Mit schwarzen Flügeln

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

6

Wie wunderschön war es an diesem Ort. Alles erschien so sauber und rein, glänzend wie ein klarer Edelstein. Nirgends ein Schmutzfleck, nirgends Dunkelheit.

Nur wenige Farben leuchteten kräftig in dem Weiß – gleich Blüten, die in höchster Form erstrahlten. Es gab auf Erden kein so sattes Grün, kein derart schimmerndes Blau oder Rot, welches sich in das Auge des Betrachters brannte. Ihr Ton wirkte geradezu lebendig.

Wie gern würde er hier ewig verweilen. In dieser friedvollen Stadt mit ihren goldenen Türmen, die wie Sonnen ihn erwärmten und das Land in unvergängliches Licht tauchten.

Und erst die Stille. Diese wohltuende Stille ...

„Wie lange willst du eigentlich noch schlafen? Es gibt Frühstück!“

Wie von einer Hand gepackt, wurde Zach aus dem Traum gerissen und zurück auf die Erde geschleudert, nur um hart aufzuprallen. Sein Rücken meldete sich ungefragt zu Wort.

Ein unsichtbarer Zimmermannsnagel wurde in sein Schulterblatt gebohrt und natürlich war auch die Migräne zur Stelle. Ein Pferdehuf traf sein Hirn und schleuderte es von Schädelwand zu Schädelwand, ähnlich einem Gummiball.

Himmel, wo bist du?, kam es ihn in den Sinn und Sterben schien für einen kurzen Moment eine hervorragende Idee zu sein.

Keuchend starrte er an die hohe Zimmerdecke und, kaum dass die Gedanken wieder einer klaren Bahn folgten, überarbeitete sein Verstand die ersten Fragen, die ihm durch die vom Schmerz vernebelten Sinne rasten.

Wo war er? Bei Molly zu Hause, eine regelrechte Luxuswohnung im Hafen. Zumindest mit Heizung, dichtem Dach und ordentlichen Fenstern.

Wer war bei ihm? Niemand. Er lag allein in dem großen Bett seiner Gastgeberin und litt vor sich hin. Sie musste in der Küche sein und auf ihn warten.

Was hatte er getan? Zu viel gesoffen. Seine Migräne war sicherlich auch eine Rückmeldung vom Alkohol an die Nerven. In wie weit er Molly später noch gefällig gewesen war, konnte er sich nicht genau erinnern.

Hatte er Ärger gemacht? Nun, eine Schlägerei gab es nicht. Und die Bonzen hatte er blankgezogen, mehr nicht, also nein.

Was wurde aus dem Geld? Gute Frage. Die ganze Gewinnsumme konnte er unmöglich verprasst haben und so teuer war Mollys Service auch wieder nicht, also musste er sie fragen, wo der restliche Zaster war.

Last but not least: Wo waren seine Klamotten?

Gequält hob er den Rumpf von der Matratze und blickte durch das Zimmer. Seine Kluft sah er nicht. Er schaute bloß auf die in Violett und Schwarz gehaltene Einrichtung, den Kleiderschrank, die Kleidertruhe, die zig Paar Schuhe für jeden Anlass und das Terrarium mit der Vogelspinne Harley, die fremde Finger gerne biss.

Wieder müsste er Molly fragen, und mit diesem Fazit ließ Zach sich in die Kissen zurückfallen.

Der Raum schwankte wie ein Schiff. Er würde zukünftig mit dem Alkohol kürzertreten.

„Zach!“, tönte Mollys Stimme erneut und er hörte ihre Schritte näher kommen.

Sie betrat das Schlafzimmer wie eine Königin. Gekleidet in ein schwarzes Nachthemd, über das sie einen veilchenfarbenen Morgenmantel trug, sah sie trotz ihres Alters und der zugelegten Pfunde noch immer schön aus. Niemand wurde jünger und er wusste zu gut, welch leuchtende Blüte sie einst gewesen war.

Manchmal fragte sich Zach, wieso sie beide eigentlich nie groß zusammengekommen waren. So stark, wie sie einander auf ihre seltsame Art anzogen? Mutter, Freundin, Lehrerin, Gespielin, Chefin – viele Namen für eine Frau.

Vielleicht zu viele.

„Dein Kaffee wird kalt“, ermahnte sie ihn und verschränkte die Arme vor der üppigen Brust. „Kalt schmeckt er nicht mehr so gut, also komm endlich hoch.“

Zach versuchte, ihrer Aufforderung zu folgen – wirklich! – doch kam nur dazu, sich von der Rückenlage auf den Bauch zu drehen. Seufzend atmete er gedämpft in die Kissen aus und murrte: „Noch fünf Minuten, Mutti ...“

„Echt mal, Kerl ...“, verdrehte sie vielsagend die Augen. „Ich versteh ja, dass du einen Kater hast, und dass du es überhaupt zu einem zweiten Mal geschafft hast, grenzte in deinem gestrigen Zustand an ein Wunder. Aber dass ihr Männer immer kurz davor seid, euch einsargen zu lassen, wenn euch mal ein Wehwehchen drück, soll Frau mal verstehen.“

„Ich bin definitiv nicht wehleidig, Molly“, knurrte er zurück, „doch mein Kopf und mein Kreuz sind blöderweise im Arsch! Scheißegal, wie jung ich ausseh, ich komm mir vor wie an die achtzig!“

„Ich sag dir bereits seit Ewigkeiten, geh mal zu ’nem Spezialisten!“, war sie von seinem Zorn wenig beeindruckt.

Statt sich von seiner schlechten Laune vertreiben zu lassen, stieg sie zu ihm auf das Bett, setzte sich rittlings auf sein Gesäß, und begann mit ganzer Kraft seine verspannten Schultern und Rückenmuskeln zu massieren.

Zach krallte die Finger in das Laken und zischte schmerzlichst durch die zusammengepressten Zähne einen derben Fluch, bevor er ihr kontern konnte: „Ich – au! – war ja gewesen! Ich war – arrgh! – bei jedem verdammten Arzt der Stadt! Keiner – ah! – konnte helfen! Keiner hat was – aua! – gefunden! Die sagen alle, ich bin gesund!“

Molly walkte unnachgiebig sein Schulterblatt und störte sich an seinem Leidgefluche nicht.

„Kann es sein, dass diese Probleme nur Einbildung sind? Vielleicht ist ja was mit deinem hübschen Kopf nicht in Ordnung. Frag mal einen Psychologen.“

„Kenn ich auch – scheiße! – schon! Ich hab viele Macken – au! – und spinne sowieso, aber nichts hat DAS! erklären können! Hör auf, verdammt, du machst es dadurch nicht besser!“ Grob schüttelte er sie ab.

Abrollend kam Molly am Bettrand mit den Füßen auf und schnaufte. „Du gibst immer so leicht auf. Natürlich ist es nach der ersten Behandlung nicht gleich besser, Zach. Das muss wiederholt werden und mit der Zeit wird dein Rücken geheilt, ganz bestimmt.“

An seinem Gestöhne machte sie seine Ungläubigkeit fest.

„Hast du es mal mit Schmerztabletten versucht?“

Er drehte ihr sein blasses Gesicht zu und murrte: „Was denkst du denn? Ich hab sämtliche Medikamente durchprobiert und das Zeug wie Bonbons gefressen. Wäre beinah mal hops gegangen deswegen, doch die Schmerzen waren immer noch da. Ist fast so, als sei ich immun gegen die Scheiße!“

„Du bist komisch, Zach“, war ihr trockener Kommentar.

„Danke, bist nicht die Erste, die das sagt“, maulte er genervt und zog sich langsam aus dem Bett heraus. Erst sackte er schlapp zu Boden, dann zog er sich hoch und streckte sein Kreuz durch, so sehr es auch wehtat. Die Wirbel knackten hörbar.

„Autsch“, keuchte er zum Schluss.

Molly grinste ihn süffisant an und musterte seine bloße Nacktheit von oben bis unten.

„Weißt du, wo ich das Geld von gestern gelassen habe?“, fand Zach nach einer gefühlten Endlosigkeit seine Stimme wieder und rieb sich das Genick.

„Ja, teilweise in der Bar, teilweise bei mir.“

„Ist was davon übrig, meinte ich.“

„Schon. Ich hab es erst mal beiseite genommen. Keine Angst, du kriegst den Rest wieder“, winkte sie ab.

„Super, danke“, war er beruhigt. Er wollte ja nicht misstrauisch wirken, aber wenn es um Geld ging, hörte bei ihm jede Freundschaft auf. Und weil er schon mal dabei war, sie zu löchern, konnte er fortfahren mit: „Wo sind meine Klamotten? Es zieht mir untenrum ...“

„Sind in der Wäsche“, klärte ihn Molly auf, „bis heute Abend sind sie trocken. Nachdem du die Nacht einen Purzelbaum in den Dreck gemacht hast, konnte ich die schlecht so lassen.“

„... ah, ja, ich erinnere mich schwach“, und er strich sich durch den Iro, „danke nochmals ...“

„Kein Ding, Zachy. Wie machst du das überhaupt?“

„Was denn?“

„Du rennst mindestens seit einer Woche in ein und denselben Klamotten rum und machst auch sonst nicht den Eindruck, als ob du dich morgens ins Bad bequemst für eine Katzenwäsche, dennoch stinkst du nicht, wie du eigentlich stinken müsstest. Ich kenne ja einen Haufen abgewrackte Kerle wie dich und die schick ich alle erst mal unter die Dusche, bevor ich sie ranlasse. Erkläre mir mal, warum du wie Zuckerwatte riechst!“

„Hä?“

„Na ja, irgendein karamellisiertes Zuckerzeug halt.

Ist wohl auch egal“, seufzte Molly und stand vom Bettrand auf, um ihr Nachthemd glattzustreichen. „Genug geredet, der Kaffee wartet.

Du weißt, wo du Wechselsachen findest, Zach, also zieh dich an und komm endlich rüber. Ohne deinen Kaftan verschwindest du doch nicht, oder?“

„Alles klar“, nickte er ergeben und musste an sich halten, sie nicht „Schatz“ zu nennen.

Molly konnte ein rechter Hausdrache sein, aber viel mehr war sie ein glänzender Goldkarpfen in einem trüben Teich. Ein stolzer Fisch, den noch so erfahrene Fischer nicht angeln konnten, jedoch hatte er allein die Chance, ab und an dieser Kostbarkeit die Schuppen zu streicheln. Ihr hoher Preis war berechtigt und sie war jeden Cent wert – geschäftlich wie menschlich.

Als sie zurück in die Küche ging, schien der Raum regelrecht an Licht verloren zu haben.

Auf schwachen Beinen schleppte Zach sich zu der Kleidertruhe und wühlte darin nach passenden Sachen. Molly hatte nicht nur Frauenkleider in ihren Schränken. Für besondere, männliche Gäste – wie ihn zum Beispiel – hatte sie auch Notfallkleidung parat.

In dem Wirrwarr an Stoffen, entschied er sich für eine schwarze Trainingshose und ein dunkelblaues T-Shirt mit chinesischem Aufdruck. Es war nicht sein Stil, aber immer noch besser, statt weiter nackt herumzulaufen und Molly auf den Gedanken zu bringen, er könnte ihr gleich wieder gefällig sein.

 

Später am Tag vielleicht, wenn seine Leiden nachließen, doch nicht jetzt.

Barfuß folgte er dem Duft von Kaffee und Rührei mit Schinken.

Die Füße an den Oberkörper rangezogen, hockte er auf einem der altertümlichen Sitzstühle in der Küche am massiven Holztisch und trank aus einer großen Tasse die schwarze Flüssigkeit, die ihm die winterkalten Knochen wärmte. Dazu rauchte er eine von Mollys Langzigaretten. Die waren zwar nicht sein Geschmack, doch weil er hier festsaß, blieb ihr keine andere Wahl, als ihn etwas auszuhalten. Und sowieso hatte er ja gut bezahlt, da ging diese Kleinigkeit schon durch.

„Wie lange kennen wir uns, Zacharias?“, sprach seine Gönnerin ihn an.

Er wunderte sich, dass sie ihn so nannte ...

„Neunzehn Jahre, nicht?“, wusste Zach es ganz genau. „Ist eine lange Zeit.“

„Oh ja“, lächelte sie, „lange ist es her.

Ein junger Grünschnabel warst du, schmal wie ein Strich, und immer auf Krawall gebürstet. Kaum ein paar Tage im Hafen und schon hast du dich mit Armins Leuten geprügelt. Weißt du noch?“

„Wie könnte ich das vergessen?“ Angesäuert von der Erinnerung, strich er sich mit dem Daumen über die Narbe an seiner linken Backe. Ein Überbleibsel von dem Kampf mit einem gefährlichen Feind.

„Und kurz danach hatte ich dich aufgegabelt. Ich war damals total baff, dass du das Spektakel überlebt hast. Ich dachte, du hättest nicht alle Tassen im Schrank!

Für einen kleinen Jungen ist das hier ein übles Pflaster und Armins Männer sind Ausgeburten der Hölle. Er selbst ist beileibe kein Dummkopf.“

„Hey, so klein war ich nun auch wieder nicht ...“

„Trotzdem, ohne meine Unterstützung hättest du hier kein Jahr durchgehalten. Geschweige denn von neunzehn Jahren.“

„Ich bin dir ja für deine Hilfe auch dankbar, Molly“, seufzte er tief, „aber heute bin ich nicht mehr so wie damals ...“

„Und wie bist du heute?

Du erzählst nie viel von dir, Zach, doch ich gehöre wohl zu denen, die dich am besten kennen, oder?

Wenn du mit achtzehn auf einem rebellischen Trip der Selbstzerstörung warst und dir alle Welt zum Feind machen wolltest, bis du heute nicht viel anders. Nein, sogar noch gefährlicher, denn nun hast du auch noch Erfahrung.“

„Ist doch egal, wie ich bin und wer ich war“, wich er ihr aus. Das Thema war ihm unangenehm.

„Natürlich“, zuckte sie die Schultern, „mich geht es wenig an, solange du mit dir klarkommst.“

„Komm ich. Ich hab dir das Wesentliche erzählt, belass es dabei ...“

Molly griff nach ihrer Schachtel Zigaretten und zündete sich eine an. Mit einem Rauchschwall zählte sie auf: „Ja, ich weiß, was du mir sagtest ...

Niemand wollte dich haben, weder deine leiblichen Eltern, noch die im Waisenhaus. Und deinen Adoptiveltern warst du mehr eine Last als ein Segen, also bist du weggelaufen.

Ich habe von solchen Schicksalen schon hundertfach gehört und für keines dieser Leben ging es je gut aus. Kinder sollten Liebe erfahren, denn sonst werden sie nur zu grausamen Menschen. Von denen haben wir hier genug.“

„Du machst dir Sorgen um mich?“

„Klar. Ich befürchte, dass du irgendwann deinen letzten Winter erleben wirst. Ich sehe dich eines Tages im Schnee liegen – tot – und dabei muss du nicht einmal durch einen Feind gestorben sein.

Du bist ein kluger Junge. Und deshalb leidest du in dieser kalten, dummen Welt mehr als jeder geistlose Penner von der Straße.“

Unruhig fing Zach an, auf dem Sitz hin und her zu rutschen. Er hatte das Bedürfnis, den Raum zu verlassen, die Fortführung dieses Gespräches zu meiden. Über sein Gefühlsleben wollte er mit niemanden debattieren, selbst mit Molly nicht.

„Wer hätte gedacht, dass du so ein tiefsinniger Kerl bist, Zach. Aber im Suff hast du zu viel geredet, und das machte mir Angst. Vielleicht habe ich nicht entsprechend reagiert, ich war schließlich auch nicht mehr ganz nüchtern ...“

„Bitte lass das, ich will nicht wissen, was -“, doch achtete sie seine Unterbrechung mit keiner Silbe.

„Du fühlt dich deplatziert in diesem Leben? Damit bist du nicht allein. Du hast Fehler gemacht? Ich auch, mehr als genug. Alles erscheint dir sinnlos? Das ist unser Dasein, wir können es leider nicht ändern, Schatz ...“

Er schüttelte den Kopf und raunte dunkel: „Erzähl von anderen Dingen, aber nicht davon! Ich will nicht daran denken!“

„Ich kann verstehen, dass du nicht darüber reden willst -“

„Eben, ich will nicht“, erklärte Zach bestimmt. „Ich will nicht über das reden, was war. Hier ist mein Leben und ich weiß selbst, dass es nichts bringt, und trotzdem lebe ich noch immer. Du machst dir umsonst Gedanken, Molly.“

„Du sprichst wieder wie ein Kind, das wegläuft“, seufzte sie.

„Und wenn, dann lass mich, ich bin nicht dein Kind -“, und prompt, dass er das sagte, biss er sich auf die Zunge. Das hatte er nicht gewollt, es war ihm nur rausgerutscht.

Mollys Gesicht wirkte wie in Stein gemeißelt und zugleich ähnlich dem Leiden ihrer geliebten Madonna persönlich. Warum sie dermaßen an ihrem Gott und Jesus festhing, war ihm doch bekannt gewesen, aber in seiner aufkommenden Wut trampelte er alles nieder.

Stets verletzte er die, die ihm nahe waren.

„Tut mir leid“, gab Zach reumütig zu.

„... mir auch“, sagte sie leise. „Du hast recht. Ich bin nicht deine Mutter und du bist alt genug.“

„Trotzdem. Du meintest es nur gut und ich werde gleich ... so. So wie immer.“

Schweigend saßen sie einander gegenüber. Die Tassen und Teller waren leer.

Langsam machte Molly sich daran, sie wegzuräumen und dabei sagte sie leichter: „Ist alles okay, Zach. Mach dir keinen Kopf, das kratzt mich schon lange nicht mehr. Sieh es als Ausgleich dafür, dass ich dich die Nacht falsch angefahren habe.“

„Würde ich ja gern, aber ich kann mich nicht so gut an das Gesagte erinnern“, versuchte er sein übliches Grinsen.

Sie stupste ihn gegen die rechte Schulter und donnernde Schmerzen schossen durch seinen Körper ins Hirn hinauf.

„Ups“, spielte sie die Unschuldige, „dann war das die Quittung.“

„A-akzeptiert“, japste er. „Gottverflucht, Frau, du bringst mich noch mal um ...“

Schon klapste sie ihm an den Hinterkopf. „Und fluche nicht auf Gott.“

Im Laufe des Tages sprachen sie über erfreulichere und banalere Themen. Während Zachs Rücken und Kopf langsam besser wurden, zerstreute Molly seine trüben Gedanken mit Klatsch und Tratsch aus dem Untergrund. Es interessierte ihn zwar nur halbherzig, ob Nutte A sich mit Nutte B wegen eines Typen stritt, oder welche Bar mal wieder kurz vor dem Bankrott stand, aber wenn Gangs gegeneinander antraten oder Großbosse Banden übernahmen, war das recht praktisches Wissen.

Dass beide auch erneut im Bett zusammen landeten, war eine gute Ablenkung und nicht zuletzt trank er – trotz des gestrigen Übermaßes – ein paar Bier.

Alkohol, Sex, Leben. Alles für den Augenblick, allein, um den nächsten Tag noch zu erleben. Oder das ganze Jahr. Vielleicht sogar dreißig, vierzig, gar fünfzig Jahre, sollte er derart lang im Hafen bleiben.

Würde er den Rest seines Daseins im Altersheim verbringen? Sich von nörgelnden Schwestern pflegen lassen, Windeln tragen, unnütze Tabletten schlucken und jammernd daran zurückdenken, was er mal für ein Mann gewesen war? Killer in Rente, sein Messer zum Küchenutensil verkommen.

Was für eine Horrorvorstellung.

Er dachte eindeutig zu viel nach.

„Ich habe nichts dagegen, wenn du heute Abend noch bleiben möchtest“, sagte Molly in einem besorgten Ton und reichte ihm seinen schwarzen Mantel, der sauber nach Weichspüler roch. Wenn Zach sich recht entsann, war dies wirklich das erste Mal gewesen, dass das Ding gewaschen wurde ...

Er nahm das gute Stück auf und schüttelte den Kopf. „Nein, lass mal. Ich hock hier schon viel zu lange rum, das ist mir nichts.

Außerdem soll auf meinem Grabstein nicht stehen, ich hätte den Schwanz vor der Dunkelheit eingezogen. Bin doch selber groß und böse.“

Sein dreistes Grinsen erwiderte sie schwächer und antwortete: „Ja, ich weiß. So ein Ruf passt nicht zu dir.

Trotzdem, die Nächte sind noch nicht sicher“, und Molly sah durch die Eisblumen an der Fensterscheibe nach draußen.

„Ich habe irgendwie ein schlechtes Gefühl“, gestand sie ihm. „Heute ist die letzte Nacht, die Geister werden nervös und gereizt. Morgen ist der Dreikönigstag. Ihre Zeit ist um. Du musst mir versprechen, gut auf dich aufzupassen, Zach.“

„Vor falschen Geistern fürchte ich mich nicht“, war er überzeugt von seinen Fähigkeiten und tätschelte vielsagend das Messer in seiner Gürtelscheide. „Wer versucht, mir krumm zu kommen, den mach ich zu einem echten Geist.“

„Meide den Ärger und Menschen, denen Geld mehr bedeutet als ein Leben. Ich habe um Schutz für dich gebeten -“

Zach verdrehte stöhnend die Augen. „Bei wem? Gott? Schätzchen, ich bitte dich. Du bist klasse, aber ein fiktiver Heiliger kann mir nicht helfen. Das muss ich schon allein hinkriegen.“

Bevor sie ihm wieder eine klatschen konnte, verschwand er leichtfüßig mit einem jungenhaften Lächeln zur Haustür hinaus.

Zach hasste es, dass Molly ihn dermaßen mit ihrem Gott nervte, jedoch konnte er es durchaus verstehen.

Wenn eine resolute Frau wie sie sich so sehr Kinder wünschte und dann keine bekommen konnte, war das ein mieser Scherz. Da wurde nach jeder gereichten Hand der Arm ausgestreckt, egal wie hirnrissig sie ihm erscheinen mochte.

Zu ihrem Glück war die Freundin keine dieser lästigen Missionare, die ihn auf die Seite von Gott, Allah, Vishnu oder Hachiman ziehen wollten, wahnsinnigen Propheten folgten und den Weltuntergang herbeisehnten. Solche Typen konnte er auf den Tod nicht ausstehen und gern würde er jeden einzelnen auf ein kleines Treffen ohne Wiederkehr zu seiner Scheinheiligkeit schicken.

Mit den Händen in den Taschen, stapfte er durch den Schnee.

Die Straßen und Gassen im Hafengebiet waren zurzeit noch sehr bevölkert und Bürger verschiedenen Standes suchte nach einer warmen Braustube, gemütlicher Gesellschaft, lockerem Zockerglück oder käuflicher Liebe. Wem das nicht genügte, suchte inoffizielle Geschäfte, spionierte nach unvorsichtigen Opfern und besprach Heimlichkeiten mit zweifelhaften Sippschaften. Dabei war es ratsam, keine zu langen Ohren zu machen.

Solange man selber nicht in den Banden mitspielte, blieb man für deren Belangen lieber blind und taub. Einmischung konnte tödlich enden.

Wovor hat Molly Angst? Zach würde niemanden herausfordern, den er nicht bezwingen konnte. Erfahrung hatte ihn gelehrt, sich aus allem rauszuhalten, was ihn nichts anging. Also keine Panik.

Abgesehen davon, hatte er wie versprochen sein Geld von ihr zurückerhalten und musste heute und die kommenden Nächte kein Spiel mehr mitgehen, um über die Runden zu kommen. Ja, er hatte sogar vor, schnurstracks nach Hause zu gehen und die Scheine sicher zu bunkern, bis sie aufgebraucht waren. Erst dann würde er vielleicht kurz auf die Piste gehen, bloß so, um seine Depression zu vergessen.

Die letzte Nacht sollte eine ruhige werden ...

„Guten Abend, der Herr.“

Zach wachte aus seiner Gedankenwelt auf.

Der gelbe Schein der Straßenlaternen beleuchtete den Schnee auf den Gehwegen und ließ die eisigen Kristalle funkeln. An einem der mit Frost überzogenen Eisenmasten gelehnt, stand ein Mann; in einen schwarzen Mantel gehüllt, mit schiefergrauer Hose und derben Stiefeln. Sein Gesicht verdeckte eine Melone aus Filz, doch im Schatten der Hutkrempe glimmte sacht eine Zigarette auf.

„Verpiss dich!“, entgegnete Zach wenig freundlich und baute seinen großen Körper gerade auf, um die eigene Stellung zu markieren. Eine selbstsichere, starke Haltung reichte oft bei den ersten Anzeichen eines Konfliktes aus und kleinere, schwächere Personen wurden so in die Schranken verwiesen.

Den Schattenmann kümmerte seine Drohgebärde aber wenig. Gelassen rauchte der seinen Glimmstängel weiter und stellte beiläufig mit lahmer Stimme fest: „Ist kalt heute. Eine kalte Nacht.“

„Wie jede Nacht“, entgegnete Zach gereizt. Ihm war wenig nach Small Talk zumute, vor allem mit diesem Kerl, und somit kam er gleich zur Sprache: „Was willst du von mir, Enki?“

„Ich?“, fragte der andere betroffen. „Ich will gar nichts von dir, Knife.

 

Doch meinem Boss gehst du ziemlich auf die Nerven. Hat gehört, dass du kürzlich den Jackpot geknackt hast. In seinem Gebiet, also gehören ihm achtzig Prozent des Gewinns. Und weil du schwer zu überreden bist, schickt er mich, sein Geld einzufordern.“

„Armin ist ein schlechter Verlierer“, lachte Zach abschätzig. Er wusste, dass es nichts brachte, sein Glück zu leugnen, sein Gegner hatte bestimmt gute Informanten. „Mein Blatt war super. Ich hab nicht seinetwegen gewonnen.

Mein Geld geht ihn ’nen Scheiß an, klar?“

„Aber ich hasse es, den Müll rauszubringen ...“, sagte Enki mit einem Drohen in der Kehle. Seine einzige Bewegung war, die verrauchte Kippe auf den Bordstein zu schmeißen. Allein in dieser winzigen Banalität zeigte sich eine scharfe Präzision.

Enki war ein Killer ohne Stil. Ein bezahlter Verbrecher und gnadenloser Mörder. Für Geld tat er alles, was sein Auftraggeber von ihm verlangte, ganz egal, ob es dabei Kindern, Frauen oder Greisen ans Leben ging. Wenn der Kerl es gewollt hätte, wäre Zach bereits in jeder Sekunde gestorben, die er in der Gegenwart dieses tödlichen Mannes verbrachte.

Jedoch hielt die Angst vor Armin oder seinem bissigen Lakaien sich bei Zach erstaunlicherweise in Grenzen. Ein Normalbürger wäre bei diesem Feind in Panik ausgebrochen und hätte seine erbärmliche Existenz mit allen Wertsachen bezahlt, die er bei Leibe trug. Nur ein Idiot wäre so selbstlos, einen Großmagnaten der Unterwelt und den brutalsten Mann des ganzen Hafengebietes die Stirn zum Trotz zu bieten.

Zach grinste weiter. Er war ja ein Riesenidiot.

„Wenn Armin mein Geld will, kannst du ihm das sagen“, und er zeigte Enki den Mittelfinger.

„Soll das dein letztes Wort sein?“, grollte ihm sein Gegenüber.

„So ziemlich, du sabbernder, höriger Arschkriecher“, provozierte Zach ihn heftiger und öffnete seine Mantelknopfleiste, um die Hand an den Messergriff zu legen.

Enki stieß sich vom Laternenpfahl ab und trat ihm entgegen, die Hand versteckt in der Seitentasche seines Mantels. Erst vermutete Zach dort seine Waffe, doch der Mann zog nur ein Zigarettenetui heraus und zündete eine neue Lunte an.

„Weißt du eigentlich, was du für ein Glückskind bist, Knife?“, verwickelte Enki ihn wieder in ein Gespräch und blies den Qualm aus. „Du bist praktisch unnahbar.

Keine Angehörigen. Keine feste Bindung. Niemand liegt dir sehr am Herzen, dir ist jeder Mensch gleich und entbehrlich. Dich kann keiner erpressen mit der Entführung oder dem Sterben eines geliebten Menschen.

Das muss ein sehr einsames Dasein sein. Ist da wirklich niemand? Was wäre, wenn doch? Wenn du dich einem Menschen nur anvertraut hättest, wie wäre das Gefühl, denjenigen zu verlieren?“

Unter der Hutkrempe blitzen schalkhaft die dunklen Augen auf.

Zachs Magen verkrampfte sich plötzlich. Schrecken nagte an ihm. Um sein Leben machte er sich keine Gedanken, aber ...

Würde Armin das wagen? Nein, niemals. Keiner könnte die Hand legen an -

„Schon bedauerlich“, deutete Enki mehr an, wissend, wie er Zach damit aufwühlen würde, „sie machte wirklich einen guten Kaffee.“

Nein, nein, nein! Verdammter Mist!

Eilig machte Zach kehrt, auch wenn dies die völlig falsche Reaktion war. Enki nutze seine Blöße natürlich aus, um ihn mit der wendigen Schnelligkeit einer zubeißenden Schlange anzugreifen. Und das ebenfalls mit einem Messer. Eine lange, silbrig glänzende Klinge schwirrte singend durch die Luft und hätte ihn fast das linke Auge gekostet, wenn er denn nicht zurückgewichen wäre. Stattdessen schnitt der Stahl eine Wunde, parallel zu der Narbe von einst, in seinen Unterkiefer.

Vor Überraschung wankend, stolperte Zach zur Seite und landete keuchend in den am Rand hoch aufgeschaufelten Schneehügeln, wo er donnernd mit dem Hinterkopf gegen eine Hauswand schlug. Sein Blickfeld begann sich zu drehen und er kniff kurz die Augen zusammen, stellte jedoch beim Öffnen fest, dass Enki verschwunden war. Sein Andenken hatte dieser Söldner hinterlassen.

Mit dem Ärmel wischte er das Blut von seiner Backe.

Du dämlicher Volltrottel!, schimpfte er in Gedanken über die eigene Unvernunft.

Was für ein laienhafter Fehler, diesem Irren den Rücken zuzudrehen. Dabei nütze es gar nichts. Es würde zu spät sein. Viel zu spät. Dieser Mistkerl hätte ihm nichts gesagt, wenn es denn eine noch so geringe Chance gäbe, sie zu retten.

Es war zu spät.

Wäre er nur geblieben.

Bloß diese eine Nacht noch, dann wäre es vorbeigewesen.

Ihn traf die Schuld, dass ...

Heiß liefen plötzlich Tränen seine Wangen hinunter. Er konnte es nicht verhindern. Das Salzwasser quoll einfach aus den Augen und brannte hässlich im offenen Fleisch der Schnittwunde. Es tropfte auf seine Kleidung. Fror fest in der Kälte.

Es war seine Schuld.

Dieser Fluch war seine Schuld.

Stets verletzte er die, die ihm nahe waren.