbst Dryaden essen das Fleisch von Insekten durch die Wurzeln und Zweige ihrer Bäume. Oreaden essen alles, was in der Erde liegt, die sie umgibt, Mensch wie Tier. Alles, was halt so vergeht.“

„Ich will aber keine Menschen essen!“

„Dann wirst du irgendwann eingehen und sterben“, prophezeite die Karausche ihr das Ende. „Nicht gleich sofort, aber du würdest so keine Hundert werden. Sharik wäre das ziemlich recht. Sein Motto ist dabei ‘Selber essen macht fett.’“

 

„Ich habe auch nicht um sein Mitleid gebeten. Ich bezweifle, dass er überhaupt welches besitzt“, reagierte Una zornig. Sie hatte keine Lust mehr, mit Penina über ihn zu diskutieren. Dieser naive Fisch würde trotz aller Widrigkeiten immer zu Sharik und seinen Fehlern stehen. Es war, wie wenn man einen eingefleischten Fan davon überzeugen wollte, dass seine Lieblingsmannschaft die letzten Verlierer waren, der aber dennoch drauf bestand, dass sie nur des Pechs wegen am Tabellenende standen.

Ein hoffnungsloser Fall.

Der Tag fing gerade an und Una hatte jetzt schon genug.

Sie schwamm zurück ans Südufer, wo sie gestern mit dem Müll geholfen hatte. Es würde sie abreagieren, noch etwas Dreck aus dem See zu schmeißen. Wenn es dabei irgendwem am Kopf traf, umso besser.

Allerdings war die Uferzone sauber. Da waren keine Maschinenteile und ausgediente Teppiche mehr. Noch nicht mal eine schnöde Bierflasche.

„Toll“, murmelte sie leise.

Eigentlich war es ja wirklich toll. Natürlich musste Sharik den letzten Rest die Nacht fortgeschafft haben. Nachdem er sie angefahren hatte, wollte er wohl selber Dampf ablassen.

Irgendwie hätte sie ihm gern bei der Arbeit zugesehen – nur, um zu lernen, wie ein Elementargeist die Gestalt verändert. Das war aber auch alles. Sie sollte doch von ihm lernen, oder?

Würde er es ihr beibringen, damit sie an Land gehen konnte? Taugte dieser egoistische Kerl denn als Lehrer? Oder musste sie sich selber erziehen? Beobachten und ausprobieren. Fehler machen …

Frustriert setzte sie sich auf einen Stein im Ufersand. Ihr Haar schwebte knapp unterhalb der Wasseroberfläche und Bienen zogen summend auf der anderen Seite über sie hinweg. Sie suchten sicher eifrig die Frühblüher ab.

Una hatte es immer gemocht, die bunten Farbkleckse nach dem langen, grauen Winter wiederzusehen. Es war alle Jahre ein wunderschöner Anblick gewesen. Der Frühling kam. Der Sommer. Ferien.

Könnte sie doch an Land gehen. Könnte sie die Blumen sehen. Die warme Brise spüren. Das Leben hören.

Konnte sie gleich die ganze Stadt verlassen? Schnell mit dem nächsten Zug oder Bus fahren? Zurück nach Hause und nach ihrer Familie sehen? Würde sie sprechen können, dass die Menschen sie verstanden? Konnte sie – jetzt, mit ihren neuen Kiemen – noch ohne Wasser an Land überleben? Hieß es nicht, Sharik ginge auch an Land spazieren?

Wie stellte er es an? Wie sollte sie ihre Gestalt verändern können? Etwa durch reines Wunschdenken? Ich denke, also bin ich? Wie sollte sie etwas anderes sein als ein Mensch? Sie konnte sich in keiner anderen Gestalt vorstellen. Sie würde immer Una sein, selbst wenn sie sich noch so sehr in die Form eines Mannes, eines Kindes oder einer Greisin zwängen würde. Ihr Trugbild könnte dadurch verschwimmen, könnte die Täuschung nicht aufrecht halten.

Und dann wäre sie geliefert.

Sharik würde sie auslachen.

„So eine Anfängerin!“, oder ähnlich würde er sie verspotten.

Ach, was kümmerte sie sein Sarkasmus? Was dieser Wassermann zustande brachte, würde sie auch noch erlernen können. Zeit hatte sie ja genug. Gut, es war ihr vielleicht nicht so in die Wiege gelegt wie ihm, doch würde sie sich nicht so leicht geschlagen geben.

Ihr Magen knurrte.

Sollte sie Algen essen?

Plötzlich sprang etwas durch die Wasseroberfläche. Vier mit Krallen bestückte Pfoten hätten ihr beinahe das Gesicht zerkratzt, als der Hund seinem Gummiball nachrannte. Sein Herrchen pfiff vom Strand aus nach ihm.

Erschrocken wich Una tiefer in den See zurück. Nicht, dass der Mann sie im seichten Wasser sitzen sah. Wie hätte er reagiert, ein Najadenmädchen zu erblicken? Obwohl er scheinbar nur auf sein Haustier achtete, wollte sie kein Risiko eingehen, solange sie sich nicht unsichtbar machen konnte.

„Worauf wartest du?“

Abermals schrak sie auf, als sie mit dem Rücken gegen Shariks Brust stieß. Wie lautlos er sich bewegte … seit wann hatte er sie beobachtet?

Seine goldenen Raubfischaugen richteten sich glänzend auf den Labrador, der im Nass ausgiebig spielte.

„Was -“, flüsterte Una und verstand schließlich rasch.

„Willst du dich üben? Oder soll ich ihn jagen?“

Wieder klangen seine Fragen nicht nach Fragen.

Fass ihn, bevor ich es tue!“, das hörte Una.

Er will den Hund fressen?

„Alles“, knurrte er in die Richtung seiner potenziellen Beute, „was von außerhalb in meinen See geht, gehört mir. Jedes Leben, das meinen See betritt, ist mein. Und ich urteile über dieses Leben.“

Sharik schwamm in die Uferzone, flach am Boden, sich mit seinen Krallen über die Steine ziehend, lauernd, auf den Labrador zu. Dieser ahnte nichts von der drohenden Gefahr, schnappte vergnügt nach dem Wasser, den Wellen, nach seinem Ball. Tobte ganz unbeschwert. Er tat noch nicht einmal etwas, was den Wassergeist hätte verärgern können. Sein einziges Vergehen war es, Beute zu sein.

Una erkannte, dass der Mensch Sharik ebenfalls nicht kommen sah. Hatte er sich erneut unsichtbar gemacht? Schaute er von außen bloß wie ein gewöhnlicher Fisch aus? Wann hatte er einen Zauber gewirkt?

Der Hund schien nun doch etwas zu wittern. Er stoppte sein Spiel und auch Sharik hielt unter Wasser an. Das Tier wimmerte ängstlich, zog den Schwanz ein und trat rückwärts, raus aus dem Nass, zurück an den Strand, wo sein Herr auf ihn wartete.

„Was hast du?“, fragte der Mensch gleich besorgt und untersuchte das Tier auf etwaige Verletzungen.

Sharik lag regungslos im flachen Wasser. Beobachtete gespannt.

Una konnte sich vorstellen, dass er wütend war. Immerhin war eine ausgemachte Mahlzeit vor ihm geflüchtet. Trotz seiner Launenhaftigkeit nahm sie ihren Mut zusammen und kroch in ähnlichen Bewegungen zu ihm hin. Sie sah, wie der Mensch seinen Hund an die Leine nahm und mit ihm den Trampelpfad zu den Kleingärten ging. Der Mann lachte, ob den treuen Freund ein Fisch gebissen hätte, weil er so eilig aus dem Wasser kam.

Das Mädchen legte sich in den Sand, gut mehr als eine Armlänge von Sharik entfernt.

Er hatte das Kinn auf die Hände gestützt und entgegen aller Annahme, schien er recht gefasst zu sein.

„Hunde sind schwierig zu fangen, auch für mich“, gab er ihr einen Tipp. „Sie haben viel bessere Sinne als Menschen und spüren die Gegenwart anderer Räuber. Wenn du Hunde jagen kannst, schaffst du einen Menschen mit Leichtigkeit.“

„Ich will aber keine Menschen jagen“, sagte sie entschlossen.

„Ich füttere dich auch nicht ewig durch. Nur so lange, bis dieser Eindringling gefunden wird. Dann ist es mir egal, was mit dir passiert.“

„Ist es dir das nicht jetzt schon?“

Sharik schloss die Augen. Seine Kiemenklappen öffneten sich zu einem beruhigenden Atemzug. Luftblasen stiegen an die nahe Wasseroberfläche.

„Du bist die einzige Zeugin“, sprach er leise und sehr beherrscht. „Ich werde dich im Auge behalten. Ich achte auf dein Leben, weil du in meinem See schwimmst. Und ich werde dich beschützen, bis ich nicht mehr für dich die Verantwortung tragen muss. Noch bist du mir keineswegs egal. Das heißt aber sicher nicht, dass ich dich begriffsstutzige Göre in irgendeiner Form akzeptiere.“

Darauf wusste Una nichts zu erwidern. Irgendwie war sie froh, einen Verbündeten zu haben. Andererseits half er ihr bloß aus Eigennutz, nicht ihretwegen. Wie ein Söldner, den sie bezahlte, der sie jedoch verriet, wenn ein anderer mehr bieten sollte.

Na und? Mir ist er auch egal …

Ihr Magen meldete sich in dieser peinlichen Stille zurück.

„Du wirst essen müssen, oder du wirst schwächer. Und du bist jetzt schon schwach. Im Notfall werde ich dich dazu zwingen“, gab er ihr deutlich zu verstehen und machte kurzerhand kehrt ins tiefere Wasser.

Eine Sekunde überlegte Una, was sie tun sollte, dann entschloss sie sich, ihm zu folgen.

Gewiss hätte er ihr davonschwimmen können, doch er tat es nicht. Auch wenn er sie keines Blickes würdigte, ließ er es zu, dass sie in seinem Schatten schwamm.

„Ich fühl mich gar nicht so schwach, wie du sagst, Sharik“, teilte sie ihm mit. „Über Nacht sind mir sogar Kiemen gewachsen wie bei dir. Ich werde also wie du.“

„Ein Monster?“, klang er leicht belustigt.

„Gut, ich werde nicht ganz wie du. Immerhin war ich ein Mensch. Ich werde nicht plötzlich zum Kannibalen.“

„Jetzt bist du keiner mehr“, sagte Sharik gelangweilt, „also ist dein Mitleid für die Menschen umsonst.“

„Sagen wir, ich begegne meiner potenziellen Nahrung mit Respekt“, erklärte sich Una. „Als Mensch habe ich ab und an auch der Tiere gedacht, die für mein Steak oder die Wurst starben. Ich bin auch sehr tierlieb gewesen und vertrat die artgerechte Haltung von Nutztieren. Bio, wenn dir das was sagt.“

„Dann münze das auf die Menschen um“, knurrte er und schaute sie erstmals über die Schulter direkt an. „Die Menschen leben in ihrer gewählten Weise artgerecht und deshalb sollte es dich nicht allzu sehr kümmern, wenn wir für unser Überleben den ein oder anderen essen. Wenn es dir bei Menschen nicht so leichtfällt wie bei Tieren, zeigt mir das nur, dass du die Arroganz besitzt, Tiere niedriger als Menschen einzustufen.

Gott erhob den Menschen über das Tier? Schwachsinn. Ich beweise den Umkehrschluss und stutze die Menschheit für ihre Anmaßung gegenüber der Natur zurecht. Alle Lebewesen sind gleich, nur sind manche Jäger und andere Futter.“

„Oh“, konnte sich Una den Sarkasmus nicht verkneifen, „bist du jetzt die Rache Gottes?“

„Nein, ich folge meiner Natur, Dummkopf.“

„Penina sagte, du tötest bis zu sechs Menschen im Jahr.“

„Mehr oder weniger. Solange du bei mir bist, wohl Ersteres.“

„Sie sagte auch, dass du fast fünfhundert Jahre alt bist“, setzte sie fort, „folglich hast du um die dreitausend Menschenleben auf dem Gewissen. Hunde und andere Tiere nicht mitgezählt. Stört dich das nicht?“

„Nein.“

Er schlug einen Haken. Una kam kaum nach. Im trüben Wasser erkannte sie etwas später, dass, wenn sie weiter geradeaus geschwommen, gegen die steile Uferwand geprallt wäre. Shariks Augen mussten hervorragend an die dünnen Lichtverhältnisse angepasst sein.

Werde ich auch irgendwann so gut sehen können?, fragte sich Una.

„Hör zu“, befahl Sharik resolut. „Ich hasse die Menschen und habe gute Gründe dafür. Du wirst mich nicht dazu bringen können, Reue für meine Taten zu empfinden oder diese rückgratlosen Kreaturen im Wert zu steigern. Dir selbst machst du es bloß unnötig schwer, wenn du noch an ihnen hängst.

Ich schätze, du vermisst deine Familie. Menschen essen wäre so, als würdest du deine Eltern essen. Doch in den Toten solltest du nicht mehr sehen als in einem Schweinebraten. Oder einem Grillhähnchen.“

„Du bist herzlos!“, sprach sie empört. „So was kann nur einer sagen, der keine Familie hat!“

„Findest du?“ Er lächelte wieder boshaft. „Obwohl ich ein Wesen der Anderswelt bin, denke ich realistischer als ein ehemaliger Mensch. Witzig, nicht?“

Schnell vollführte er eine totale Wendung, packte Una fest an den Handgelenken und zog sie nah an sich heran, dass das Mädchen mit überraschtem Blick in sein wie aus weißem Stein gemeißeltes Gesicht starrte.

„Ich lasse mich nicht von einem Unwissenden belehren. Du wirst mich nicht umstimmen“, raunte Sharik ihr bissig ins Ohr. „Täglich beobachte ich das Ufer. Bisher ist es mir nicht gelungen, doch irgendwann wird jemand in mein Gebiet seinen Fuß setzen. Ich hoffe, es ist ein Mensch. Eine Frau. Ein Kind. Ich werde diesen Menschen ertränken, seine Knochen brechen, ihm die Gedärme rausfetzen. Und du wirst sein Fleisch essen.

Keine Diskussion. Keine Widerworte. Mein Reich, meine Regeln.

Verstanden?“

Una wollte sich gegen ihn wehren, doch sein Griff war zu stark. Sie wollte mit den Füßen nach ihn treten, aber seine Schuppen waren wie ein Panzer. Sie wurde zur Furie, wollte kratzen und beißen – jedoch richtete sie gegen ihn nicht das Geringste aus.

„Du schwaches, kleines Ding“, lachte er dunkel und zeigte ihr die scharfen Fischzähne. „Du bist nichts gegen mich. Hilflos. Also tu, was ich sage, wenn du nicht sterben willst.

Ich kann dich beschützen. Doch nicht vor mir.“

Sein Griff an den Handgelenken wurde so mächtig, dass Una endgültig einsackte. Ihm nachgab. Schluchzend ließ sie den Kopf hängen und flehte gepresst: „Es tut mir leid! Entschuldige! Ich tue, was du sagst! Bitte lass mich gehen! Du tust mir weh!“

 

„Ich bin der Herr dieses Sees. Vergiss das nie.“

Endlich ließ Sharik sie los und kehrte sich von ihr ab, wie ein Pfeil schwimmend, unmöglich zu verfolgen.

Ihre wunden Gelenke gegen die Brust gedrückt, sank Una hinab, in eine grün bewachsene Mulde aus Sand und Schlamm. Die Pflanzen umschlossen sie wie ein Schutzwall und ihre Tränen vermischten sich ungesehen mit Wasser. Wie in ein Vogelnest gebettet, wollte sie sich zusammenrollen und weinen.

Unerträglicher wurde die Sehnsucht nach der Oberwelt, je mehr sie an diesen Mann dachte. Dieses Ungeheuer. Ihr Wächter. Ihn, dem sie nicht entkommen konnte, ohne nochmals den Tod zu erleben.

Wie sollte dieser Albtraum nur ausgehen, wenn sie nicht erwachen konnte?

„Herr?“

„Nerv nicht!“

Sharik wollte mit niemandem reden. Oder über jemanden.

Aber natürlich würde es Gerede geben, und es war ihm völlig klar, um wem es sich dabei drehte. Das Mädchen hatte sich schnell Freunde gemacht – wie auch immer sie das geschafft hatte – und diese Freunde gingen ihm nun auf den unsterblichen Geist!

All die Jahre war es so schön ruhig gewesen. Niemand hatte ihn gestört, niemand hatte ihn belästigt oder sein Handeln infrage gestellt. Keiner begehrte gegen ihn auf, keiner war der Meinung, dass er Schlechtes tat und nie pfuschte ihm jemand in irgendeiner Weise ins Handwerk. Alles hatte auf ihn gehört. Ohne Widerrede.

Und jetzt war da die Göre, die nicht mitzog. Die ihm die Ohren volljammerte, wie tragisch es doch um ihr Leben war, wie schrecklich, dass sie ein Fisch wurde, wie grausam es sei, Menschen zu töten …

Bla, bla, bla.

Jetzt fing nicht nur die an zu meckern, sondern sein ganzer in Ewigkeit verdammter Staat! … Wenn auch nicht so penetrant.

Sollte sich dieses Verhalten weiter verschlechtern, würde er jedoch einige Seelen zur Strafe in Strudelwürmer und Polypen verwandeln. Zum Beispiel diese lästige Karausche …

„Herr“, versuchte es Penina im Ruhigen, „warum seid Ihr so gemein zu der Kleinen?“

Gemein, ha!, dachte er und drehte dem Minikarpfen den Rücken zu, um die karge Felswand anzustarren. Er sollte ihr mal zeigen, wie gemein er wirklich werden konnte, wenn ihm jemand zu nah auf die Schuppen rückte und noch dazu mit unsinnigen Anliegen ihn der Ruhe seiner Liegestatt beraubte!

„Ihr wisst doch genau, wie durcheinander und traurig sie ist“, textete ihn der unwillkommene Besuch leiernd zu, „denn es ist schwer, sich von der Oberwelt zu trennen. Ich selbst vermisse so vieles und sie hatte ihr ganzes Leben noch vor sich. Es ist fürchterlich, dass sie so jung gestorben ist.“

„Was du nicht sagst“, knurrte er bissig.

„Verzeihung“, bereute Penina ihre Wortwahl, „ich weiß natürlich, dass -“

„Soll ich sie verhätscheln und ihr zitterndes Händchen halten?“, blaffte er sie wütend an. „Das macht es nicht besser! Ich weiß, dass es ihr schwerfällt! Sie ist nicht wie ich! Ihr haben die oben etwas bedeutet!

Ich kann solche Gefühle nicht nachvollziehen!

Entweder packt sie es oder sie stirbt! Entweder isst sie oder verhungert! Entweder – oder! Das sollte sie langsam mal einsehen! Es ist ihr Leben, nicht meins, also kümmert sie sich drum!“

„Sie ist noch fast ein Kind.“

„Wie alt war sie? Sechzehn, oder? Zu meiner Zeit haben die meisten Weiber in dem Alter schon gekalbt! Red dich nicht raus, sie ist alt genug, um was vom Leben zu verstehen! Dass es nicht einfach ist, weiß jeder und wer seinen Platz nicht behaupten kann, kratzt ab!“, blieb er stur.

Penina schwamm um seinen Rücken herum, um ihm wieder ins Gesicht zu sehen. Gerade das hatte er nicht gewollt. Wahrscheinlich verrieten bereits seine Augen zu viel. Abermals drehte er sich von ihr fort und vergrub sich im Dickicht der Wasserpflanzen.

„Hat sie etwas gesagt, dass Euch verletzt hat?“, hörte er sie trotzdem sanft fragen.

Er hasste es, wenn sie in dieser Form redete. Voller Sorge. Und Mitleid. Hatte er das nötig?

„Sharik“, sagte Penina in einem so widerlich-süßen Ton, dass ihm schlecht wurde. Früher hatte er sich jemanden gewünscht, der ihn auf diese Weise ansprach. Liebevoll wie … – Widerlich! Heute hatte er kein Verlangen mehr nach dieser Rührseligkeit.

Wozu auch? Gefühle machen nur Probleme.

Mit seinen Krallen fuhr er sich über den eigenen Unterarm. Diese Klauen, die Fleisch mühelos in Stücke reißen konnten, kratzten bloß leicht die harten Schuppen, welche seinen grünen Fischleib zierten. Doch das lockere Schaben reichte, um die Erinnerung abzuschütteln.

„Sie sagt viel dummes Zeug, weil sie keine Ahnung hat“, gab er ihr zu verstehen.

„Was daran liegt, dass Ihr Euch niemandem anvertraut“, meinte Penina. „Wenn Ihr es tätet – und sei es auch nur uns gegenüber, so könnten wir immerhin ihr erklären, warum Ihr so … schroff seid. Wie soll sie Euch verstehen, wenn Ihr ihr nur Bosheit entgegenbringt?“

„Dann“, wollte er laut werden, doch stoppte. Sollte er diesen Schritt wagen? Wieso sollte er es wollen? Wegen der Göre? Die konnte ihm doch egal sein. Sobald er den Eindringling hatte, konnte sie auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Was brachte ihm ihr Verständnis?

„Herr?“

Wieso wollte er, dass sie -?

„Sag ihr“, murmelte er heiser, „dass ein Monster wie ich nur Bosheit versteht. Ich …“ Seine Stimme erstickte einen Moment vor Scham. Ihm fielen diese Worte schwer. Sie wollten kaum aus ihm heraus.

„Ich kenne keine Liebe. Ich habe sie nie gekannt.“

„Oh“, seufzte die Fischfrau traurig und rieb sich an seiner Schulter. „Das tut mir -“

„Lass das!“, fauchte er böse, mehr aus Entsetzen über ihre Zuneigung, und stieß sie daher ruppig fort. Verbarg sich tiefer im Grünen, um aus dessen Schutz zu brüllen: „Verschwinde endlich! Ich hab Hunger, und wenn du nicht bald gehst, fress ich dich!“

Prompt folgte Penina dem Befehl.

Endlich allein. Wie immer. Er war es gewohnt, allein zu sein. Gesellschaft machte ihm mehr Angst. Machte ihn unsicher, nervös. Angreifbar und verletzlich. Die Liebe war ein Stachel in seinem Fleisch, ein schmerzender Dorn, den er loswerden wollte. Jede Empfindung sollte im Keim erstickt werden. Sharik führte das Leben eines jahrhundertealten Dämons. Sein Wesen sollte kalt wie das Wasser sein.

Wieso kam diese lästige Geisel jetzt wieder?

Lasst mich allein.

Seine Hand fuhr durch das grüne Haar. Dort, wo eine Narbe hätte sein müssen.

Vergiss es niemals, ermahnte er sich selbst in seinem alten Hass. Sie tragen alle die Schuld daran. Keine Ausnahme. Keine Vergebung.

Voller Abscheu flüsterte er dieses ekelhafte Wort: „Menschen.“

Una war überrascht, dass Sharik ihr eine Nachricht zukommen ließ.

Den ganzen Vormittag hatte sie in ihrer neuen Zuflucht südlich des schwarzen Grabens verbracht und bitterlich geweint, bis Lorin, Penina und Arnold sie fanden. Die Karausche nahm ihre gequetschten Handgelenke in Augenschein und versprach, mit Sharik zu sprechen. Frosch und Muschel trösteten sie mit alten Kamellen über ihren Kummer hinweg.

So erzählte Arnold, wie einst eine Baufirma der Stadt versucht hatte, den See aufzufüllen, um Baugrund zu schaffen. Allerdings hatten sie die Rechnung ohne den Herrn gemacht, der Arbeiter in die Tiefe zog, Baumaschinen sabotierte und Zauber wirkte, bis die Pläne auf Eis lagen und stattdessen ein Badestrand auf dem Gebiet entstand – was nicht wirklich besser war, aber immerhin ein Teilerfolg.

Lorin trommelte ein paar Frösche zusammen, um Una ein Konzert zu geben. Zumal er zu Arnolds Geschichte die witzigeren Anekdoten lieferte.

Ob diese Heldensage wieder ein Versuch war, Sharik besser dastehen zu lassen, war Una fürs Erste gleich. Sie war froh, von ihren traurigen Gedanken an Zuhause wegzukommen und somit hätten die beiden Totengeister Loblieder noch und nöcher ausgraben können.

Was allerdings Penina bei ihrer Rückkehr berichtete, war mehr als erstaunlich – und das nicht mal für die junge Frau.

„Kocht meine Beine in Suppe! Dass ich so was zu hören kriege!“, entfuhr es Lorin vor Überraschung.

Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?