Mit schwarzen Flügeln

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4

In dieser Bruchbude lebte bestimmt seit zwanzig Jahren nie­mand mehr. Vielleicht kamen ab und an ein paar Jugendliche vorbei, um die putzzerrissenen Wände mit verschiedenfarbi­gen Graffiti zu besprühen. Allerdings blätterte selbst diese Schicht langsam ab.

Im Inneren hatte wohl mal ein Feuer gewütet. An vielen Fenstern sah man von außen noch schwarzen Ruß und die hö­her gelegenen Etagen erinnerten an einen Lochkäse. Ehemali­ges Mobiliar und anderer Schutt wie Müll sammelten sich rund um dieses Hochhaus an, welches in der Senke irgendwie verloren wirkte.

Allein als letztes noch senkrecht stehendes Bauwerk.

Das gelbe Schild an der holzwurmzerfressenen Eingangs­tür, auf dem ausdrücklich geschrieben stand, dieses Gebäude wegen Einsturzgefahr nicht zu betreten, überlas Deacon ge­konnt. Ihm sagte es nur, dass er hier vor neugierigen Blicken unbehelligt blieb.

Im staubigen Treppenhaus hielt er dennoch an, um zu lau­schen. Bis auf die Regentropfen, die auf bröckelnden Stein fie­len, und das Nagen der Mäuse, hörte er nichts. Kein menschli­ches Leben. Oder Ähnliches.

Als er die Treppenstufen betrat, knirschten sie. Verkohltes Holz ummantelte zwar noch immer einige Absätze, doch oft lief er auf brüchigem Beton. Das ebenfalls hölzerne Geländer fehlte ganz. Die wenigen Reste blieben im Erdgeschoss zu­rück.

Auf den Weg nach oben stoppte er in jeder Etage und ver­gewisserte sich, weiterhin allein zu sein.

Spinnweben versperrten die kahlen Gänge, die eher an ein Gefängnis als an ein ehemaliges Mietshaus erinnerten. Oder eine Hühnerbatterie. Zelle an Zelle.

Je mehr er aufstieg, umso besser wurde seine Stimmung. In erster Linie fühlte er hier die ersehnte Sicherheit – aber auch, weil er nicht der Typ war, der am Boden haftete. Gefallen oder nicht, Engel waren Wesen der zugigen Lüfte. In großer Höhe, wo selbst Schwindelfreie sich nicht hinwagten, da ging es ih­nen blendend.

Die Geräusche des Hauses konnten ihn da nicht beunruhi­gen. Sogar wenn es kurz davor wäre, zusammenzustürzen, würde es ihn nicht kümmern. Ein Mensch hätte an so einem Ort sein Leben riskiert. Jedoch nicht ein Mann wie Deacon.

Oben angekommen, lief er nur noch auf Trümmern. Teil­weise war der Boden komplett verbrannt und seine Augen blickten in tiefe Abgründe. Mit jedem Schritt fürchtete manch anderer den letzten getan zu haben. Er ging weiter. Vorbei an Mauern, deren Ziegelwerk schon deutlich sichtbar war. Rot, wie das Muskelfleisch unter der Haut, brach es aus Rissen her­vor. Moos und Schimmel wuchsen überall. Fenster waren ent­weder vernagelt oder leere Rahmen, die mit scharfen Splittern drohten.

In einem Zimmer im Westen fehlte die gesamte Außen­wand und gab eine weite Aussicht über das Gelände frei. Hin­ter dieser schlammigen Steppe aus Abfall, sah er auf die Un­terstadt, dann auf das Geschäftsviertel und die wenigen Wohn­siedlungen derer, die zwar nicht viel, aber genug besaßen. Und schließlich funkelte am Horizont die Glasstadt im trüben Däm­merlicht.

Rein theoretisch war Deacon also am niedrigsten Stand an­gekommen und doch schaute er jetzt auf alles hinab. Was für eine Ironie.

Er setzte sich auf den blanken Boden, der zwar ächzte, aber ihm standhielt.

Der Regen prasselte unaufhörlich herab und das Wasser drang in vereinzelten Tropfen durch die Decke. Das Netz einer Spinne war ungünstig gelegen und, nach einigen nassen Erfah­rungen, beschloss sie, endgültig auszuziehen. Deacon half ihr dabei etwas und nahm das Tier auf seine Hand, um es eine Armlänge hinter sich im Trockenen abzusetzen.

Wenn der Regen doch alles genauso schnell wegspülen könnte. Nur steht Gott nicht mehr der Sinn nach Sintfluten. Das hat ja schon einmal nicht funktioniert ...

Die Menschen hatten eine zweite Chance in der Geschichte der Existenz bekommen und – für die einen Glück, die andern Pech – sich dafür entschieden, die Sünde fortbestehen zu las­sen und mit ihr die Rasse zu verderben. Die Verantwortung für die Erde lag nicht mehr in Gottes Hand.

Gott hatte es schlicht satt, ständig die Fehler anderer gera­dezubiegen, weswegen auch kein Eingreifen zu erwarten war. Genervt wollte Gott nicht mehr die Gebete der Gläubigen er­hören, die unmögliche Dinge verlangten, nur um dann als Spottfigur herhalten zu müssen, wenn etwas dabei schiefging. Gott hatte schließlich noch anderes zu tun. Wenn die selbstge­fällige Menschheit glaubte, alles drehe sich nur um sie ... war das nicht ganz falsch, doch Gottes Hauptaufgabe bestand dar­in, die eigene Welt im Gleichgewicht zu halten. Auch die Him­melsbewohner wollten auf keinen Fall Gott gänzlich missen, sonst kämen sie sich wieder benachteiligt vor.

Bereits lange vor seiner Zeit war es geschehen, dass Gott sprach, die Schotten dichtzumachen und den Menschen die Geschicke ihrer Welt selber in die Hand zu legen, so wie jede andere Kreatur ihren zuständigen Lebensraum verwaltete. Was aus dieser Fehlentscheidung wurde, sah man hier im Regen davonschwimmen.

„Gottverlassen“ war wirklich die treffende Bezeichnung.

Und die Rolle der Engel in diesem Spiel?

Die meisten Geflügelten hielten sich der Erde – Assia – fern. Nannten die Menschen bei Tiernamen und wollten nichts mit ihnen zu tun haben. Einige stiegen ab und zu herab, inspi­rierten ein paar Künstler. Andere trieben ihre Scherze mit den Schafen und waren dabei nicht weniger zimperlich als die Dämonen. So manch himmlische Eingebung endete in einer Katastrophe.

Die Welt der Menschen war zu einem Spielball verkom­men. Eines Tages hatte Gott bestimmt endgültig genug davon und ließ die Luft ab.

Ein Fingerschnippen und es war aus.

Vielleicht gab es irgendwann eine neue Welt, aber für die der Menschen war es vorbei.

Deacon zuckte die Schultern. Und wenn schon, ihn als Ge­fallenen ging der Zyklus nichts mehr an.

Sollte irgendwann mal Neues kommen, fänden sich auch dort Energiequellen, die er für seinen Herrn sammeln konnte. Sünder würde es immer geben und auch seine Arbeit war zeit­los.

Wen kümmerten da diese Menschen? Die waren doch nur Werkzeuge des Lebens.

Seufzend beobachtete er die graugelben Wolken und fragte sich, wie lange er noch ihren Anblick ertragen musste, bis die große Tabula rasa kam. Bis der Himmel wieder blau sein wür­de.

„Steh auf!“

Ein Tritt folgte.

„Los, bewege dich!“, brüllte die Stimme und ihr Echo schallte durch die leeren Räume.

Stöhnend öffnete Deacon die Augen. Es kam ihm vor, als hätte er sich eben erst schlafen gelegt und auch die Himmels­farbe sagte ihm, dass es mitten in der Nacht sein musste. Der Regen war endlich vorbeigezogen und hinterließ einen Geruch nach modriger Nässe.

Doch trotz Finsternis war sein Umfeld unnatürlich erhellt. Nicht vom Schein einer Lampe, sondern von der Kleidung de­rer, die ihn umzingelt hatten.

Sofort war er auf den Beinen. Gleichzeitig spürte er silber­ne Klingen an seiner Kehle.

Die vier Männer waren ihm in der Erscheinung recht ähn­lich und wiederum verschieden. Allesamt waren sie stroh­blond, wenn auch wie er mit stahlblauen Augen. Gleichwohl trugen sie weiße Mäntel, aber darunter genauso weiße Unifor­men, und man musste kein Hellseher sein, um zu wissen, zu wem sie gehörten.

Deacon hatte nur nicht damit gerechnet, dass die himmli­sche Weiße Garde so auf Zack war. Er dachte, er könnte sich davonstehlen, ehe die Gegenpartei seine Spur fasste.

„Wo sucht man eine Schabe? Natürlich im größten Dreck.“

Ein fünfter weißer Engel erschien in seinem Blickfeld. Fe­minine Züge und Haar wie Weizengold. An seiner Dienstklei­dung trug er unnötig viele Orden zur Schau, die ihn als Anfüh­rer dieser Gardisten auswiesen. Um nicht gar zu sagen als obersten Befehlshaber der ganzen feindlichen Armee.

Beim letzten Zusammentreffen war der bloß ein gewöhnli­cher Soldat gewesen ...

Mit seinem abschätzigen Lächeln auf den dünnen Lippen sah er auf Deacon herab und genoss den Moment, ihn in der Zange zu haben. Ein Wunsch, den er schon seit Jahren hegte.

Oft hatte dieser Kerl bereits versucht, Deacon beim Hohen Rat für irgendwelchen Nonsens anzuschwärzen und genauso oft war er den Fängen der Garde entwischt, was den Engel nur jedes Mal mehr in Rage brachte, wenn sie einander begegne­ten. Mit dem neuen Posten im Gepäck konnte der Blondschopf endlich Nägel mit Köpfen machen.

Schon komisch, wie aus zwei einstigen Kameraden – sogar Freunden – so erbitterte Feinde werden konnten. Nur weil ei­ner die Seite wechseln musste.

„Virel“, nannte er ihn beim Namen und stopfte alle Verach­tung, die er aufbringen konnte, in seine Stimmlage.

„Deacon Heat“, griente sein Gegenüber recht diabolisch. „Lange nicht mehr gesehen, was?“

„Ich könnte auch in Zukunft darauf verzichten.“

Virel gab seinen Soldaten einen stummen Befehl und die ließen ihre Waffen sinken. Dennoch blieben sie kampfbereit, sollte der Gefallene es wagen, aufzubegehren. Der richtete aber nur lässig den Sitz seines Mantels.

„Du weißt, warum wir hier sind, nicht wahr?“

Er spielte den Unwissenden. „Nein?! Schwarz und Weiß dürfen freiweg Assia betreten, solange wir die Menschen nicht stören. Ich wüsste nicht, warum es mir verboten ist, mal einen Spaziergang zu machen. Dem Stress bei uns entfliehen, du verstehst ...“

Da riss ihm Virel an seinen dunklen Haaren und brüllte: „Verkaufe mich nicht für dumm! Im Himmel magst du ja ein unscheinbares Licht gewesen sein, aber ich weiß, du bist jetzt ein Höllengeneral! Und der macht keine kleinen Spaziergänge! Wir sind hier, um deinem Treiben ein Ende zu setzen, du See­lenfänger!“

 

Deacon bemühte sich, keinen Schmerz oder sonst etwas von seinem Gefühl zu zeigen. Schweigend hielt er dem zorni­gen Blick des Engels stand, bis der seine Haare losließ.

Von ihm zurücktretend, verkündete Virel zufrieden: „Die Anklage lautet Mord an siebenundzwanzig Menschen. Allein dieses Jahr. Insgesamt steht deine Sündenopferzahl bei mehr als vierhundert. Du hast die Seelen deiner Opfer noch vor ihrer Zeit gestohlen und damit das Handelsabkommen mit Hades gebrochen! Und du bürgst für Todgeweihte, dass diese als Dä­monen auferstehen! Auch ein Gesetzesbruch! Gib es zu, du sammelst Seelen für den Höllenkaiser wie dessen Armee, und ich werde es beweisen!“

So ein Schwachsinn, schoss es Deacon durch den Kopf und er rollte mit den Augen.

Virel registrierte dies zähneknirschend, doch fuhr er weiter fort: „Du pfuschst an Gottes Werk herum und wie dein Herr schlängelst du dich durch die Lücken im Kodex. Wie kannst du es wagen, einfach den Richter über Leben und Tod zu spie­len?“

Deacon stöhnte trotzig auf. „Hallo?! Ich bin ein Gefalle­ner! Soll ich tiefer sinken? Was geht mich Gottes Werk an? Mein König ist an anderer Stelle und ich mach meine Arbeit – die mal nebenbei gesagt absolut nichts mit deinen verrückten Verschwörungen zu tun hat!“

„Offensichtlich bist du kein Engel mehr“, wertete Virel ihn ab. „Gefallen oder nicht hat hierbei allerdings nichts zu bedeuten. Der Hohe Rat hat beschlossen, dass du dich für deine Ta­ten verantworten sollst. Deine Aussage soll vor Gericht beste­hen.“

Das ist ja wohl ein schlechter Witz.

„Ich soll vor Gericht gebracht werden? Von wem?“

Virel zog sein Schwert aus der Scheide. Anders als die der Soldaten, bestand die Klinge aus weißem, teils klarem Kristall und die goldenen Lettern identifizierten es als Waffe des Gar­deführers.

Eine gefährliche Schneide, für jeden, der der anderen Seite angehörte.

„Wir werden dir gern die Richtung weisen, Heat. Solltest du dich weigern und zur Wehr setzen, sind uns alle Mittel recht, dich in unserer Gewalt festzuhalten. Mach es dir also besser nicht unnötig schwer. Vor der Strafe Gottes kannst du eh nicht fliehen.“

„Vor der Strafe Gottes“, zitierte der schwarze Engel zy­nisch. „Dass Metatron und sein feiner Rat sich immer noch für das ausführende Organ der Heiligkeit halten ...“

„Spott über den Rat ist Spott an Gott!“, meldete einer der Soldaten erbost seinen Zorn.

Deacon hörte mit dem Lästern nicht auf und ärgerte weiter: „In den fast dreihundert Jahren, die ich nun schon dem Him­mel fern bin, scheint sich dort oben nicht viel geändert zu ha­ben. Ihr seid nicht viel anders als die Affen, die der Kirche fol­gen, denn ihr vertraut auf einen Rat, der angeblich Gottes Wil­len ausführt, diesen aber nur verzerrt und zu eigenen Gunsten nutzt. Ihr könnt einem echt leidtun. Ist doch super, schon aus eurem Klub geschmissen worden zu sein.“

Wütend griffen die Soldaten zu ihren Schwertern und Virel wollte noch rufen: „Achtet nicht auf sein Geschwätz!“ Jedoch kam seine Weisung zu spät.

Schutzlos durch die Welt zu marschieren, wäre Deacon im Traum nicht eingefallen. In seiner Hand manifestierte sich mit schwarzem Rauch ein Säbel, dunkel wie Onyx und schärfer als Diamant. Im weißen Himmelslicht seiner Gegner schimmerte die Klinge violett, und bevor der erste Angreifer reagieren konnte, hatte er ihn samt der eigenen Hand entwaffnet.

Den Verwundeten in ihren Reihen wissend, griffen die üb­rigen Krieger blind und überstürzt an. Auch sie büßten bald tiefe Wunden ein, und mit einem kräftigen Schlag gegen den Kopf räumte Deacon sie aus dem Weg, bis er die Klinge schließlich mit Virel kreuzte.

„Anfänger“, schimpfte der Gardeführer trocken über seine Mannen.

Der General zuckte die Schultern. „Gutes Personal ist schwer zu finden.“

Trotz ihrer gemeinsamen Zeit im Himmel, fochten die bei­den Kontrahenten miteinander wild und verbittert durch die verfallenen Zimmer. Keiner schenkte dem anderen einen Vor­teil und gegenseitig versuchten sie, den Feind bei einer Blöße zu erwischen.

Dennoch geriet Virel langsam ins Schwitzen. Die Hiebe des Höllenkriegers waren stark, und immer, wenn die unheili­ge Schneide auf seinen gesegneten Kristall traf, sprühten grel­le, heiße Funken, die Brandspuren auf dem morschen Holzbo­den hinterließen.

„Nicht schlecht!“, musste er zugeben. „Früher hätte dich ein einfacher Schüler besiegen können. Du hast dich ge­macht!“

Seinem Gegner wusste, die Konversation diente allein dazu, seine Konzentration zu stören, aber er erwiderte trotz­dem knapp: „Ich nehme das als Kompliment.“

„Wer hat dich ausgebildet?“ Virel parierte einen weiteren Schlag. „Der Dämonenkönig selbst?“

„Ihn könnten nicht einmal hundert deiner Sorte schlagen!“ Deacon spielte mit seiner Beinarbeit und umrundete den En­gel, um ihm einen Schnitt am Arm zuzufügen. Der fluchte und schlug hart gegen die dunkle Klinge.

„Wie konntest du nur Gardeführer werden, mit so einer lausigen Technik?“, reizte der Gefallene und setzte zum nächs­ten Schlag an. Virel brach unter der Wucht des Säbels ein und ging zu Boden. Das Schwert wurde ihm aus den Händen gerissen und davongeschleudert.

Jetzt fühlte er die feindliche Waffe an der Kehle und konn­te bloß noch hilflos zu dem schwarzen Krieger aufsehen, der nur zuzustoßen brauchte, um sein Leben zu beenden.

„Na los! Worauf wartest du?“, fauchte er ihn wütend an. „Töte mich, Höllendiener! Vernichte mich, wie auch all die an­deren, deren Blut an deiner Klinge klebt!“

Himmel und Hölle. Das hatte gereicht, um diese Feindse­ligkeit zu streuen.

Er hätte zustoßen können. Diesen weißen Engel töten sol­len. Doch Deacon konnte es nicht. Mochte es Sentimentalität sein, um der alten Zeiten wegen, oder die Tatsache, dass der Tod seines Widersachers größere Probleme nach sich ziehen würde, aber er ließ seinen Säbel sinken. Die Klinge löste ihre Form in denselben schwarzen Nebel auf, aus dem sie hervor­getreten war, und für Virel hatte er ernüchternde Worte: „Du wurdest von mir bezwungen, Gardist. Lebe du nur ewig mit dieser Schande weiter. Aber mein Leben gebe ich weder heute noch morgen in Hades’ Hände. Und deinem Rat kannst du aus­richten, dass er mich mal kreuzweise kann.“

„Du bist ein Narr, Heat!“

„Wie du meinst“, wischte der die Worte weg. Er hatte keine Lust mehr, den Hassreden zu lauschen. Am Himmel dämmerte bereits die blaue Stunde und wegen des Kampfes musste er sicheres Gebiet aufsuchen. Besser wäre es, er ginge gleich heim.

Deacon lief zurück in den Raum mit dem großen Loch in der Außenwand. Nah an den Abgrund stellte er sich und wollte seine Flügel ausbreiten. Die großen, gefiederten Schwingen in der Farbe des Amselkleides. Heilig, egal wie verdammt der Geflügelte auch war.

Um diese Unzeit konnte er einen Flug wagen und wäre so schneller fort von diesem Ort. Außerhalb des Wirkungskreises der himmlischen Heerscharen und des Rates, weg von den ein­fachen Menschen, den Sündern und all dem schmutzigen Elend dieser Welt.

Die Mauer umfassend, machte er seinen Geist bereit für den Absprung.

Das Geräusch reißenden Fleisches. Brennender Schmerz. Deacon keuchte auf.

Die Klinge des klaren Schwertes hatte sich unterhalb sei­nes Brustkorbes durch den Bauch gebohrt. Von der Schneide floss sein rotes Blut und er sah jedem einzelnen Tropfen hyp­notisiert zu, wie er in die Tiefe fiel.

„Virel ...“

Dieser trieb das Schwert noch weiter durch ihn hindurch und er spuckte rot aus.

„Du bist viel zu ehrenhaft für einen Höllenteufel“, lachte der Engel heiser. Sein schönes Gesicht war zu einer höhni­schen Fratze verzogen. Mit einem Ruck drehte er die waage­recht steckende Schneide senkrecht.

Deacon fühlte die Wärme des Blutes und wie es von seiner Kleidung aufgesogen wurde.

„Und dem Rat richte ich aus, ich hätte aus Notwehr gehan­delt, dich zu töten. Damit habe ich nur das Urteil vollstreckt, welches dich eh erwartet hätte.“

Virel zog das Schwert mit einem schmatzenden Geräusch aus der Wunde und hielt den Gefallenen am Mantelkragen fest, damit dieser nicht sofort vornüberfiel.

„Du ... Bas ... tard ...“ Deacons Stimme wurde schwächer.

Mit einem grausamen Lächeln beugte sich der Gardeführer von hinten an sein Ohr und flüsterte: „Bist du schon zweimal aus dem Himmel gestürzt?“

Er ließ ihn los.

Der schwarze Engel fiel.

Virel sah ihm nach, bis der Körper laut krachend im Bau­schutt aufprallte, so viele Meter unter ihm. Staub und Asche wirbelten über seinem Feind auf.

Wie nach getaner Arbeit, klatschte der Engel zufrieden in die Hände. „Abfall zur Müllkippe, alter Freund. Stirb recht schön.“

5

In der Frühe war der Horizont so klar, dass Nadja die Sonne aufgehen sehen konnte. Ein seltenes Schauspiel, welches man wegen der oft starken Luftverschmutzung eigentlich nicht wahrnahm. Aber in den vergessenen Außenbezirken gab es keine Autos, Klimaanlagen oder sonstige Maschinen, weshalb dieses Phänomen allein hier auftrat.

Und selbst im Laufe des Vormittags versperrten keine grauen Wolken die Sicht auf das blassgelbe Firmament, wel­ches an manchen Stellen schon wieder Blau schimmerte.

Heute ist ein richtig guter Tag, dachte die junge Frau und lachte kindlich in den Himmel hinauf. Bei so einem schönen Omen würde sie sicher Glück haben.

Fröhlich gestimmt lief sie die in den Sand getrampelten Straßen ab und suchte, wie jeden neuen Morgen, nach allen möglichen Dingen, die sich noch verwerten ließen. Glas- oder Plastikflaschen waren es zumeist, vereinzelt fand sie im Müll sogar abgetragene Hemden, alte Hosen, Schuhe und auch Bü­cher, die niemand mehr haben wollte.

Letztens erst hatte sie einen ganzen Karton voller Klei­dungsstücke gefunden, die sie mit ein paar Nadelstichen flick­te und fast wie neu fertigte. Ihr Bruder war sehr stolz auf sie gewesen für diesen Fang.

Natürlich kam es wiederum vor, dass man weniger gute Entdeckungen machte. Tiere oder sogar Menschen, die an die­sem verlassenen Ort gestorben waren. Gestern Abend hatte ein Bekannter von ihr die Leiche Leas gefunden.

Die arme Seele, trauerte sie um die verlorene Freundin, die sie seit ihrer Kindheit kannte und nun dem Hunger erlegen war. Vielleicht war es auch gut so. Seit der Totgeburt war sie bloß noch ein Schatten ihrer selbst gewesen.

Das stärkte aber in Nadja nur den Drang zu leben. Sie hatte nicht vor, sich aufzugeben und allein auf der Müllhalde zu sterben. Einige nannten sie naiv und eine Träumerin, doch sie glaubte daran, ihr Schicksal, was sie an dieses Elend band, än­dern zu können.

Gerade an Tagen wie diesem, wenn der sonst so faulig rie­chende Wind nicht aus der Stadt, sondern nach dem Regen klar und sauber von der kargen Wüste weit draußen herwehte. Da war sie sicher, dass jeder den eigenen Weg selber bestim­men konnte.

Es war ihre Lebensfreude, die sie auch vom Erscheinungs­bild her von anderen Bettlern unterschied.

Während die Alten ihre Leiber in farblose Lumpen kleide­ten und verdrießlich schauten, besorgte sie für ihren Bruder Ted, sich und alle, die es wollten, bunte Stoffe, womit die Ge­schwister und Freunde wenigstens etwas zivilisierter – leben­diger – wirkten und so schon mal die Geschäftsviertel betreten konnten, ohne gleich davongejagt zu werden.

Ebenso hielt sie es, allmorgendlich ihre milchkaffeebraune Haut zu waschen. Stets flocht sie ihr dunkles Haar ordentlich und hatte so bereits den Ruf einer hübschen Dame wett – wenngleich dieser Spruch mehr Spott war. Hinter ihrem Rücken nannten einige Frauen sie zu eitel und arrogant für ih­ren niederen Stand. Doch üblen Nachreden schenkte sie wenig Beachtung. Das Dasein war zu kurz und schwer genug, um sich noch mit der Meinung anderer zu belasten.

Ihre heutige Ausbeute beschränkte sich für das Erste auf ein paar abgeplatzte Teller und verbogenes Aluminiumbesteck. Nicht unbedingt schlecht, wenn man kaum etwas besaß, wo­von man essen konnte.

Dennoch wollte sie nicht glauben, dass dies alles war, was der Müll hergab.

Nadja sah sich um. Verfallene Ruinen und Dreck beherr­schten das Bild. Das einzige Gebäude, das noch gerade stand, war ein ausgebrannter Hochbau aus Zeiten, in denen sie noch nicht mal geboren war.

Ted hatte sie ständig darauf hingewiesen, unter keinen Um­ständen dieses Haus zu betreten. Es war brüchig und würde bald zusammenfallen. Wenn sie nicht vorhatte, von Trümmern begraben zu werden, hielt sie sich besser davon fern. Dort sei eh nichts mehr zu holen.

 

Dabei sollte ihr Bruder sie besser kennen. Neugierig war sie immer gewesen und als Kind konnten solche Geschichten sie noch abhalten, etwas Dummes zu tun. Doch jetzt war sie so gut wie erwachsen und brauchte keinen Beschützer mehr. Ob das Gebäude wirklich nichts mehr preisgab und tatsächlich so morsch war, wie man sagte, wollte sie allein herausfinden.

Außerdem kribbelte ihr Bauchgefühl und trieb sie in diese Richtung. Darauf hörte sie meistens und es hatte ihr bisher nie Kummer bereitet. Wahrscheinlich würde Ted sauer werden, bloß war ein Risiko oft mit von der Partie, wenn man Neues erkundete.

Nadja atmete tief ein, um sich zu wappnen, dann lief sie schnellen Schrittes zu dem alten Kasten hin.

Ihre wachen Augen nahmen zuerst den ganzen Schutt unter die Lupe, der rund um das Fundament des Hauses angesam­melt war. Steine, Bretter, Reste verrosteter Stahlträger und Ei­senrohre, Gipskarton und kaputte Fensterglasscheiben lagen mit Dämmungswolle und anderen Fasern vermischt wüst durcheinander. Sie sah alte Möbel, zerbrochen und kaputt. Vielleicht konnte man sie reparieren?

Vorsichtig kletterte sie auf dem Berg herum und versuchte, sich nicht an den Scherben und den spitzen Nägeln zu verlet­zen. Wundbrand konnte sie nicht gebrauchen.

Eine zersplitterte Kaminuhr wurde gefunden. Zerbrochene Blumentöpfe. Verbranntes Spielzeug und geschmolzenes Plas­tik, bei dem man nicht mehr erkennen konnte, wozu es mal gut war. Eine Lampe, deren Schirm noch brauchbar -

Stiefel.

Verdutzt betrachtete sie die Schuhe genauer. Die waren nicht alt oder angeschmort. Und ein Bein klebte dran.

„Großer Gott!“, hauchte Nadja leise und erkannte, bedeckt von Trümmern, die reglose Gestalt eines Mannes. Staub und Asche hatten sich auf seine blasse Haut niedergelegt und zu ihrem Entsetzen waren seine Sachen, sein schneeweißer Man­tel, rot gefärbt von frischem Blut.

Hatte sie etwa das Pech, auch auf einen Toten zu stoßen?

Zögerlich tippte sie den Fuß an. Rüttelte ihn dann kräftiger.

„Hey ... Lebst du noch?“

Mit spitzen Fingern tastete sie nach dem feuchten Stoff sei­nes schwarzen Shirts und hob ihn umsichtig an. So eine schreckliche Wunde hatte sie schon lange nicht mehr gesehen. Wenn der hier atmete, konnte man von einem Wunder spre­chen.

Und tatsächlich glaubte sie, ein leises Röcheln zu hören. Rasch suchte sie seinen Puls und fand ihn nur schwach. Mit diesem Mann war es noch nicht aus.

„Ich hole Hilfe!“, versprach sie gefasst. „Bitte bleib am Le­ben!“

Sie berührte seine Hand und drückte die Finger. Eiskalt.

Sofort stand Nadja auf, glitt von dem Schutthaufen herun­ter und rannte so schnell es ging nach Hause. Nicht mal ihre Ausbeute nahm sie mit.

Die junge Frau eilte über einen ebenen, großen Platz, der um­randet war von fragilen Holzhütten und zerrissenen Tuchbau­ten. Der frische Wind pfiff durch Löcher in den Planen und Pappen, die vielen der Notunterkünfte als Dach oder nur Fens­tervorhang dienten. Wohnbar gemachte Ruinen, mehr auch nicht.

Zumindest kosteten sie kein Geld, denn die Leute, die die­se Baracken bewohnten, hatten zu tun, allein einige Kupfer­münzen für Essen aufzutreiben.

Mit diesen Menschen hatte Nadja den Großteil ihres Le­bens verbracht. Gute Menschen zumeist, doch von der Gesell­schaft ausgestoßen, vertrieben und ignoriert. Vom Glück nicht begünstigt, lebten hier diejenigen, die nicht wussten, wohin sie gehörten. Einfache Bettler, abgebrannte Trinker auf dem Trockenen, arme Bauern im versandeten Land und sogar Taschendiebe ohne Talent.

Alle Heimatlosen fanden sich in Siedlungen wie dieser ein, für einen sicheren Schlafplatz, einen Teller warme Suppe oder einfach nur, um nicht mehr verloren zu sein und mit jemandem reden zu können. Wie in einer richtigen Familie. Sie lebten zu­sammen, arbeiteten zusammen. Halfen sich gegenseitig wieder auf die Beine und teilten das Wenige, was ihnen gegeben war.

Manchmal dachte Nadja, dies sei der letzte Ort auf Erden, wo die Menschen noch menschlich geblieben waren.

Kinder spielten mit einem abgewetzten Ball und tollten ihr so lachend entgegen. Begrüßten sie und forderten zum Mit­spielen auf, aber sie lehnte freundlich ab und lief weiter.

Endlich erreichte sie keuchend eine Hütte, vor der gut zehn Leute standen. Nadja kannte sie alle beim Namen, doch nur die runzlige, alte Frau in braunen Lumpen, die ihren gedrunge­nen Leib schwerfällig auf eine Krücke stützte, sprach sie an: „Tante Tess, ich -“

Prompt wurde sie unterbrochen.

Die Stimme der Alten war ein Krächzen und, als wenn sie unter Atemnot litt, so japste sie: „Wenn du jemanden begrüßt, sagst du ‘Guten Tag’, Mädchen. Habe ich dir keine Manieren beigebracht?“

„Doch, schon, aber -“, nur als Nadja sah, dass ihre Tante erneut zum Wort ansetzte, beugte sie sich ihrer Ordnung und sagte: „Guten Tag, Tante Tesla.“

Eigentlich war sie gar nicht ihre Tante. Diese Großmutter hat sich um die verwaisten Geschwister gekümmert, seit ihre Eltern an der Grippe gestorben waren, die vor fast zwei Jahr­zehnten in dieser Gegend viele Opfer forderte. Oder war es die Pest? Typhus? Nadja war zu klein gewesen und heute hatte sie keine Erinnerungen mehr an ihre wahre Familie. Tesla hätte sie auch dem Tod überlassen können, tat es aber nicht. Die Zeit mit ihr war teilweise nicht ganz einfach gewesen, den­noch waren Ted und sie unter ihrer Obhut herangewachsen. Dafür schuldeten beide ihr große Dankbarkeit.

Die bejahrte Frau nickte anerkennend und erwiderte: „Gu­ten Tag, mein Kind. Nun, was möchtest du von mir?“

Nadja wollte schon losreden, da brach ein Hustenanfall schwer über Tesla herein, und bevor sie nicht fertig war, den Schleim aus ihrem Rachen zu lösen, konnte man es vergessen, von ihr erhört zu werden.

Trotz unruhig scharrender Füße, wartete das Mädchen ge­duldig ab und wurde mit offenen Ohren belohnt.

„Tante, ich habe einen Verwundeten bei dem alten Hoch­haus gefunden!“ Zur Untermalung wies sie ihre blutver­schmierten Finger vor. „Ich brauche dringend Leute, die mit­helfen, ihn zu retten! Bitte, alle hören auf dich, hilf mir!“

„Wenn er so schwer verwundet ist, wie du meinst, wird er es eh nicht überstehen. Selbst wenn wir ihm helfen, wird er sterben. Warum also sollte ich Zeit damit verschwenden, ei­nem Toten zu helfen? Lassen wir ihn gehen.“

Das Lob für die Menschlichkeit nahm Nadja zurück, als sie fassungslos die Worte ihrer Tante hörte.

Tesla schien sich daran nicht zu stören und wollte schon in ihre Hütte gehen, da hielt das Mädchen sie auf.

„Er ist aber noch nicht tot, und solange er atmet, werde ich hoffen, dass er gesund wird! Tante, ich gebe ihn nicht so ein­fach -“

Sie zuckte zurück, als die Alte einen harten Befehlston an­schlug: „Du vergeudest also freiwillig unsere schwachen Res­sourcen an einen Fremden, von dem du nicht einmal weißt, ob er es überstehen wird?! Wenn er geht, war alles umsonst. Es krepieren jeden Tag Menschen, Kind, weshalb du deine Kraft dafür einsetzen musst, den Lebenden so gut es geht zu helfen. Den Toten kann man nur ein Grab und etwas Trauer bieten. Denen geht es aber am besten, denn sie haben den Kampf des Lebens hinter sich. Lass diesen Mann also sterben.“

„Und sein Grab?“, fragte Nadja in letzter Hoffnung auf Unterstützung. Um ihn zu begraben und die Trauer zu spen­den, musste er hergebracht werden.

Tesla schlug ihr die Tür, die aus groben genagelten Bret­tern bestand, vor der Nase zu. „Später“, krähte die Alte aus dem Inneren. Damit war Funkstille.

So was Verbohrtes ...

Zwischen Wut und aufsteigender Verzweiflung hörte Nadja sich bei den restlichen Anwesenden Hilfe suchend um. Doch all die Bekannten und Freunde konnten ihr Bitten nicht erfül­len. Sie sollte die Sache mit Teslas Urteil abhaken. Dank ihrer Weisheit lebten sie schließlich noch alle und waren gesund. Manche Entscheidungen fallen nun mal schwer.