Mit schwarzen Flügeln

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Sie trafen auf Metatron und Sandalphon, die über etwas debattierten, bei dem die Zwillinge sich mal wieder uneins waren, und so manches Mitglied des Hohen Gerichtes war auch zugegen. Zum Glück traf er aber Kamael nicht an, sonst wäre die Party schnell gesprengt worden.

Seine Wege kreuzten aber die von Gabriel und Uriel, die augenblicklich zu flüstern aufhörten, als sie merkten, dass er sie beobachtete. Was die spießige Statthalterin und der pingelige Herr vom Ordnungsamt zu verheimlichen hatte? Bestimmt nichts Gutes. Er würde ihre Schnapsideen sicher ausbaden müssen.

Zu späterer Stunde versammelte sich die vergnügte Gesellschaft im Hörsaal, um dem angekündigten Harfenkonzert zu lauschen. Luzifel nahm einen Platz im hinteren Teil von Jahwes Loge im Schatten des grellen Bühnenlichtes ein und hoffte, zumindest den Eindruck zu machen, als ob es ihn gefiel, was seine Ohren hörten.

Das himmlische Musikverständnis hatte ihm nie behagt. Das seichte Gezupfe und Tongeplätscher war seiner Meinung nach nicht weniger überflüssig, wie das ganze reine Weiß um ihn herum. Wäre die Welt Gottes nicht immer noch die ihre, wenn man mal etwas an der Ausstattung ändern würde? Er verlangte ja nicht viel. Bloß etwas mehr Farbe. Kontrast. Lautstärke.

Nach drei Stücken hatte er das Gefühl, sein Kopf sei mit Luft gefüllt. Jede neu gezupfte Saite war ein reißender Nervenstrang in seinem Gemüt.

„Langweilt dich die Vorstellung, mein Luzifel?“, lächelte Jahwe ihn an, wohl wissend, was er dachte.

„Sie ist entsprechend der Veranstaltung.“ Eine Zumutung.

Sie kicherte verspielt.

Schön, wenn sie sich so amüsiert, dachte er spöttisch und verdrehte die Augen. Ich habe andere Sorgen ...

„Jahwe, ich würde gern mit dir im Vertrauen sprechen wollen“, flüsterte er ihr ernst zu, da gerade ein weiteres Stück geendet hatte. Dieses Gespräch war seiner Meinung nach lange überfällig und er wollte es führen, ehe sie auf ihre Art den Abend zum Abschluss brachte.

„So sehr mich dein delikater Anblick auch erfreut, es ist jetzt noch nicht die Zeit dafür, mein hübscher Junge. Ich will vorerst den Ball genießen. Später lasse ich nach dir rufen und widme deinem Körper meine ganze Aufmerksamkeit.“

Ihre Stimme gurrte verführerisch und augenblicklich durchfuhr ihn die nackte Angst vor diesem Später. Beim bloßen Gedanken daran, kochte ihm das Blut hoch.

„Das habe ich nicht gemeint, Jahwe!“, zischte er vor Wut und Scham. „Und ich hab dir oft genug gesagt, dass ich nicht wie ein Spielzeug behandelt werden will! Ich bin nicht dein Eigentum!

Es ist mir wichtig, dass du mir auch mal zuhörst, wenn ich dir etwas sagen -“

Das milde Lächeln verschwand und seine Gesprächspartnerin schlug einen ähnlich heftigen Sprachton an wie er, als sie fauchte: „Ich muss mir gar nichts von dir anhören, Luzifel! Ich bin Gott! Und Gott bestimmt! Gott ist deine Welt und dein Gesetz, dem du zu gehorchen hast! Du aber bist ein Nichts ohne mich! Du wurdest geschaffen, um jedem meinen Wünschen Folge zu leisten! Wage es nicht, deinem Gott zu befehlen! Also schweig und warte die Zeit ab!“

Ein Knurren war die einzige Antwort, zu der er fähig war. Ihr Bann presste seinen Kiefer zusammen und er blickte schweigend zu Boden wie ein unartiges Küken. Doch zornig bebte sein Herz. Ihre Worte machten nur zu deutlich, was sie von ihm hielt.

Von wegen Gardeführer, Seraph, Kriegsheld und Gottes geliebter Engel. Alles mehr Schein als Sein.

Er war niemand.

Er hatte nur das Glück, begünstigt zu sein.

Jahwe spürte seine Enttäuschung und setzte kalt nach: „Und im Übrigen, dummer kleiner Luzifel: Du bist mein Spielzeug. Wenn ich dir wegen deines neuartigen Starrsinns überdrüssig werde, werfe ich dich fort, und nehme mir einen neuen Liebhaber.

Keiner wird meine Entscheidung infrage stellen, weil ich Gott bin. Und du bist mein Diener.“

Das war zu viel. Er musste hier weg.

„Bleib sitzen!“, befahl Gott. „Wage es nicht, mich lächerlich zu machen!“

Seine Glieder gehorchten ihr nicht. Sie zitterten, statt still zu stehen.

Raus. Raus!

„Luzifel!“

RAUS!

Bevor er sein Handeln begreifen konnte, rannte er aus der Loge, unkoordiniert, doch er rannte. Ohne zu beachten, dass einige sein Gehen interessiert verfolgten.

Der Schmerz seiner Wut drohte ihn zu zerreißen. Tränen stahlen sich aus seinen Augen und verschleierten ihm die Sicht auf die Straßen. Ein paar Mal stieß er mit jemanden zusammen, aber er rannte weiter.

Er war ihr nichts wert. War entbehrlich, austauschbar. Sie schlug ihm die Wahrheit hart ins Gesicht. Alles, was er besaß, waren diese unzähligen Ketten, die ihn an eine Lüge fesselten. Sein ganzes Leben stützte sich bloß auf ihre Gunst und Grausamkeit. Auf ein Sklavendasein. Stets zu Diensten.

Ja, er war ihr meistgeliebter Engel. Doch nur, solange er mitspielte. Solange er alles tat, was sie wollte, war er dieses Trugbild aus falschem Glanz und gekauftem Ruhm. Wenn sie seiner dann müde wurde, verlor sie das Interesse und er sein Selbst.

Ein Gott besaß kein Herz. Denn das machte verletzlich und fehlbar. Und Gott ist ohne Fehler.

Wer war er?

Was war er?

Wem machte er hier etwas vor?

Seine Existenz war ein albtraumhafter Versuch. Ein undurchdachtes Experiment. Der Erste seiner Art. Belastet mit allen Komplikationen. Mit einem schwachen, brechenden Herzen. In der traurigen Gewissheit, weggeworfen zu werden und namenlos zu vergehen.

Wäre er frei ... freien Willens ... könnte er entfliehen ...

Abrupt blieb er stehen.

Frei?

Es dämmerte ihm.

Ich habe mich ihr widersetzt.

Sie hatte ihm befohlen zu bleiben und er war gegangen.

In der leeren Gasse stehend, wurde ihm heiß und kalt. Die Tränen trockneten auf seiner Haut.

Was habe ich getan?

Ich habe ihr nicht gehorcht.

Wie ist das möglich?

Und was soll ich jetzt tun?

Wohin jetzt?

Seine Hände zitterten noch immer.

Zu Ramuel? Nein, sein Wein würde ihn weder heilen noch stärken können, auch wenn er ihm das Lager leertrank. Außerdem wollte er den Grigori nicht in seine brodelnde Fehde hineinziehen. Jahwe war garantiert wütend wegen seinem Bruch.

In sein heimisches Gefängnis wollte er auch nicht flüchten.

Die Lösung war erschreckend einfach. Was er brauchte, um dieses verwirrte Chaos in sich zu richten, war das geradlinige, klare Gemetzel einer Schlacht. Ja, genau. Der Todesstern wollte Blut sehen. Schreien, zerstören und töten. Was er halt am besten konnte.

Eine merkwürdige Ernüchterung breitete sich in ihm aus.

Luzifel rannte weiter. Bald blieben Aziluts Stadttore hinter ihm zurück und er hechtete durch weiße Wiesen und vorbei an Bäumen aus Glas und Kristall. Erschöpfung nahm er gar nicht wahr, sein Verlangen nach dem Tod anderer trieb ihn voran.

Endlich erreichte er einen klaren See, der im Sonnenlicht wie Silber glänzte. Ein heller Steg aus Elfenbein führte vom kreideweißen Kiesstrand in die Mitte des Gewässers und Luzifels Stiefel donnerten über die Planken.

Am Ende der Anlegerbrücke läutete er stürmisch eine goldene Glocke, dass diese beinahe aus der Halterung brach, und wartete, während sich seine Brust vor Anstrengung bebend hob und senkte.

Nebelschwaden zogen über dem Wasser auf und wurden dichter. Ein Horn tönte mystisch.

Unruhig ging Luzifel hin und her. Der Typ soll schneller machen und aufhören, den Unheimlichen zu spielen, fluchte er in Gedanken.

Aus dem Dunst trat der Bug eines hölzernen Bootes hervor. Die Barke hatte bereits bessere Tage gesehen, wirkte morsch und roch schimmlig. Der Kapitän war auch nicht mehr taufrisch und wüsste Luzifel nicht, wer Charon war, hätte er den Rotbärtigen für eine zerlumpte, unwichtige Vogelscheuche gehalten.

„Sieh an, sieh an, wer mich da ruft“, neckte der Fährmann mit einer Stimme jenseits vom Diesseits. „Ist dieser Hitzkopf nicht der sonst so erhabene Engelsfürst Morgenstern? Was kann ich für dich tun?“

„Bring mich nach Hades!“, befahl Luzifel ihm.

„Sind deine Flügel lahm, dass du den Flusslauf als Reisemöglichkeit wählst?“, lachte Charon rau. „Ich werde mich nicht beschweren, so hab ich wenigstens mal etwas zu tun. Aber du weißt, mein Dienst kostet.“

Luzifel zog aus seinem Jackett einen Beutel und warf ihn zu Charon ins Boot. Der Inhalt klimperte.

Der Fährmann hob die buschigen Brauen. „Oh, das klingt nach vielen Münzen.“

„Ich weiß, dein Sold ist mies und deine Aufträge gering. Nimm von mir aus alles, doch ich fordere dein Schweigen ein. Verrate niemanden, dass ich nach unten fahre. Besonders deiner Herrin nicht.“

Sein Geschäftspartner zuckte die Schultern. „Wie du willst, ich kann schweigen. Und der Hades ist neutral, du kannst dort Urlaub machen, wie du willst.“

Von Urlaub war keine Rede, jedoch würde Luzifel ihm sein Reiseziel nicht erklären. Dem seltsamen Kauz ging sein persönliches Problem mit Jahwe nichts an. Er betrat die Barke und setzte sich in den Kielraum nieder, die geballten Fäuste jetzt unruhig vor Tatendrang.

Schwankend lenkte Charon die kleine Nussschale hinaus aus Araboth.

5

So langsam war Samael beunruhigt. Sein verehrter Engelsfürst hatte sich seit einiger Zeit wie in Luft aufgelöst und niemand vermochte zu sagen, wo er zu finden war. Den Hohen Rat informierte er nicht, die Garde wusste von nichts und Gott war wütend, weil er grundlos ihre Feier verlassen hatte, ohne um Erlaubnis zu fragen.

 

Stocksauer hatte Metatron den kleinen Sekretär unmissverständlich erklärt, was zu tun wäre, wenn sein Herr sich wieder blicken ließe. Nur war vor ihm erst einmal Gott dran, Luzifel die Leviten zu lesen.

Auf ihr Rufen im ganzen Himmelreich reagiere er ja nicht.

Der Einzige, den das Verschwinden des Morgensterns nicht bestürzte oder erregte, war wohl Richter Kamael. Der schien sogar höchst zufrieden und schilderte jedem, der es hören wollte, wie seine Theorie zum Fall lautete: Luzifel habe endgültig seinen Verstand verloren und sich in den Fluss Lethe gestürzt, um zu ersaufen oder auch nur, um sein Gedächtnis zu löschen.

„Totgesagte leben länger“, hatte Samael erbost auf die Verleumdung geantwortet. Er vertraute darauf, dass sein Herr Fürst wieder aufsteigen würde, egal, wo er gerade war.

Er schwärmte für den eigensinnigen Erzengel, der trotz aller Neider unbeugsam und tapfer blieb. Er war ehrlich, sympathisch und keinesfalls so hochmütig, wie die anderen Seraphim behaupteten. Selbst wenn man viel Schlechtes von ihm sagte und seine Flügel mit Blut befleckt waren, ehrte Samael ihn treu ergeben und würde mit ihm seine Feinde vernichten, wenn Luzifel es nur verlangte.

Der Malach wäre bereit, alles für den Morgenstern zu tun.

Zum wiederholten Male ordnete Samael Papiere und Dokumente, welche auf einem wachsenden Stapel im Büro auf dem Tisch seines Herrn lagen, als er glaubte, in dem stillen Gebäude Schritte zu hören. Schritte, die seinen Ohren bekannt vorkamen.

Hoffnungsvoll blickte er auf und wurde nicht enttäuscht: Luzifel marschierte zur Tür herein. Und mit ihm der saure Gestank von Dämonenblut.

„Mein -“, wollte der Untergebene ihn begrüßen, doch Luzifel blockte mit einer Handbewegung ab, warf sich in seinen Lehnstuhl und schwang die schlanken Beine samt blutverkrusteter Armeestiefel auf die sauber polierte Tischplatte.

„Spar dir Fragen, auf die du die Antwort erahnen kannst, Sam!“, sprach der Engelsfürst grimmig. „Und wenn du die Antwort kennst, rate ich dir zu schweigen, denn ich würde diese Sache gern für mich behalten.“

Samael betrachtete ihn analysierend.

Also, er hatte mit Dämonen gekämpft und nicht wenige getötet. Erster Fakt. Der zweite war, dass man nur im Hades auf sie treffen konnte und einen Befehl von Gott oder dem Rat brauchte, um dort unten zu jagen – er hatte es unerlaubt getan. Folglich hatte er wieder einmal seine Privilegien gedehnt und gesteckt und sich über gottgegebenes Gesetz gestellt. Sollte Gott davon erfahren, würde sie ganz schön ungehalten sein, weswegen er ja den Mund halten sollte.

Wenn nicht, brachte Luzifel ihn bestimmt zum Schweigen.

„Ich verstehe, Herr“, neigte er demütigt sein blondes Haupt.

„Gut. Was habe ich verpasst?“

Seufzend lockerte Samael seine steife Haltung. „In welcher Reihenfolge soll ich Euch mitteilen, wer wegen Eures Verschwindens ungehalten ist?“

„Der Wichtigkeit abfolgend“, wedelte Luzifel leichtfertig ab.

„Gott wünscht Euch zu sprechen, Herr.

Egal, wann Ihr wieder zugegen seid, Ihr sollt schleunigst zu ihr ins Tribunal kommen und hören, was sie Euch zu sagen hat.“

„Ich soll mich bei ihr entschuldigen? Wofür, eh? Dafür, dass diese -“, wollte er wettern, aber sein Sekretär schüttelte den Kopf.

„Nein, sie verlangt keine Entschuldigung. Jedenfalls wurde darüber nichts gesagt, und ich weiß auch gar nicht, worum es in Eurem Streit mit Gott geht ... Allerdings scheint das Thema wichtig zu sein, dass es keinen Aufschub mehr duldet.“

„Ja, sie ist Gott und Gott lässt man nicht warten“, fauchte Luzifel unwillig. Offenbar war er nach all dem Töten immer noch mit Wut geladen. „Und wer steht sonst noch auf der Abschussliste?“

„Ratsherr Metatron -“

„Der kann warten, bis er schwarz wird und verfault“, meinte sein Herr barsch. „Befassen wir uns erst mal mit einem Übel.“

Sandalphon und sein lästiger Zwillingsbruder waren nicht anwesend, als Luzifel den Ratssaal betrat, und diesen nach kurzer Umsicht durchquerte, um auf die im Schatten der hohen Goldsäulen liegende Tür zuzugehen. Dahinter befand sich ein weiterer pompöser, mit weißem Marmor ausgeschmückter Säulenraum, an dessen Ende, unter reich verzierten Baldachinen, Gottes goldener Thron auf einer erhöhten Plattform stand, zu dem eine Reihe flacher und breiter Treppen führte.

Wie würde wohl ein Gegenstück dazu aussehen?

Der Ratssitz seiner obersten Herrin war leer.

Führte sie ihn hinters Licht? Beobachtete sie ihn heimlich? Er hatte keine Lust auf die kindischen Spielchen einer verzogenen, egoistischen Rotzgöre. Ihn aus Rache unsinnig lange warten zu lassen hielt er extrem kleingeistig für eine sogenannte allmächtige Lebensform.

Sie war fehlbar. Man musste nur den Willen aufbringen, ihr zu trotzen, und das wusste er. Ihr göttlicher Glanz war nur Zierde für die Dummen. Ihn verblendete sie nicht mehr.

Gemächlich schritt er auf den Thron zu und betrachtete alles ganz sachlich.

Von dort sah sie hinab auf ihre Engel, die in respektvollen Abstand vor ihr knien mussten. Vor ihr, dem höheren Wesen, das alles aus dem Nichts heraus geschaffen hatte und alles auch ins Nichts zurückwerfen konnte. Sie, das Alpha und das Omega. Der Anfang und das Ende. Fluch und Segen.

Jahwe spielte mit der Furcht ihrer Diener.

Er betrat eine der aufsteigenden Stufen. Erst zögerlich, doch mit einem zweiten Schritt wurde er mutiger. Kein Donner drohte, kein Blitz schlug ihn nieder und er ging nicht in Flammen auf. Noch eine Stufe. Und noch eine.

Fünf Sprossen weiter stand Luzifel schließlich vor Jahwes Punkt der Macht. Aufrecht.

Dann wagte er das Undenkbare: Auf ihren Thron ließ er sich nieder. Blickte von ihrer Position aus über den Saal hinweg und es brauchte nicht viel an Vorstellungskraft, um die Niederen dort unten zu erblicken. Wie sie ihre Häupter vor ihm neigten, vor Luzifel Morgenstern – Gott. Ein so viel besserer Gott als dieses unwürdige, überhebliche Kind, das mit Leben wie mit Puppen spielte. Was gäbe es für Möglichkeiten, wenn er an Jahwes Stelle die Autorität besäße?

In ihm rührte sich ein Verlangen, ein Drang, der nach außen stoßen wollte. War dies sein wahrer Platz, seine Bestimmung? Herrscher eines Volkes zu sein? Und dieser Thron ...

Luzifel sprang auf und hastete die Treppen hinunter, gerade noch rechtzeitig, denn Jahwe erschien wenige Augenblicke später in der Halle.

„Da bist du ja wieder“, begrüßte sie ihn erstaunlich kühl mit dünnem Lächeln. „Na, wo sollst du auch anders hin? Hier ist schließlich dein Zuhause!“

Weil er nichts erwiderte, schritt sie mit erhobenem Kinn an ihm vorbei, die Treppenstufen hinauf und, auf ihrem Sitz Platz nehmend, fuhr sie fort: „Mein kleiner Luzifel, ich will nicht mit dir streiten. Du hast einen törichten Fehler begangen und der sei dir ausnahmsweise vergeben. Ich kenne dich und dein feuriges Temperament zu gut und bin deshalb nicht nachtragend.“

Klar, ich bin an allem schuld ...

„Aber besorgt stelle ich fest, dass du dir auffällig viele Gedanken machst. Und diese Gedanken scheinen deinen Starrsinn mit Unzufriedenheit zu paaren. Das gefällt mir nicht. Wenn das so weitergeht, muss ich böse mit dir werden.

Man erzählt sich Schlechtes von dir. Du verspürst Zweifel an mir, deinem Gott. Erweist mir nicht den gewünschten Respekt. Du widersetzt dich dem Zweck deiner Existenz, folgst nur mäßig meinen direkten Befehlen und begehrst gegen mich auf.

Deine Position als mein Erster ist kein unantastbares Privileg, Luzifel. Du hast eindeutig zu viele Freiheiten. Vergiss nicht, wo du stehst. Unter mir.

Ich habe beschlossen, dir eine neue Aufgabe zuzuteilen, weil der Dienst bei der Weißen Garde dich nicht genügend in Anspruch zu nehmen scheint. Diese Aufgabe ist komplex und wird deine ganze Aufmerksamkeit fordern – Schluss mit einfältigen Gedanken.“

Er hob die feinen Augenbrauen. Das konnte sie zwar so oft sagen, wie sie wollte und noch öfter konnte sie seine Erinnerungen fälschen, jedoch ließe er sich nicht von seinem Begehr abbringen. Seine Meinung zum gegenwärtigen Machtregime stand unveränderlich fest. Und je mehr sie auf ihren Status pochte, umso störrischer würde er werden.

„Ich habe eine neue Schöpfung kreiert, Luzifel“, redete Jahwe weiter, „und du sollst ihr Diener sein.“

... Was? Hatte er sich verhört? Er, Diener einer neuen Perversität Gottes?

Bevor er den Mund aufmachen konnte, gebot ihn Jahwe zu schweigen, und erklärte: „Ja, du hast richtig gehört.

Du sollst dieser Schöpfung dienen. Alle Engel Gottes sollen sich vor ihr niederwerfen, denn sie ist mein Meisterwerk. Ich dulde keine Widerworte und werde jeden strafen, der sie nicht anbetet.

Und auch die Herrin vom Hades wird von ihr begeistert sein, denn sie bietet den Schlüssel für die Überbevölkerung der Seelen im Totenreich. Schon lange diskutieren wir gemeinsam an einer Lösung und nun ist sie fertig.

Sie ist wundervoll, hat die Schönheit von euch Engeln, und sie wird eigenständig und nach freiem Willen über ein Land herrschen, das ich ihr schenke. Noch ist dies aus Forschungsgründen nur ein kleiner Fleck im dritten Himmel Sagun, aber wenn mein Projekt Erfolg hat – und das wird es ganz sicher, mein Lieber – werde ich expandieren.“

Luzifel stand sprachlos im Raum und hoffte auf einen großen Witz, den er nach wie vor nicht verstand.

„Ich versetzte also dich, meinen kleinen Quergeist, nach Sagun. Dort triffst du dich mit dem Fürstentum Anahel. Er und seine Leute wissen über mein Vorhaben im Groben Bescheid. Genaue Kenntnis hat aber bisher nur der Hohe Rat, von dem ich weiß, dass er Geheimnisse bewahren kann. Du wirst auch keinem Außenstehenden berichten, sonst wirst du es bereuen. Verstanden?

Ich unterstelle dich Anahels Befehl. Wage es nicht zu widersprechen. Er wird dich einweisen und dich mit meiner neuen Schöpfung vertraut machen.“

Jetzt aber mal halblang!, dachte Luzifel schockiert. Er, der Seraph, unterstand einem schlichten Fürstentum? Und dieses Urteil war nur das Mindeste, was ihn seine Fassung verlieren ließ.

„Was ist das für eine Schöpfung, die du uns vorziehst?“, fragte er bissig und seine Verachtung wandte sich von Jahwe ab, hin zu diesem unbekannten Wesen. Welches Vieh wagte es, einen Engel zu übertreffen?

„Höre ich leichten Frust in deiner Stimme? Willst du dich zu den Todsünden gesellen?

Zur Warnung, mein Hübscher, Kamael hat bereits bei ihnen eine Zelle für dich reservieren lassen und solltest du mein großzügiges Angebot ablehnen, ziehe ich diese drastische Möglichkeit deiner Strafe in engeren Betracht.“

„Es geht nicht um mich, Jahwe! Mit dieser Schöpfung trittst du all deine Engel mit Füßen und dass, wo sie dir vom ganzen Herzen dienen! Wenn du mich bestrafen willst, akzeptiere ich das, doch du verrätst deine Geflügelten mit diesem -“

Sie zuckte unbekümmert die Schultern. „Ich nenne sie Mensch.“

Mensch? Was soll das für ein Name sein? Verdutzt trat er zurück und wusste für einen Moment nicht, wo er sich befand. Als hätte er keinen Boden unter den Füßen.

Wie hat es so weit kommen können?

Er bereute es richtig, Satan damals aufgehalten zu haben. Es machte keinen Unterschied, den alten Drachen den Sieg zu gönnen, wenn Jahwe eh plante, alles zu vernichten, was die Engel geschaffen hatten. Dass ein Gott jemals so eine heimtückische -

„Nun, Luzifel? Ich erwarte deine Antwort.“

Quatsch mit Antwort, das ist Erpressung! Er hätte in die Luft gehen können.

Stattdessen schraubte er sein kämpferisches Gemüt runter. Es winkte nur das Gefängnis und Kamaels gehässiges Grinsen, wenn er Jahwe jetzt angreifen würde. Das Eis unter ihm war brechend dünn ohne ihren Segen und er war kein vollkommener Idiot.

Schwer seufzte er und versuchte dabei so resigniert zu klingen wie nur möglich. Sein Gesicht zeigte merkliches Leiden, gar Verzweifeln, als er dramatisch sprach: „Ist gut. Ich habe verstanden.

Ich tue, was du von mir verlangst.“

„Schön, dass wir uns einig wurden“, lächelte Jahwe süffisant. „Vertragen wir uns also wieder und du bist mein guter Junge?“

„Ja“, neigte er bußfertig den Kopf.

„Dann sehen wir uns später. Deinen Dienst bei mir unterstehst du weiterhin.“ Ihr schadenfrohes Gelächter drang wie ein Dolch in seinem tobenden Herzen.

 

Ihm schmerzte der Schädel, als er aus dem Tribunal kam.

Die Bürde, dieses Geheimnis für sich zu bewahren, lastete schwerer als alle anderen Heimlichkeiten, die verborgen lagen, und am liebsten hätte er es jedem der hundert anwesenden Engel, die unwissend über den Großen Platz liefen, entgegengebrüllt: Gott hat uns verraten, für ein neues Spielzeug, dass sie mehr schätzt als ihre geflügelten Diener! Ein Geschöpf mit freiem Willen und eigenem Reich! Den Menschen stellte sie über die Engel und wir alle sollen ihm gehorchen, ihn anbeten!

Wie kann sie das verlangen?

Wie kann sie das ausgerechnet von mir verlangen?

Wie trunken torkelte Luzifel nach Hause. Alles in und um ihn drehte sich, vor- und rückwärts, auf und ab. Die Weiße Welt zerbrach in seinen Augen. Etwas zerbrach in seinem Kopf. In der Seele.

Wer würde ihm die Wahrheit glauben?

Die Engel vertrauten blind auf Gott und wurden getäuscht. Sein gesamtes Volk trug die unsichtbaren Ketten, denen er sich entledigen wollte. Sie sahen sie nur nicht, weil sie nichts wussten.

Und die, die wissen, sagen nichts. Konnten nichts sagen.

Michael bedauerte die Dämonen wegen einer verwahrlosten Heimat? Dass kein Gott für sie sorgte? Doch waren Satans Kreaturen frei und hatten die Wahl, ihr Schicksal selber zu bestimmen. Ihnen machte niemand etwas vor oder log gar dreist in die hässlichen Fratzen.

Wieso konnten die Engel nicht auch frei sein? Der Mensch und die Dämonen – warum waren sie befreit von der Knechtschaft? Was unterschied sie von den Geflügelten um das Recht der Freiheit?

Wieder regte sich in ihm die Zerstörungswut. Hass und Neid. Alles Leben wollte er verdammen, das etwas besaß, was ihm und den Seinen vorenthalten wurde. Mit dem Menschen würde er beginnen und -

„Mein Herr, was habt Ihr?“ Samael stürzte an seine Seite, um ihn aufrecht zu halten, sonst wäre Luzifel auf dem Hof seines Anwesens zusammengesackt. Der stechende Druck in seinem Kopf ließ ihn kaum noch sehen. Alles war viel zu grell. Sein Sekretär half ihm ins Gebäude hinein und setzte ihn auf einem mit silbernen Kordeln verzierten Stuhl ab. Flink zog Samael die Vorhänge zu, weil ihm die Sinnesempfindlichkeit seines Herrn auffiel.

Wieder im goldenen Käfig gefangen, mit gestutzten Flügeln.

„Ach, Sam ...“, knurrte Luzifel mit schmerzender Kehle und Schweißperlen glänzten auf der weißen Haut, „wenn du wüsstest, was hinter all unserem Trugbild steckt. Du hättest deinen Hain nie verlassen dürfen. Du bist zu gut für all die Härte unter Gottes Gewalt.“

„Was meint Ihr, Fürst?“, blickte der junge Malach kniend zu ihm auf. „Was hat Gott gesagt? Werdet Ihr etwa bestraft?“

„Es geht nicht um mich. Es geht um uns alle. Wir müssen uns wehren!“

Entgegen dem ausdrücklichen Befehl, erzählte Luzifel wie im Fieber dem Burschen von Jahwes neuem Geschöpf und dass gerade er es sein sollte, der seine Hand schützend über diese Parodie halten musste, die sie alle verhöhnte. Er würgte alles hervor, jedes schmutzige Detail spuckte er aus, und die Qual in seinem Hirn ließ nach. Wie ein Gefäß, das von Unrat überquoll, war auch sein Gewissen an die Grenzen der Belastbarkeit gestoßen.

Samael kamen die Tränen. „Warum hat Gott das getan? Sind wir ihr denn nicht mehr genug?“

„Ich weiß es nicht. Aber was ich weiß, ist, dass ich diesen Spott nicht mehr über mich ergehen lassen kann. Wenn es sein muss, werde ich mich gegen Gott wenden, damit sie uns Engel wieder achtet. Ich werde kein Diener von Menschen sein.“ Luzifel sammelte seine verbliebenen Kräfte, stand von dem Stuhl auf und ging in Richtung seines Büros. Zwar zitterten ihm die Beine, doch mit jedem Schritt, jedem Gedanken für einen Plan zur Befreiung seiner Art, wurde er kräftiger. Stolzer.

„Ich auch nicht!“, sprang der Malach schreiend auf und folgte ihm eiligen Fußes. „Auch ich will dem Menschen nicht dienen, Herr.

Es gibt nur einen, dem ich diene, und das seid Ihr, mein Fürst Morgenstern.“

Ein Lächeln huschte über Luzifels Angesicht und er legte den Arm um die Schultern seines Sekretärs. „Ich danke dir, Sam. Ich glaube fast, du bist der einzige Freund, der mir in dieser verlogenen Welt bleibt. Außer dir wich bisher nur Jaspis nicht von meiner Seite.“

„Stets zu Diensten, mein Herr.

Bloß wie wollen wir gegen diesen Menschen vorgehen, uns Gott ins Gedächtnis rufen und ihr zeigen, wer wirklich ihre größte Schöpfung ist? Wie wollen wir den freien Willen erlangen? Gott hat ihn uns nie gegeben.“

Luzifel führte ihn mit sich und sagte selbstsicher: „Das, mein Freund, besprechen wir gemeinsam.

Wir werden eine Lösung finden. Was uns nicht gegeben wurde, können wir erlangen. Wenn wir es wollen. Jahwe wird nicht einmal merken, was vor sich geht.

Wir tun, was sie verlangt. Nur nicht, wie sie es verlangt!“

Samael grinste breit vor Freude, mit seinem Herrn so vertraut im Bunde zu sein. „Ihr werdet Gottes wahres Gesicht entlarven! Alle Engel werden Euch aus Dank verehren, mein Herr! Ihr bringt den Engeln die Freiheit.“

„Das ist vielleicht recht hochgegriffen, Kleiner. Ich bin auch nur ein Engel ...

Und du, als mein Waffenbruder, hör besser auf, mich ‘Herr’ zu nennen.“

„Jawohl! ... Meister.“

„Sam ...“