Mit schwarzen Flügeln

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Jaspis trabte stolz durch die Straßen Aziluts. Wild schüttelte er die lange Mähne und peitschte einem Nachgehenden keck den Schweif ins Gesicht. Demutsvoll machte die umstehende Bevölkerung ihm Platz, während weiße Blütenblätter wie Schnee aus dem blauen Himmelszelt fielen und von seinen Hufen zerstampft wurden.

Die Rückkehr der Gardeeinheit aus dem Hades wurde pompös gefeiert, als kämen sie geradewegs von einer siegreichen Schlacht aus den unbekannten Tiefen des feurigen Höllenpfuhls. Man umtoste sie, klatschte, lachte, umschwärmte jeden einzelnen Soldaten. Von Fanfarenschall begleitet, prasselten lauthals Lobgesänge auf den strahlenden Morgenstern hernieder, den erlauchten Gardeführer.

Sie trugen ihn quasi auf Händen, als hätte er Satans gesamte zähnefletschende, gewaltbereite Brut geschlagen. Dabei war es nur wehrloses Fußvolk, das von Kriegsstrategie, Truppenstellung und Waffenkunde keinen Deut verstand und somit belanglos niedergemetzelt wurde. Doch sie feierten ihren Helden, ihren glorreichen Seraph.

Luzifel musste an sich halten, nicht zu schreien.

Was redeten die Leute? Verstehen sie nicht? Sie verehrten einen geisteskranken Mörder ...

Denn was sonst war er? Tötet mal so zig schwache Dämonen und schlägt selbst noch auf seinesgleichen ein. Mit jedem Schritt zog er eine Wolke aus Tod und Blutgestank nach sich, sein Inneres bebte vor Zorn und Verzweiflung. Er fühlte so viel Schreckliches, das er kaum fassen konnte. Ekel kroch in ihm hoch und wandelte sich in Wut. Wut auf diese zujubelnden Idioten. Wut auf Gott, den Rat – auf sich selbst.

Wieso machte er dieses Narrentheater mit? Hatte er völlig den Verstand verloren? Er sollte Jaspis die Sporen geben und ausbrechen, fliehen! In seinen Hof – sein Heim – sein Gefängnis zurückreiten, die Fenster und Türen schließen, sich einsperren – alles aussperren! Um schließlich weinend am schwärzesten Punkt seiner Seele zu zerbrechen.

Ich will nicht mehr.

Nein, es war ihm nicht vergönnt, auch bloß einen Moment Erschöpfung zu zeigen. Ein Engel wankte nicht. Zagte nicht. Sondern diente allein dem Befehl seines Gottes.

Reißt mir mein Herz heraus, ich will das nicht mehr fühlen ...

Seine Garnison wurde auf den Großen Platz vor das Erztribunal geleitet, wo der Hohe Rat führend residierte. Ein gigantischer, weißsteiniger Gebäudekomplex, thronend auf einem Hügel marmorner Treppen, von unzähligen hohen Säulen gereiht und einer goldenen Kuppel gekrönt. Dagegen verblasste der Schein des Hohen Gerichtes in Beriah maßlos.

Trompetenschall verkündete von den Zinnen her ihre Ankunft und die Schar der treu-dummen Bewunderer schien jeden Winkel des Areals zu füllen.

Unter Applaus sattelten die Gardisten ab. Allein Luzifel blieb auf Jaspis sitzen und sah zu den geschmückten Emporen hinter dem Säulenwall oberhalb der Treppen hinauf. Jenseits dieser Mauern warteten sie auf ihn und seinen Bericht. Es würde ihn erstaunen, wenn sie nicht auch von seinem Vergehen wüssten.

„Luzifel!“, rief droben eine vertraute Stimme und die Stufen kam ein Mann hinunter, zu dem er keinen größeren Gegensatz hätte bilden können. Sowohl charakterlich als auch körperlich war sein jüngerer Bruder das Kehrstück der Medaille.

Michael war groß und drahtig demselben Sternenfeuer wie er entsprungen – deswegen nannten sie einander Brüder. Der strahlende Seraph und Erzengel ersten Ranges war eine dem Standard entsprechende Frohnatur, witzig und beliebt bei jedermann. Er ließ sich nie etwas zuschulden kommen und wurde dafür mit einem ruhigen Wachposten in der vierten Sphäre belohnt. Nebenbei stand er wie Luzifel unterstützend dem Hohen Rat zur Seite, was auch seine Anwesenheit hier erklärte.

Es widerstrebte Luzifel zutiefst, sich in Gesellschaft des kleinen Bruders vor Metatron und den anderen zu rechtfertigen.

„Komm runter von deinem hohen Ross!“, forderte ihn Michael lächelnd auf.

Luzifel seufzte und saß ab. Mit seinem Bruder auf einer Stufe stehend, musste jedem der Unterschied ins Auge fallen. Er reichte ihm gerade bis zur breiten Schulter. Wenn es jemand wagen sollte, darüber Witze zu reißen, würde er das Schwert zu spüren bekommen.

Michael stutzte naiv über sein verdrießliches Gesicht. „Was hast du, Lou? Geht es dir nicht gut? Wurdest du verletzt?“

„Seh ich so mies aus?“, entgegnete Luzifel barsch.

„War ja bloß eine Frage. Wie war die Reise?“

„Unspektakulär. Können wir gehen?“

„Ähm, klar?!“

Verwirrt lenkte Michael ihnen beiden den Weg wieder hoch zur Eingangstür des Tribunals frei. Die Einheit und ihre Verehrer blieben unten zurück.

Beim Steigen suchte der blonde Engel erneut das vertraute Gespräch: „Geht es dir wirklich gut? Du machst auf mich einen leidenden Eindruck, mein Großer. Vielleicht solltest du dich -“

Sein Bruder unterbrach ihn: „Erwartest du, dass ich mich freue, nur weil Metatron mir an den Kragen will? Ich würde sonst was dafür geben, diese Audienz sein zu lassen. Der wird sich aufspielen, als sei er der Erste und ich ein kümmerlicher Malach, der gerade im Hain geschlüpft ist.“

Michael lachte. „Ja, das hätte er wohl gern.“

„Als ob ich Schuld dran hätte, dass Jahwe ihn erst an zweiter Stelle schuf. Soll er bei ihr Beschwerde einreichen, aber dazu fehlen ihm ein paar Federn im -“

„Lou, reg dich nicht auf. Das Theater von ihm kennen wir doch schon ewig. Du bist so mürrisch in letzter Zeit.“

Vor der goldenen Tür blieb Luzifel stehen und sah seinen Bruder ernst an. „Ich bin gelangweilt, Mike. Hochgradig gelangweilt und todmüde. Wozu bin ich gut? Zur Dämonenjagd? Ein schlachterprobter Kriegsherr gegen Hirten und Bauern.“

„Das geht vorbei. Du bist halt etwas schwer-“

„Ach was! Jetzt hör mir doch mal zu!“, fauchte er Michael zwischen Zorn und Verzweiflung an. „Ich hab ein echtes Problem, Kleiner! Das lässt sich nicht so einfach lösen! Tu nicht so, als hätte ich bloß die Mauser!“

Durchatmend legte Michael ihm den muskulösen Arm über die schmalen Schultern. „Lou, bleib ganz locker. Würde es dir was bringen, wenn wir nach der Anhörung was zusammen trinken gehen? Dann hör ich mir dein Problem in aller Ruhe an, ja?“

Wer’s glaubt ...

Luzifel stöhnte auf. „Und was bringt mir das? Kannst du mir denn helfen?“

„Mal sehen. Im Notfall fragen wir Gott, ob sie nicht etwas für dich tun kann.“

Ihre Hilfe war die letzte, die er wollte.

Der Hohe Rat der Engel bestand im Wesentlichen aus den beiden Seraphim Metatron und dessen Zwillingsbruder Sandalphon. Das Hauptsagen hatte Metatron und nicht wenige bezeichneten ihn im Geheimen als König der Engel. Er selbst unternahm alles, um diesen Ruf zu nähren. Ohne seine Zustimmung entstand nichts im Himmelreich, und Metatron genoss es, dass man für ein Wohlwollen vor ihm kriechen wie betteln musste.

Die zwei Geflügelten waren wie Luzifel und Michael vom ersten Rang, aber ihr äußeres Erscheinungsbild war silberweiß, weswegen besonders der Ratsvorsteher gern auf den schwarzhaarigen Fürsten herumhackte. Silber und Gold standen ja besser im Kurs als schlichte Kohle.

Zu den beiden gesellten sich vier Berater, zu denen Michael gehörte, und des Weiteren die Cherubim Gabriel und Uriel, sowie der Thron Raphael zählten.

Und dann gab es noch den obersten Richter des Hohen Gerichtes auf einem Sonderposten, den eigentlich auch Luzifel als Gardeführer innehatte. Wahrscheinlich rührte von dessen Teilung her der Ursprung ihrer andauernden Rivalität.

Kamael zählte zu den Gewalten in der zweiten Triadenhierarchie der Engel und ihre gegenseitige Abneigung überflügelte sogar noch Luzifels Verachtung gegen Metatron. Zum Beispiel hielt er das blasierte Weißhaupt für einen wichtigtuerischen, großkotzigen, dumm schwafelnden Aufschneider – und machte keinen Hehl drum, ihm das auch mit diesen Worten zu verdeutlichen. Die Anbiederungsversuche des Juristen widerten ihn an. Und dass er sich aufspielte, als gehöre er zu seiner Riege, obwohl jeder wusste, dass Gott selbst nie sein Feuer berührt hatte ...

Derartig schlecht, wie Luzifel von ihm dachte, musste mindestens auch Kamael ihn verurteilen. So gut sie konnten, versuchten sie einander aus dem Weg zu gehen.

Umso mehr stieß Luzifel die Galle sauer auf, als er das selbstgefällige Grinsen in dem spitzen Gesicht Kamaels erkannte, nachdem er den mächtigen Audienzsaal betrat. Der Kerl hoffte auf etwas und ihm würde das sicher nicht gefallen.

Michael ging zu den anderen Beratern seitlich des Raumes. Sein großer Bruder blieb mittig vor den zwei goldenen Pfeilern stehen, an deren Spitzen die opulenten Thronsessel der Zwillinge ihren Platz hatten.

In üppig-prachtvolle Gewänder aus Gold, Rot und Weiß gekleidet, blickten Metatron und Sandalphon auf ihn herab. Der eine streng, der andere gutmütig.

„Fürst Luzifel Morgenstern, wir haben dich erwartet!“, fing Metatron an, mit orphischer Stimme zu sprechen und sein Zwilling setzt zärtlicher nach: „Willkommen zurück aus dem Totenreich.“

Luzifel nickte ruhig. Ihm war klar, bei wem er Sympathie hatte und bei wem nicht.

„Berichtet uns, was im Hades geschah“, sprachen die Zwillinge zeitgleich, jeder in seinem Ton.

„Wir verfolgten eine ziehende Gruppe Dämonen und vernichteten sie bis auf den letzten Mann“, blieb Luzifels Stimme monoton.

Metatron beugte sich vor und sein ewig junges, blassäugiges Antlitz wirkte ungehalten in Falten gelegt. „Sicher haben die Dämonen Widerstand geleistet?“

„Nein, es waren nur einfache Reisende. Sie konnten uns nichts entgegensetzen, wir hatten leichtes Spiel. Wie so oft“, verkniff er sich die Spitze keineswegs.

 

Sandalphons Miene vollzog ein zufriedenes Schmunzeln. „Somit war keiner unserer Krieger in ernsthafter Gefahr. Sie sind alle mit Euch heimgekehrt.“

„Nein, sind sie nicht“, stach Metatron seinen Zwilling aus, „es starb der Thron Tzaphiel.“

Raphael horchte auf und fragte: „Was ist passiert?“

„Ich tötete ihn“, gab Luzifel ohne Zögern zu.

Bei den Beratern herrschte aufgebrachtes Gemurmel und sein Bruder blickte beunruhigt zu ihm herüber, jedoch achtete Luzifel ihn nicht.

„Was rechtfertigt Eure scheußliche Tat?“, donnerte Metatron despotisch.

Luzifel nahm eine kühne, unbeugsame Pose ein und antwortete ausdrücklich: „Er stellte wiederholt meine Autorität als Führer der Garde infrage. Ich dulde niemanden in meinem Regiment, der glaubt, mich verspotten zu können.“

„Und das gibt Euch das Recht, einen Thron zu töten?“, fluchte Uriel empört.

„Die Garde ist mein Gebiet. Es liegt in meinem Ermessen, sie zu verwalten. Mischt Euch nicht in meine Angelegenheiten ein!“, zischte Luzifel klar zurück.

Sandalphon ergriff das Wort: „Gab es denn keinen anderen Weg, Euch Respekt zu verschaffen, Fürst Morgenstern? Selbst in Eurer Position ist ein Mord an einem ehrbaren Engel -“

„Ich wiederhole: Die Garde ist mein Gebiet. Ich befehle die Truppen und deren Einsätze.

Deswegen halte ich auch nicht viel davon, dass Metatron meint, gegen meine Order eine Garnison zusammenzustellen. Oder einen Hörigen wie Tzaphiel in meine Reihen einzuschleusen, um mich zu sabotieren. Wenn Ihr unbedingt meine Methoden auskundschaften wollt, reitet beim nächsten Krieg mit mir in die Schlacht und kämpft, statt nur hier rumzusitzen.“

Metatron erhob sich aus seinem Sitz und brüllte auf: „Was unterstellt Ihr dem Hohen Rat, Luzifel?“

Der blieb erstaunlich gelassen. „Unterstellen? Nennt mir einen Beweis, dass ich nicht die Wahrheit spreche, dann ziehe ich meine Behauptung zurück.

Es geht hier nicht nur um den Respekt meiner Soldaten, sondern auch um den des Rates. Als Mitglied dessen weise ich meinen geschätzten Kollegen darauf hin, keine Grenzen zu übertreten. Und meine Leute nicht noch einmal wegen einer solchen Lappalie ins Totenreich zu schicken.

Wir sind Krieger. Ausgebildet für den Krieg. Wir sind nicht dazu da, um Gottes Fehler auszumerzen.“

Auf dem Absatz kehrtmachend, wollte Luzifel den Saal verlassen.

Am Ausgang trat ihm Kamael entgegen. „Wie könnt Ihr es wagen, den Hohen Rat dermaßen zu brüskieren?“

Jedoch hatte sein Rivale keine Antwort für ihn parat, außer einem knurrenden: „Aus meinen Augen, Zweitrang!“, dann schob er ihn derb zur Seite.

Michael schickte sich an, eilends seinem Bruder zu folgen, der gerade wütend die Tür aufgestoßen hatte, als ihn Gabriel warnend aufhielt.

„Warte!“

Sie war der einzige weibliche Engel in der oberen Triade und von Gott persönlich sehr geschätzt. Wenn sie Gehör suchte, war es stets ratsam, es ihr zu geben.

„Was ist?“, fragte er zurück.

„Das frag ich dich. Was ist mit ihm los?“ Es war selbstverständlich, wen sie meinte.

Er hob abwertend die Hände. „Ach nichts. Er hat bloß seinen Moralischen heute. Ist wegen der Schlacht schlecht drauf. Bestimmt beruhigt er sich bald.“

Raphael murmelte in ihre Unterredung hinein: „Schöne Moral, er hat einen meiner Leute getötet.“

„Ich rede mit ihm, keine Panik“, beschwichtigte Michael beide. „Er wird sich einkriegen.“

„Wenn nicht, solltest du das Gott sagen“, riet Uriel streng. „Es ist nicht gut, wenn ein Engel mit seiner Macht plötzlich anfängt, durchzudrehen.“

„Behalte deinen Bruder besser im Auge, Michael“, drängt Gabriel ihn leise. „Ich beobachte seinen Wandel mit Sorge. Von ihm geht Gefahr aus.“

Kaum wieder außerhalb der weißen Mauern, landete Luzifel mitten in den bunten Feierlichkeiten der arglosen Stadtbewohner.

Jubelten die wirklich noch immer wegen dem kleinen Scharmützel? Na gut, seit dem letzten Krieg gab es halt keinen Grund mehr für ausgelassene Festlichkeiten. Da musste jeder Moment genutzt werden, der Anlass zur Fröhlichkeit gab.

Er schüttelte den Kopf und machte einen weiten Bogen um die lustige Gemeinde. Mit all dem selbstgerechten Pack wollte er nichts zu tun haben. Auch brauchte er jetzt weder Bewunderer noch Speichellecker. Was er brauchte, war ein wenig Zerstreuung.

Und wo die zu finden war, wusste er genau.

In Azilut bot sich dazu nur ein Ort an. Ein absoluter Geheimtipp, dessen Hüter er war. Alles nur wegen dem Rat, welcher meinte, dass solche Gelüste nichts in der Stadt Gottes zu suchen hatten. In Wilon, der ersten Himmelsphäre, fand man sie dagegen schon häufiger.

Luzifel ging die Hintergassen der Stadt entlang, wo es nicht mehr ganz so weiß glänzte oder in Silber und Gold schimmerte. Die Wege waren schmal, die Treppen steil und es herrschte eine Stille, die ihm erstaunlich gut tat. Zwar konnte man trotzdem über die Dächer hinweg leise das Echo des Trubels auf dem Platz vernehmen, aber das kümmerte herzlich wenig.

Drei, vier Ecken weiter erreichte er endlich ... die einzige Kneipe Araboths. Ohne anzuklopfen platzte er in den Raum und setzte sich an einen der vielen freien Tische.

Es gab ein gesetzliches Schema für alle öffentlichen Einrichtungen: Hauptsache Weiß. Daher waren Bibliotheken, Ausstellungshallen, Kasernen und jede Form von gastlichen Gewerben dazu verpflichtet, ihre gesamte Innengestaltung darauf auszulegen. Es zeugte von Mut – oder Größenwahn – davon abzuweichen und – wie hier – unlackiertes Holz und braune Tonkrüge vorzuweisen. Weinrote Vorhänge verdunkelten die Fenster und sperrten alles Licht aus, was den Ort zu einem gemütlichen, halbdunklen Plätzchen werden ließ. Eine Wohltat für strapazierte Sinne.

Hoffentlich war der Inhaber nicht auch zur großen Sause hin ausgeflogen ...

Mitnichten.

„Sieh einer an. Hast dich wieder verlaufen?“, begrüßte ihn der Wirt, aus dem Lager hinter der Theke sprechend.

„So ungefähr, Ramuel“, antwortete er ihm vertraut.

Eindrucksvoll wie ein rauer Berg erschien Ramuels Gestalt im Türrahmen und kam auf ihn zu. Mit seiner Größe, dem schwarzen Zottelhaar, dem Spitzbart und den dicht bewachsenen Augenbrauen hätte der Engel Metatron und seinem Gebot zur Körperpflege einen gehörigen Schrecken eingejagt. Nicht einmal die saubere weiße Robe oder der Silberreifschmuck an Ramuels Armen hätte ihn in den Augen des Rates aufwerten können, aber Luzifel war das egal.

Der Wirt machte eine spaßige Verbeugung vor dem Seraph und sprach: „Dass der Fürst aller Engel mir gewöhnlichen Grigori die Ehre erweist, meine bescheidene Kaschemme aufsucht, um sich an einer kleinen Sünde zu laben – jederzeit stelle ich mich in Euren Dienst.“

„Jetzt übertreib mal nicht!“, lachte sein Gast schallend. „Mach lieber ’nen Spruch, was du mir anbieten kannst!“

„Für dich, mein Freund, nur das Beste“, ließ Ramuel frech feixend die Höflichkeit sausen und griff nach einer versteckten Flasche hinter dem Tresen. „Ein erlesener Tropfen aus der Heimat, vom ältesten Rebstock.“

Er stellte zwei Krüge auf die Tischplatte und goss diese voll mit lieblichen roten Wein, den man nur bei einem Grigori erstehen konnte. Hätte der Seraph als Ratsmitglied einst nicht für Ramuel gesprochen, hätte der längst seine Sachen packen müssen. Aus Dankbarkeit dafür brauchte Luzifel nie wieder für ein Getränk bezahlen. Die Bar unterstützte er dennoch weiter finanziell als stiller Teilhaber.

Er mochte die Grigori. Sie machten sich nichts daraus, als zehnter Chor ganz unten in der Klasse zu stehen, waren gesellig, schlagfertig und fanden immer einen Grund zum Ausgelassensein. Sie genossen ihr schlichtes Bestehen in allen Zügen, tranken ihren Wein, sangen unverschämte Lieder und schwankten bereitwillig auf der Grenze zwischen Tugend und Sünde (welcher auch einige leichtsinnige Narren verfielen). Die Oberen hielten sie für Barbaren, obwohl das Blödsinn war. Sie hatten bloß andere Ansichten als Gott und ihr steifes Gefolge. Die Grigori wussten, dass für sie kein Platz in den Triaden war, und es war ihnen gleich. In fadenscheiniger Unschuld hätten sie nie leben können.

Gern hätte er etwas von ihrer Seite gehabt. Gern würde er allen Problemen mit einem Lächeln trotzen. Wie schafften die es nur, so ungerührt zu bleiben? Jenes lockere „Was soll’s? Schwamm drüber!“ zu sagen, fiel ihm besonders schwer.

Diesem sorglosen Gefühl wollte er sich ergeben. Hier einmal er selbst sein, unbedeutend, ohne Rang und Titel. Ein einfacher Jedermann, der sich einen Schluck Freiheit genehmigte.

Dem Wirt prostete er kurz zu und trank den Wein in einem Zug.

Michael suchte ihn überall in der Stadt, bis ihm zuletzt ein Flecken einfiel, von dem er zwar seinen Bruder hatte reden hören, dennoch es nie für möglich gehalten hätte, ihn dort vorzufinden. Schlicht, weil der Laden nicht gut genug war für den angesehenen Hauptmann der Weißen Garde. Was würden die Soldaten davon halten, wenn sie hörten, ihr Herr treibe sich in der untersten Schiene der Gesellschaft herum?

Bei dem Gedanken kurz mit den Augen rollend, rannte der Engel durch die schmalen Gassen und schlüpfte durch einen schattigen Türbogen.

Er glaubte nicht, was er sah.

Sein großer Bruder saß mit einem gewöhnlichen dunklen Grigori zusammen an einen Tisch und beide waren sturzbetrunken. Sie soffen Wein aus Flaschen, welchen nur der zehnte Chor herstellen konnte, und redeten lautstark und lallend, dass Michael froh war über die Leere des Raumes, sonst wäre es peinlich geworden.

Gut, er hatte auch vorgehabt, sich einen Drink zu genehmigen. Doch das?

„Wenigstens du hörst mir zu“, vernahm er Luzifel, der zu dem Wirt vertraut redete. „Du kannst dir nicht vorstell’n, wie gut du’s hast, Ram. Ich da oben hab echt nur den Kürzer’n gezog’n! Die sag’n alle so ’nen Mist wie: ‘Mach dir kein’ Kopf, Lou, das kommt schon alles ins Lot’, aber verdammt, nein, kommt’s eben nicht! Ich mein, wo steh ich denn? Du hast ’nen super Platz, Ram, aber ich weiß nicht, wo ich hingehör! Und Gott kann da auch nicht helfen, wegen der hab ich ja die Probleme! Bin ich echt nur dazu da, ihre Teufel zu töten? Man nennt mich schon Todesstern. Super, wa’?“

„Die ham alle kein Sch-immer, Lou! Ey, du bist der erste Typ, der sich darüber Gedanken macht! Ich weiß, du bist viel cleverer als all die Trottel im Rat. Und du hast recht! Du solltest zu Gott geh’n und der Schickse ordentlich die M-meinung geigen, dass die nicht so mit dir umzugeh’n hat. Du bist ’n En-Engelsfürst, Mann! Für wen hält die sich, hä?“

„Ihr redet hier von Gott“, unterbrach Michael die Saufbrüder und beide sahen auf.

Luzifel verzog unwirsch das Gesicht. „Och nö, da kommt der Anstandswauwau vom Chef ... Muss in die Herde zurück, wie? Wenn du hier bist, um mir was von dem Meta-Stinker zu sag’n, dann verzieh dich gleich, Mike.“ Er musste herzhaft aufstoßen, was Ramuel würdigend beklatschte.

Verständnislos schüttelte Michael den Kopf. „Lass das Metatron nicht hören. Der schafft es, dich zu degradieren.“

„Klasse, endlich kann ich diesen verflucht’n Job an den Nagel häng’n! Dann komm ich öfters rum, Ram“, lachte der große Bruder dem Wirt zu. Feierlich stießen beide mit den Flaschen an und tranken.

Michael wandte sich Ramuel zu und sagte: „Ich nehme ihn besser mit. Der hatte entschieden genug und weiß nicht, was er da redet.“

Schwankend wies Ramuel mit dem Finger auf ihn. „Sei ma’ nicht so sicher. Du magst ja die Muskeln gepachtet ham, aber Lou ist klüger als hundert von euch Hö-Hörigen.“

„Ich gebe nichts auf Trinkergeschwätz, Grigori“, entgegnete sein Gegenüber.

„Dann is’ Euch nicht geholfen, Seraph ...“

Luzifel stützend, steuerte Michael das Anwesen des Gardeführers an. Sein Bruder hatte darauf bestanden, die letzte Weinflasche mitzunehmen und Michael hoffen um alles im Himmel, dass kein Bekannter sie des Weges erblickte. Diese Peinlichkeit wollte er sich und ihm ersparen.

„Was kümmert’s dich! Is’ doch nicht dein Ruf, der den Bach abgeht ...“, nuschelte Luzifel mit einer Alkoholfahne ihm zu. Seine Augen konnte nicht mal mehr einen Punkt fixieren.

„Trotzdem, du bist mein Bruder“, entgegnete der Jüngere.

„Bruder, pah ... Wir teil’n ’nen Stern, nicht das Blut uns’rer Adern. Wann warssu mir je näher als die andern? Du verstehst nicht ma’ mein Denken ...“

„Was gibt es da nicht zu verstehen? Du bist gelangweilt von deinem Leben – fein, hab ich kapiert. Du machst dir Gedanken, weil man dich Todesstern nennt – okay. Doch du kannst Gott nicht die Schuld dafür geben, weil du unzufrieden mit dir selbst bist!“

 

Luzifel sah ihn gläsern an. „Wieso nicht? Gott hat mich erschaff’n, noch vor dir, Kleiner. Vor Meta und diesem Idioten Kam ... als Ersten ...

Is’s zu viel verlangt, sich zu frag’n, was sie damit bezweckt hat? Was will sie von einem wie mir?“

„Wir wurden geschaffen, um Gott zu dienen“, erklärte Michael überzeugend.

„Als wenn sie zig von uns in ihr’m Dienst braucht. Und dann noch der Rat – was kommandiert der uns eigentlich rum? Wieso muss ich mir was von Meta Jupiter sag’n lassen? Nee, Mike, ich glaub, Gott hat uns alle nicht ganz durchdacht, als sie uns ins Leben warf und ganz sicher hat sie nicht vorhergeseh’n, dass einer von uns ma’ ihr kleines Konzept hinterfragt.

Das Einzige, was sie macht, wenn einer zu denken anfängt, is’, ihm deutlich zu machen, wie schnell sie ihn wieder vernicht’n kann. Und der verdammte Rat petzt ihr jeden kleinen Fehltritt ...“

„Sprichst du aus Erfahrung, Lou?“

Michael war genervt und das hörte sein Bruder. Luzifel löste sich von seiner Stütze und ging wankend den Weg allein.

„Du denkst auch nicht gern, was, Mike? Daran, was is’ oder sein könnte. Warum du bist, wie du bist ... und was alles in deinem Leben keinen Sinn ergibt. Du siehst nicht, was falsch läuft. Du nimmst alles von Gott gegeben hin und fertig. Wozu hast du deinen Kopf?“

Der winkte ab und kehrte um. „Ich red später mit dir, wenn du wieder nüchtern bist ...“

„Weißt du“, rief Luzifel ihm nach, ohne sich ihm zuzuwenden, „warum Gott ’ne Frau is’?“

Michael dachte nach und antwortete: „Sie ist eigentlich weder das eine, noch das andere, kann aber beides sein.“

„Jetzt is’ sie ’ne Frau.“

„Ja und?“

„Das is’ sie nur wegen mir, Kleiner. Nur wegen mir.

Ihr nennt mich den Schönsten aller Engel, doch warum gab mir Gott diesen Körper? Und sich selbst den einer Frau?

Jetzt rate ma’ das kleine Geheimnis, Bruderherz. Wenn wir Engel Gott ja immer zu Diensten sein sollen, kann ich mich nicht dem verweigern. Ich muss tun, was sie will.

Bin ich nur dazu gut? Ihr willenloses Spielzeug, das ohne Widerrede für sie tötet.

Aber ich hab genug davon.“

Obwohl ihm der gequälte, ja beinahe furchtsame Ton in seiner Stimme auffiel, seufzte Michael bloß träge und fuhr durch sein blondes Haar. „Du redest wirr. Vielleicht solltest du aufhören, zu trinken. Du bildest dir zu viel ein, Lou.“

Schwerfällig betrat Luzifel das Wohnhaus seines Gutshofes. Der Wein war zur Neige gegangen. Den Inhalt hatte er wie Wasser getrunken, damit der Alkohol ihn benebelte, sonst wäre er vor Zorn geplatzt! Und zeitgleich vor Trauer in Tränen ausgebrochen.

Keiner glaubte ihm. Nicht einmal dieser Bruder. Der Verräter. Der Kleingeistige.

Er wollte ihn ins Vertrauen ziehen, den Ballast von seiner Seele lösen, und was sagte der?

Du bildest dir zu viel ein.

Oh, er wollte so sehr schreien ...

„Samael?“, fragte er leise nach dem Getreuen.

Die Stille antwortete. Der Malach war wohl nicht zugegen. Gut. So sparte er sich die Erklärung ihm gegenüber. Bestimmt hätte der unwissende Junge es nicht ertragen können, ihn in seinem delirierten Zustand zu sehen.

Erschöpft warf er seinen matten Körper auf die nächstbeste Liegestatt und ließ den Rausch seine Wirkung entfalten, bis sie denn irgendwann verflog. Dabei wollte er mehr, um die Gedankenflut in seinem Kopf auszulöschen. Um zu vergessen, was war ...

Da hörte er sie sprechen.

„Ach je. Ein feiner Engel bist du. Riechst nach Blut und Wein. Ich war schon mal Besseres von dir gewohnt, mein hübscher, kleiner Luzifel.“

Er sah auf. Neben ihm stand Gott. Trotz der Dunkelheit der geschlossenen Fenster umgab sie zartes Gesicht ein leuchtender Schein und das goldene Haar fiel lang bis zur schlanken, weiß umhüllten Hüfte.

„Ich habe gehört, was du heute im Tribunal gesagt hast. Auch habe ich belauscht, was du diesem Grigori anvertraut hast. Selbst das heimliche Gespräch mit deinem Bruder habe ich vernommen.“ Ihr charmantes, fast kindliches Antlitz lächelte lieblich.

„Wundert mich nicht“, lachte er ironisch und drehte sich in das Polster. „Deine Ohren sind ja überall, Jahwe. Niemand ist frei von dir. Ich erst recht nicht.“

„Mein Name klingt so schön von deinen Lippen, selbst wenn sie trunken sind.“

Er fühlte, wie sie durch sein Haar, über den Nacken und das Rückgrat strich. Diese Berührungen wurden ihm schon lange unangenehm. Trotzdem musste er sie zulassen. Es stand ihm nicht zu, sie abzulehnen. Seinen Gott abzulehnen.

Immerhin schien ihr seine verkrampfte Haltung aufzufallen.

„Du grübelst zu viel, Luzifel. Keine Überraschung, dass mein schöner Junge glaubt, seinen Verstand zu verlieren, wenn er nur über so schreckliche, sorgenvolle Dinge nachdenkt. Es betrübt mich, dein Herz an diesen Nebensächlichkeiten so hängen zu sehen. Vergiss sie.“

„Warum rätst du mir das?“, fragte er und hoffte inständig, dass ihr das Beben seiner Stimme verborgen blieb.

„Weil dein Herz allein mir gehört, mein Liebster. Schließe deshalb deine Augen, Luzifel, und vergiss deine Bedenken und Zweifel. Begehre nicht gegen mich auf. Ich bin dein Gott.“

Machte der Wein ihn schläfrig? Wie konnte er müde sein?

Heiß spürte er ihren Atem an seinem Ohr.

„Ich bin hier, um dich zu beschützen, auch vor dir selbst. Gott ist immer an deiner Seite. Vergiss deine Sorgen, mein kleiner Engel. Dein Platz ist bei mir. Bleib mir treu und es wird dir bis in alle Ewigkeit an nichts mangeln.“

Bis in alle Ewigkeit?

Bis in alle Ewigkeit.

Ein Knecht.

Ein Diener Gottes.

Bis in alle Ewigkeit.

Wollte er das denn wirklich?

Seine Augenlider wurden schwer und schwerer.

„Schlaf, mein Luzifel. Mein Licht. Deine Sorgen werden im Schlaf vergehen.“

Nein, ich werde nicht ...