Wintercount - Dämmerung über dem Land der Sioux

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„Mein Herz liegt im Staub für dich, Dürrer-Vogel. Obwohl ich dir in vielen Punkten nicht zustimme, muss ich dir dafür danken, dass du unser Leben verschonst. Du wirst nie fürchten müssen, dass wir dich verraten, wenn wir frei sind. Tscheyesa-win wird dies verstehen. Aber sie kann die weißen Männer nicht verstehen, denn seit sie ein kleines Baby war, lebt sie wie eine Sioux und kennt nur unsere Kultur. Dürrer-Vogel, sag’ mir, was denken die weißen Männer über sie?“

„Seit dem ersten Tag gab ich ihnen zu verstehen, dass der Mann, der es wagen würde, sich an deiner blassgesichtigen Frau zu vergreifen, wie ein räudiger Hund sterben würde – mit einem Messer an seiner Kehle.“

„Jenem Bartlosen, der Jim genannt wird, traue ich nicht“, warnte Keyaschante. „Ich sehe das wachsende Verlangen in seinen Augen, wenn er Tscheyesa-win beobachtet, und das gefällt mir nicht. Mir liegt ihre Sicherheit sehr am Herzen. Er mag vielleicht dein guter Freund sein, aber das Verlangen nach einer Frau kann einen Mann verrückt machen.“

Dürrer-Vogel antwortete nicht, sondern stand auf und ging. Kurz nachdem er sein Nachtlager auf der anderen Seite des Feuers errichtet hatte, schaute er Keyaschante noch einmal an. Durch Zeichensprache gab er zu verstehen, dass er Jim im Auge behalten würde.

Keyaschante wusste, dass Dürrer-Vogel mit aufrechter Zunge gesprochen hatte, und als er sich auf den Boden legte, stellte er erschöpft fest, wie gut dies seinem schmerzenden Körper tat. Trotz seiner Müdigkeit konnte er lange nicht einschlafen. Zu viele Dinge spukten in seinem Kopf herum und er musste langsam Pläne machen, wie er nach seiner Freilassung zum Lager zurückgelangen konnte.

KEIN ENTKOMMEN

Mit dem Instinkt eines Tieres fühlte Keyaschante, dass etwas nicht in Ordnung war. Die inneren Augen des Kämpfers waren darauf ausgerichtet, drohende Gefahren zu erkennen, und die leichteste Bewegung in Tscheyesa-wins Nähe reichte aus, um ihn erstarren zu lassen. Jemand hatte vor, seine Braut zu belästigen, und das musste verhindert werden. Mit einem plötzlichen und kraftvollen Satz warf er sich auf den Schatten des Eindringlings. Mit seinen Beinen umklammerte er dessen Taille und seine kraftvollen Finger umfassten dessen Nacken. Ein schneller Ruck und sein Gegner lag leblos in seinen Armen. Das Genick war gebrochen, so schnell, dass er nicht einmal die Gelegenheit hatte, zu schreien.

Keyaschante hob Tscheyesa-win hoch und überlegte sich fieberhaft einen Plan zur Flucht. Jetzt hatte er keine Wahl mehr und ihm blieb nichts anderes übrig, als blitzschnell zu handeln.

Zwei der weißen Männer lagen noch immer schlafend am Boden, aber von Dürrer-Vogel fehlte jede Spur, demnach musste der Mann, den er gerade getötet hatte, einer der Weißen gewesen sein.

„Leise!“, flüsterte Keyaschante.

Er ließ Tscheyesa-win sanft herunter, so dass sie laufen konnte. „Wegen Dürrer-Vogel können wir es nicht riskieren, unsere Pferde zu holen. Also folge mir!“

Er nahm Tscheyesa-wins Hand und führte sie lautlos im Schutz des Waldes nach Norden. Im Osten erwachte bereits die Morgendämmerung, aber es war noch nicht hell genug, um die vielen Zweige und Dornen des Unterholzes zu erkennen. Tscheyesawin bemühte sich, den großen Schritten ihres Mannes folgen zu können. Sie rannten fast durch das Gewirr des Unterholzes und Tscheyesa-win biss die Zähne zusammen, um nicht vor Schmerzen aufzustöhnen. Als sie an einem besonders dichten Gestrüpp ankamen, bedeutete Keyaschante ihr, sich an der dichtesten Stelle zu verstecken und sich ruhig zu verhalten.

„Ich werde bald zurück sein!“, flüsterte er. „Ich muss die Pferde holen oder sie zumindest losbinden. Wir haben keine Chance zu entkommen, wenn sie die Pferde haben.“

Der Knall eines Schusses in der Ferne veranlasste Keyaschante, wieder in das Gestrüpp neben Tscheyesa-win zu klettern. Die dichten und verkrümmten Zweige der Pflaumenbäume boten ihnen dabei ein ideales Versteck.

Es wäre wahrscheinlich nicht sonderlich schwierig gewesen, die Begegnung mit den weißen Männern in diesem Dickicht zu vermeiden, aber Dürrer-Vogel war eine andere Sorte von Gegner und durfte nicht unterschätzt werden.

Würde er sich an der Suche beteiligen? Und wie gut war er im Spuren lesen? Das Paar entschied sich, seine Flucht fortzusetzen und den Abstand zwischen ihren Verfolgern zu vergrößern.

Sie rannten in Höchstgeschwindigkeit durch das Unterholz, gehetzt wie wilde Tiere, bis Tscheyesa-win plötzlich unter den hängenden Zweigen einer großen Kiefer zusammenbrach und sich hundeelend fühlte. Sie rollte sich zur Seite und übergab sich so heftig, dass nichts mehr in ihrem Magen blieb. Doch das Würgen hörte nicht auf und der unkontrollierbare Brechreiz saugte ihr noch das letzte bisschen Kraft aus dem Körper.

Keyaschante hockte sich besorgt neben sie und brachte ihr in einem Fetzen seines Lendenschurzes etwas Wasser. Durch die reine, süße Flüssigkeit fühlte sich Tscheyesa-win etwas besser, doch ihre Beine waren wie taub und sie konnte sich nicht bewegen.

„Wir sollten uns hier bis zum Sonnenuntergang ausruhen, dann müssen wir zu einer geschützten Stelle gehen; und zwar dahin, wo ich das Wasser geholt habe“, versuchte Keyaschante seine Frau zu ermutigen.

Im Moment sah es jedoch so aus, als ob Tscheyesa-win alles egal wäre, noch nicht einmal der Gedanke an ihre mögliche Gefangennahme konnte sie beunruhigen. Das Einzige was sie interessierte, war, ihrem geschundenen Körper etwas Ruhe zu gönnen, selbst wenn dies ihren Tod bedeuten würde.

„Ruhe dich aus, ich werde vorsichtig die Gegend erkunden und nach einen Unterschlupf suchen!“, flüsterte Keyaschante beruhigend.

Stunden später kehrte er zurück und hob das völlig erschöpfte Mädchen vom Boden auf.

Tscheyesa-win schlang instinktiv ihre Arme um seinen Nacken und schmiegte ihr Gesicht an seine Brust. Ein heftiger Schmerz durchzuckte ihre Beine und sie stöhnte darüber, dass man sie aufgeweckt hatte. Ihre sichtliche Pein schockierte Keyaschante und wie um sich zu verteidigen, rief er: „Es tut mir leid, aber wir müssen gehen. Wir müssen zu einem sicheren Ort gehen, wo es auch Wasser gibt. Es wird alles noch viel schlimmer, wenn wir uns nicht in Sicherheit bringen.“

Tscheyesa-win fühlte jede seiner Bewegungen in ihrem ausge laugten Körper, und es schien ihr wie eine Ewigkeit, ehe sie das beruhigende Geräusch des Wassers hörte, das sich murmelnd in ein kleines Tal ergoss.

Keyaschante legte sie sanft auf das grasbewachsene Ufer des Flusses und vergewisserte sich, dass ihre schmerzenden Beine in das kühlende Wasser des Flusses eingetaucht waren. Tscheyesa-win konnte fühlen, wie sich ihre übermüdeten Muskeln entspannten und wie der Wille zum Überleben wieder in ihren Körper zurückkehrte.

„Beweg dich nicht!“, warnte Keyaschante. Ich werde etwas zum Essen finden und bald zurückkehren!“ Flink lief er den kleinen Hügel hinauf und verschwand aus ihren Augen.

Sie lag da und starrte auf den Hang, ihre Hände umklammerten das lange Gras, das über ihre Beine strich. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis, aber immer wenn sie an ihre Flucht aus der Gewalt der weißen Männer dachte, rann ihr ein Schauer über den Rücken. Das überwältigende Gefühl von Stolz und Trotz stieg in ihr auf, und sie wusste, dass sie ein Recht auf diese Gefühle hatte. Hatte sie ihrem Ehemann und den anderen nicht bewiesen, dass sie stark war und eine derartige Mühsal auf sich nehmen konnte? Sie fühlte sich wesentlich besser und fiel in einem tiefen Schlaf der völligen Erschöpfung.

Über das Land brach längst die Dämmerung herein, als Keyaschante ein erlegtes Kaninchen säuberte. Das plötzliche Geräusch eines brechenden Zweiges ließ ihn aufschrecken. Er wirbelte herum und sah einen Schatten, der sich viel zu schnell auf ihn fallen ließ. Er hörte ein lautes Krachen und warf sich mit dem Gesicht auf den Boden. Er presste seine Nase so fest auf die Erde, dass er kaum noch atmen konnte. Seine schnelle Reaktion bewahrte ihn vor der ganzen Wucht des Schlages, sodass er nur halb betäubt am Boden lag.

Durch den Nebel seiner drohenden Bewusstlosigkeit drang die flehende Stimme Tscheyesa-wins, und er konnte die bekannten Stimmen der beiden weißen Männer hören, als sie wütend vor sich hin fluchten. So sehr er sich auch anstrengte, er konnte sich nicht bewegen, und langsam senkte sich der Schleier des Vergessens über ihn, bis er schließlich nichts mehr hörte und sah.

Als Keyaschante sein Bewusstsein wiedererlangte, fühlte er schmerzerfüllt, dass er auf einem halbvergrabenen Baumstamm lag und all seiner Kleidung beraubt worden war. Als er seine Arme und Beine bewegen wollte, bemerkte er, dass man sie mit Rohleder an einige Pfähle gefesselt hatte, die fest im Boden verankert waren.

„Er versucht, sich zu bewegen“, rief eine kehlige Stimme.

Es war Keyaschante unmöglich, den Mann zusehen, aber als er die Peitsche auf seinem nackten Rücken und seinen Hüften spürte, wusste er, wer sein Peiniger war. Das knallende Geräusch der Peitsche ließ Keyaschante ebenso zusammenfahren wie der darauf folgende brennende Schmerz.

Er gab keinen Ton von sich, nur sein gepresster Atem zeigte die Qualen, die er erdulden musste. Immer wieder sauste die Peitsche auf ihn nieder, erbarmungslos und mit quälender Gleichmäßigkeit. Bei jedem Hieb biss er die Zähne so fest zusammen, dass seine Kiefer- und Nackenmuskulatur in Strängen hervortrat. Sein Rücken bog sich bei jedem Hieb und sackte dann hilflos vor Schmerzen in sich zusammen.

Die Stimme Tscheyesa-wins drang an Keyaschantes Ohr, ihr Wehklagen schien weit entfernt, und ihr Schluchzen klang wie das Klagen eines Rehs. Der Gedanke an sie verlieh ihm schier übernatürliche Kräfte – eine grimmige Entschlossenheit, die Qualen des Auspeitschens zu erdulden und irgendwann die verantwortlichen Männer umzubringen. Als er spürte, wie das Blut aus den diagonal verlaufenden Peitschenstriemen über seinen Rücken floss, schwor er insgeheim, sich dafür zu rächen. Irgendwann wurde sein Peiniger müde und übergab die Peitsche dem anderen Mann, der nun dem Beispiel seines Kameraden folgte und von der anderen Seite ein blutiges Muster auf Keyaschantes Rücken schlug.

 

Der geschundene Körper hatte mittlerweile aufgehört, sich unter den gnadenlosen Hieben aufzubäumen. Bewusstlosigkeit linderte die Schmerzen, trotzdem fuhr der Mann fort, bis das Muster aus blutigen Quadraten fertig war, und auf den enthäuteten Kanälen das rohe Fleisch hervorstand.

Von dem Tod des Indianers überzeugt, legte sein Peiniger endlich die Peitsche nieder, und sein Gesicht drückte deutlich seine Zufriedenheit mit dieser scheußlichen Tat aus.

Während der gesamten Zurschaustellung dieser exzessiven Gewalt, war Tscheyesa-win im festen Griff eines weißen Mannes festgehalten worden und hatte, zur Hilflosigkeit verdammt, alles mit ansehen müssen. Jeder Hieb schnitt tiefer in ihr Herz und gab ihr die Kraft, sich gegen die Weißen aufzulehnen. Ihr Körper bäumte sich gegen die Umklammerung auf, ihr entsetztes Schreien hallte über die Lichtung, von den Männern nur mit höhnischem Gelächter begleitet. Als die Weißen ohne Gnade mit dem Auspeitschen fort fuhren, forderten die Seelenqualen, die Tscheyesa-win erleiden musste, ihren Tribut, und sie brach in das mitleiderregende Wehklagen aus, das indianische Frauen zum Zeitpunkt ihres Todes anstimmen. Ein hoher, schriller Ton unendlichen Leids.

Als die Weißen endlich aufhörten ihn auszupeitschen, waren das Wehklagen Tscheyesa-wins und das heftige Atmen der beiden Männer die einzigen Geräusche, die man hören konnte.

Tscheyesa-win wusste, dass kein Mensch diese qualvollen Schmerzen, die Keyaschante erlitten hatte, überleben würde. Allein die Hoffnung, wie sie nur Frauen zu Eigen ist, veranlasste sie, immer wieder „Bitte … Bitte … lasst ihn leben … lasst ihn doch leben … bitte …“, zu flüstern.

Von dem Flehen in ihrer Stimme erweicht, lockerte der Mann, der sie festhielt, seinen Griff, und sie rannte zu der entblößten Gestalt. Sie warf sich auf ihre Knie und liebkoste Keyaschantes Kopf.

Die weißen Männer standen wie versteinert, und mit Unbehagen beobachteten sie Tscheyesa-win, die mit ihren Lippen zärtlich das bleiche Gesicht, die Schultern und den blutigen Rücken ihres Mannes liebkoste. Das Blut in ihrem Gesicht verstärkte den Ausdruck blanken Entsetzens in ihren Augen. Die Männer waren unfähig, dieses Bild noch länger zu ertragen und wandten sich wortlos ab.

Tscheyesa-win aber warf sich weinend neben die niedergestreckte Gestalt und fuhr ihr mit ihren Fingerspitzen durch das schwarze Haar. Sie sagte sich, dass nun ohnehin alles vorbei wäre und dass sie ebenfalls sterben würde, wenn Keyaschante starb.

Mit einem Satz sprang sie auf ihre Füße, rannte zu der Stelle, wo die weißen Männer knieten und griff nach dem Messer, das einer von ihnen trug. Instinktiv schlug er gegen ihren Arm, um das Messer abzuwehren und es fiel zu Boden. Dabei bemerkte er nicht ihren Fuß, der ihn wohlgezielt zwischen die Beine traf. Er krümmte sich vor Schmerzen, während sich Tscheyesa-win bereits dem anderen Mann zudrehte.

Sie war jetzt kein kleines, hysterisches Mädchen mehr, sondern eine bis zum Äußersten gereizte Frau, die wie ein Puma töten würde. Sie stürzte sich auf den völlig verdutzten Weißen, grub ihre Zähne tief in das Fleisch seines Gesichtes und biss ein Stück seiner Wange heraus. Einer der Männer wand sich vor Schmerzen auf dem Boden, der andere hielt sich die Hände vor sein verletztes Gesicht, während sie endlich das Messer entdeckte und entschlossen danach griff.

Hasserfüllt hob sie das Messer auf und wollte es dem Rotbärtigen in seine Eingeweide rammen, doch ein fester Griff schloss sich um ihre Handgelenke und entwand ihr das Messer. Es war Dürrer-Vogel, der das Messer quer über die Lichtung warf. „Nein! Nein, Tscheyesa-win, das Messer ist zu schnell und viel zu gnädig! Wir müssen sie durch die Peitsche sterben lassen - so wie es deinem Mann ergangen ist!“

Dürrer-Vogel drehte sich auf dem Absatz herum und schlug den Weißen mit der zerfleischten Wange mit der ganzen Kraft seiner Faust zu Boden. Dann ertönte plötzlich ein Schuss, Dürrer-Vogel fasste sich an die Brust und mit dem Ausdruck des Todes auf seinem Gesicht fiel er nach hinten.

EINE FREMDE UMGEBUNG

Tscheyesa-win war nur noch körperlich anwesend. Sie lief wie in Trance, nahm kaum wahr, was um sie herum geschah. Die knirschenden Geräusche der Pferdehufe und die gelegentlich gesprochenen Worte der zwei weißen Männer schienen ihr weit weg und unwirklich. Das Einzige, das sie wirklich fühlte, war der grobe Strick um ihren Hals, der mit dem anderen Ende an einem Sattel befestigt war. Die Nacht war dunkel, aber nicht annähernd so dunkel, wie die tiefe Verzweiflung in ihrer Seele.

Nach und nach belebte die kühle Nachtluft Tscheyesa-win. Sie begann klar zu denken und ihre Lage zu begreifen. Eine tiefe Mutlosigkeit überkam sie, und sie sagte sich, dass es eine Erleichterung sein würde, der Wahrheit ins Auge zu blicken … sie hatte den Mut verloren, gegen das Unvermeidliche anzukämpfen. Ohne Mut aber wurde das Gefühl der Verzweiflung immer stärker, und sie hasste die Erde in ihrer grausamen Schönheit, sie hasste die weißen Männer, vor denen sie stets gewarnt worden war; sie hasste die ganze Welt und sehnte sich danach, bald von all ihrem Übel befreit zu werden.

Sie war derart in Gedanken vertieft, dass sie ihre Umgebung nicht wahrnahm und auch den Blitz nicht sah, der den nächtlichen Himmel erhellte. Die Regentropfen auf ihrem Gesicht ließen sie aufschrecken, und als sie aufblickte, sah sie die Morgendämmerung, die bereits den östlichen Himmel verfärbte. Die Männer schienen jedoch weder ihr, noch dem Nahen des Tages Aufmerksamkeit zu schenken. Man sah ihnen die Strapazen der langen schlaflosen Reise an, denn sie hingen kraftlos in ihren Sätteln.

Als der Himmel sich schließlich aufhellte, konnte Tscheyesa-win sehen, dass sie eine Ebene durchquerten, die sich in Wellen vor ihnen ausbreitete – die Ausläufer der dunklen Berge hinter sich lassend. Nun, da das Tageslicht auf die Erde zurückgekehrt war, schöpfte auch sie wieder Hoffnung. Tief in ihrem Inneren hörte sie eine mahnende Stimme, eine Stimme, die sie ins Leben zurückholte! Fast erschrocken stellte sie fest, dass sie den Rat ihrer indianischen Mutter völlig vergessen hatte! Nun erinnerte sie sich wieder an deren Worte: ‚Lass deinen Lebenswillen nicht herumtappen wie bei einem blinden Mann! Habe Vertrauen. Es gibt immer eine stärkere Hand als die der Menschen, und diese wird dich führen.’

Tscheyesa-wins momentane Situation schien zwar die Worte ihrer Mutter Lügen zu strafen, dennoch gaben ihr diese Worte Trost. Sie durfte nicht verzweifeln, obwohl sie gezwungen wurde zu laufen, wie man ein Tier an der Leine hinterher zerren würde. Ihr Geist wurde neu belebt, und sie wusste, dass das Große Geheimnis ihr Leben erträglich machen würde, aber es hing von ihr ab, dies auch zu ermöglichen.

Die aufkeimende Hoffnung in ihrem Herzen stand im extremen Gegensatz zu ihrem Erscheinungsbild. Ihre Mokassins waren schlammverschmiert und durchnässt, ihr einst so schönes Kleid war von oben bis unten zerrissen – als deutlicher Beweis für ihre erlittenen Qualen. Ihre langen Haare, auf die sie immer so stolz gewesen war, waren nur noch ein verfilztes Gewirr, und Strähnen feuchter Locken hingen ihr ins Gesicht. Zu Hause im Lager hatte man ihr einmal gesagt, dass sie wie eine Wilde aussähe, wenn sie ihre Haare nicht flechten würde, aber solche Bemerkungen wurden von ihren Freunden eher scherzhaft und nicht ohne eine gewisse Bewunderung gemacht. Wenn sie ihr Haar jetzt sehen würden, bedeckt von Blättern und blutverkrustet, dann würden sie sicherlich …

Schluss damit, rief sie sich zur Ordnung. Sie wusste, dass sie sich ihr Haar kurz schneiden musste – wie dies die älteren Frauen tun, wenn sie um eine geliebte Person trauern, die niemals mehr lebend auf die Erde zurückkehren wird. Auch würde sie sich tiefe Schnitte an ihren Armen und Beinen zufügen, um auf diese Weise ihren ungeheuren Verlust auszudrücken.

Sie war so in ihren Gedanken versunken, dass sie nicht bemerkte, wie die Pferde vor ihr einfach stehen blieben. Sie hob den Kopf und stellte fest, dass die beiden Männer sie auf merkwürdige Weise anstarrten. Sie erwiderte den Blick und weigerte sich standhaft, ihre Augen zu senken.

Die Männer konnten ihren verächtlichen Blick jedoch nicht lange ertragen und wandten nun ihrerseits die Augen ab. Sie bereiteten das Essen zu, ohne Tscheyesa-win anzusehen, und gaben ihr eine Portion, ohne ein Wort zu sagen.

Tscheyesa-win bezweifelte, dass sie fähig sein würde, das Essen zu sich zu nehmen, aber sie wusste, dass sie es tun musste, um bei Kräften zu bleiben. Die Männer schienen sich ausruhen zu wollen, und ihr weiblicher Instinkt sagte ihr, dass sie es nicht wagen würden, sie zu belästigen. Also legte auch sie sich nieder, um zu schlafen.

Tscheyesa-win erwachte durch das unangenehme Gefühl, dass ihr zu heiß war, und ihre leichte Bewegung erregte die Aufmerksamkeit ihrer ungewollten Begleiter. Sofort kamen sie auf sie zu und gaben ihr zu verstehen, dass sie die Reise fortsetzen wollten, obwohl die Sonne am Himmel ihren höchsten Punkt längst erreicht hatte. Weit würden sie an diesen Tag bestimmt nicht mehr kommen!

Mit einiger Zufriedenheit spürte sie, dass ihre Fesseln nicht mehr so fest saßen und der Schritt der Pferde sich verlangsamt hatte. Die Erkenntnis, dass diese Männer sie nun etwas besser behandelten, konnte jedoch in keiner Weise ihr Verlangen nach Rache stillen.

Die Sonne stand nur noch eine Handbreit über dem Horizont, als die Gruppe sich einer Siedlung näherte. Anhand der merkwürdigen Bauweise der Häuser wusste Tscheyesa-win, dass dies ein Dorf der Weißen war, und wieder wurde sie von einer bösen Ahnung beschlichen. Dies war nicht ihr Volk und in Anbetracht ihrer bisherigen Erfahrungen mit ihnen, hatte sie nichts Gutes zu erwarten.

Nicht weit von der Siedlung entfernt trafen sie auf eine kleine Gruppe berittener Männer. Sie unterhielten sich eine Weile in ihrer merkwürdigen Sprache und während des Gesprächs fielen gelegentlich laute Worte. Aufgrund der vielen Seitenblicke, die ihr zugeworfen wurden, wusste Tscheyesa-win, dass die Männer über sie redeten.

Um ihre Verachtung darüber zu zeigen, schüttelte sie trotzig ihren Kopf, so, als versuchte sie, die Fliegen zu verscheuchen, die um die Gruppe herum flogen.

Tscheyesa-win erschien es, als würden die Männer über ihren Kaufpreis verhandeln, denn sie erhielt die gleichen abschätzenden Blicke, welche die tapferen Krieger den Pferden zuwarfen, die sonst auf dem Tauschplatz des Dorfes angeboten wurden.

Als die Unterhaltung fortgeführt wurde, war es aufgrund der vielen verärgerten Worte offensichtlich, dass die Männer sich nicht einig waren. Zu ihrer Überraschung zuckten die beiden Männer, die sie gefangen genommen hatten, mit ihren Schultern und gestatteten den Fremden, sie zu entwaffnen.

Einer der fremden Männer entfernte den Strick, der um ihren Hals lag – zu Tscheyesa-wins Erstaunen sehr behutsam und vorsichtig.

Die junge Frau wurde zu der Siedlung mitgenommen, die aus einer Ansammlung merkwürdiger Häuser bestand. Ihre anfängliche Verwirrung verwandelte sich schnell in Ärger, als Männer, Frauen und Kinder aller Art kamen, um sie anzuschauen. Sie empfand es als äußerst entwürdigend, wie ein preisgekröntes Pony ausgestellt zu werden.

Eine untersetzte, jedoch freundlich aussehende Frau kümmerte sich um Tscheyesa-win und führte sie in eine kleine Blockhütte. Tscheyesa-win war von der Frau fasziniert, aber noch mehr verwunderten sie die Dinge, die sie tat.

Die Frau bereitete das Essen in einer geradezu lächerlichen Weise zu und benutzte dazu merkwürdiges Kochgeschirr. Der Geruch kochenden Essens war jedoch sehr verlockend, besonders wenn man an die Art der Verpflegung dachte, die Tscheyesa-win während der vergangenen Tage erhalten hatte.

An dem Tisch des weißen Mannes auf Stühlen zu sitzen, war eine weitere neue Erfahrung für Tscheyesa-win, aber all das Befremdliche hinderte Tscheyesa-win nicht daran, alles Greifbare an Essen zu vertilgen. Sie hatte einen wahren Heißhunger, in Anbetracht der knappen Rationen der vergangenen Tage auch kein Wunder.

Die weiße Frau schaute sie erstaunt an, denn Tscheyesa-win schaufelte das Essen mit einem Stück Brot vom Teller direkt in ihren Mund, hatte noch nie etwas von Tischmanieren oder dem Essen mit Messer und Gabel gehört. Da sie dankbar für die Mahlzeit war, handelte sie gemäß dem indianischen Brauch, der besagte, dass man den Gastgeber beleidigte, wenn etwas Essen auf dem Teller verblieb.

 

In Tscheyesa-win zogen Zweifel darüber auf, ob die Geschichten der älteren Leute wirklich stimmten. Diese Frau war die erste Person, die ihr Freundlichkeit und Wärme entgegenbrachte, und sie war eine Weiße. Vielleicht bestand ja auch die Möglichkeit, dass nicht alle Weißen schlecht waren. Die Frau missdeutete Tscheyesa-wins Geste, denn sie nahm seufzend den Schöpflöffel und tauchte ihn in den Topf, um den Teller nochmals zu füllen. Tscheyesa-win hinderte sie daran, indem sie am Ärmel der älteren Frau zog. Das Mädchen legte den Kopf in ihre Hand, woraufhin die Frau sie anlächelte und zu dem Bett deutete, das sich auf einem kleinen Dachboden oberhalb des Raumes befand.

Tscheyesa-win war körperlich derart erschöpft, dass sie nicht einmal mehr ihre Kleidung auszog, sondern nur ihre Mokassins abstreifte und unverzüglich die Leiter hochkletterte, um sich auf dem Bett auszustrecken. Obwohl sie sehr müde war, konnte sie nicht gleich einschlafen. Im Raum war es viel zu heiß und stickig für jemanden, der die offenen Seitenwände eines indianischen Tipis gewohnt war. Sie lag auf dem Strohsack und sah sich staunend den Raum an. Nie zuvor hatte sie eine Hütte wie diese gesehen, in der sich das Bett nicht auf dem Boden, sondern in luftiger Höhe befand, Außerdem gab es seltsame Sachen, auf denen man saß oder von denen man aß. Auch das Bettzeug schien merkwürdig, es bestand weder aus Fellen noch Häuten, sondern nur aus dünnen, weißen Decken. Und das Bett war viel zu weich. Wie konnte jemand nur auf etwas schlafen, das bei jeder Bewegung nachgab und jedes Mal quietschte, wenn man sich herumdrehte? Sie dachte lange über das merkwürdige Aussehen und Benehmen der Frau nach, die so nett zu ihr gewesen war. Ihre Freundlichkeit war ebenso unglaublich wie die Grausamkeit der beiden Männer, die Keyaschante ausgepeitscht hatten.

Bei dem Gedanken an Keyaschante stiegen ihr Tränen in die Augen. Er war so warm, so zärtlich und immer so besorgt um sie gewesen. Er war immer freundlich den anderen gegenüber. Er war ein so guter Mensch, der nie ein schlechtes Wort über jemand anderen in den Mund nahm. Alle waren stolz auf ihn, aber lange nicht so stolz wie Tscheyesa-win auf ihn gewesen war.

In ihr stieg der Gedanke hoch, dass sie möglicherweise einen Fehler begangen hatte, weil sie Keyaschante für sich beansprucht hatte. Vielleicht war es ihr nicht bestimmt gewesen, sein Herz zu gewinnen. Falls es sein Schicksal gewesen war, nicht ihr Mann zu werden, dann hatte das Spinnenwesen wahrscheinlich ihre Heirat mit einem Fluch belegt und zu einem tragischen Ende verurteilt. Dieser Gedanke quälte Tscheyesa-win und brach ihr das Herz.

Die Schläfrigkeit umgab sie wie ein Nebel, und sie hatte das seltsame Gefühlt, dass ihr Flügel wachsen würden und sie sich damit hoch in die Lüfte erheben könnte, fort von diesen Platz und zurück in das Land ihrer vielen Freunde, in ein indianisches Dorf inmitten des hügeligen Landes. Dort wäre ein Tal mit kühlem, frischem Wasser, vielen Bäumen, langem Gras und … das Bild verblasste vor ihren Augen und sie fiel in einen Schlaf der Erschöpfung.

Am folgenden Morgen klopfte es an der Tür. Ein weißer Mann mittleren Alters, dessen Kleidung aus Rehleder bestand, betrat den Raum, nachdem er, auf sein leichtes Klopfen hin, hereingebeten worden war. Er sprach kurz mit der Frau, dann wandte er sich an Tscheyesa-win und redete sie in der Sprache der Sioux an. „Mein Name ist Reynolds, und ich arbeite für die Armee als Dolmetscher der Sioux.“

Als sie den Mann in ihrer Sprache sprechen hörte, wurden ihre Augen vor Erstaunen ganz groß.

„Die beiden Männer, die dich hergebracht haben, berichteten, dass sie dich zusammen mit einem Indianer gefunden hätten, und der Befehlshaber dieses Postens hat verfügt, dass du zu deinen eigenen Verwandten zurückkehren kannst … weißt du, wo sie sind?“

„Oh ja“, rief sie freudig, „ich gehöre zum Stamm von Chiefeagle, eine Gruppe der Teton Sioux!“

„Aber nein, Mädchen, ich meine nicht zurück zu den Indianern.“ Reynolds tat ihre Feststellung mit einer beiläufigen Handbewegung ab. „Du bist ein weißes Mädchen. Sie wollen dich deiner eigenen Familie zurückgeben.“

„Chiefeagles Familie ist meine Familie“, sagte sie beharrlich.

Der Dolmetscher zuckte mit seinen Schultern und verließ den Raum.

Erst am späten Nachmittag kehrte er zurück. Die Pionierfrau gab ihm eine Tasse Kaffee und die beiden unterhielten sich, wobei sie oft auf Tscheyesa-win schauten, die regungslos am Fenster stand. Schließlich wandte sich Mr. Reynolds in der Sprache der Sioux an das Mädchen: „Sprichst du unsere Sprache? Nein? Nun, wie dem auch sei, der Kommandant des Postens sagt, dass es nicht in Frage kommt, dass du dich wieder dem Stamm von Chiefeagle anschließt. Er kennt ein Ehepaar, das auf Geschäftsreise nach St. Louis unterwegs ist, und er hat mit ihnen vereinbart, dass sie dich mitnehmen. Mr. Callahan besitzt einen großen Laden in St. Louis, und das ist doch gar nicht mal so schlecht, Mädchen. Sie haben angeboten, sich um dich zu kümmern und eine richtige weiße Dame aus dir zu machen.“

„Ich will aber nicht dort hingehen. Warum wollen diese Weißen mich haben?“

„Nun, Mädchen, ich habe es so verstanden, dass ihre beiden Söhne erwachsen sind und das Haus bereits verlassen haben. Ihre einzige Tochter starb vor ein paar Jahren und ich glaube, sie wollen dich zu einem Mitglied ihrer Familie machen. Du siehst sicherlich nicht so aus wie eine Callahan und riechst auch nicht so, aber hübsch bist du auf jeden Fall.“ Reynolds fuhr mit dröhnender Stimme fort und erzählte Tscheyesa-win von allen Dingen, die sie in St. Louis erwarten würden.

In Tscheyesa-win dagegen wirbelten die Gedanken durch den Kopf. Wenn sie ohnehin von den Weißen festgehalten wurde, dann wäre es in jedem Fall besser, zu jemandem zu gehen, der sie auch eingeladen hatte. „Gut, ich werde gehen“, antwortete sie zögernd.