Nachspielzeit

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Für einen Moment scheint sie sich tatsächlich zu beruhigen. Ihre Hände entspannen sich leicht. Sieht ganz so aus, als hätte mir mein kurzzeitiger Ausritt in die Niederungen der deutschen Sprache ihr Vertrauen eingebracht.

Irgendjemand klopft an die Tür.

„Mein Name ist Klaus Hanner. Können Sie ein bisschen von der Tür wegrücken, dann schieben wir sie so weit auf, dass wir Sie rausholen können.“ Die Männerstimme auf der anderen Seite klingt vertrauenerweckend. Trotzdem zuckt Vera erneut zusammen und hebt ihre Hände wieder vors Gesicht. Ich bin überrascht über die heftige Reaktion auf die freundliche Stimme.

„Ja, machen Sie und wenn ich es sage, verlassen Sie sofort den Raum. Verstanden?“ Ich lasse keinen Zweifel darüber aufkommen, dass es mir bitter ernst ist mit meiner Anweisung.

„Sie gehen raus und informieren Carlos, den Sicherheitschef. Er ist wahrscheinlich noch bei der Pressekonferenz. Suchen Sie ihn, finden Sie ihn und bringen Sie ihn auf schnellstem Weg her. Sagen Sie ihm, Lydia Heller, die stellvertretende Pressesprecherin, braucht ihn. Er kümmert sich dann um alles.“

Ich überrasche mich doch immer wieder selbst. Wie klar meine Gedanken gerade in Ausnahmesituationen sind. Und wie sehr ich mit meinem Job verwachsen bin. Jeder andere hätte die Polizei und einen Notarzt angefordert. Ich aber will den Sicherheitschef. Weil ich weiß, er ist hier im Stadion am nächsten dran und kann ohne Verzögerung alles Erforderliche in die Wege leiten.

Plötzlich ist die Erinnerung an den 19. Oktober vor einem Jahr wieder da. Die Toten in der Tiefgarage. Severin blutüberströmt. Die Bombe, die zum Glück nur eine Attrappe war. Kaschrek! Noch so ein Arschloch …

Von draußen schiebt dieser Hanner mit der Tür unsere beiden Körper zentimeterweise Richtung Kloschüssel. Mit Erfolg. Sekunden später sehe ich für einen Moment in zwei braune Augen unter einem wuscheligen Blondschopf. Der Mann zur Stimme. Ich bitte ihn mit einem dankbaren Nicken in Richtung Tür, unsere Vereinbarung zu erfüllen.

„Ich geh dann mal und suche … wie … Carlos. Okay. Das mache ich“, rappelt er sich hoch und verschwindet.

Vera krabbelt auf allen Vieren aus der Kabine heraus, zieht sich mühsam am Waschbecken hoch und schaut im Spiegel ihre Wunde an der Stirn an. Tupft vorsichtig mit zwei Fingern darauf, aber das Blut ist nicht mehr frisch.

Ich drehe Vera sanft zu mir um. Sie wehrt sich nicht wirklich und nimmt meine Schulter dankbar an. Lautes Schluchzen folgt. Ihr ganzer Körper schüttelt sich, und wir sinken zu Boden. Dabei kann ich sie nur mit Mühe festhalten. Aber es gelingt. Jetzt sitzen wir eng umschlungen mitten im Damenklo. Eine völlig abstruse Situation, passend für eine Komödie oder ein Drama. Ganz egal.

Ein Laut reißt mich zurück in die Gegenwart. Wieder dieses herzzerreißende Schluchzen.

„Warum? Warum hat er das gemacht?“, bricht es aus Vera heraus. Dann folgt eine kleine Ewigkeit nichts.

Ich streichele ihr über die blonden Haare. „Wenn du mir erzählen magst, was passiert ist … ich höre dir zu.“

„Es war doch nur ein Spiel. Eine kindische Wette. Er hat sich einen Kaffee bei mir geholt und wir haben herumgealbert. Er hat gesagt, die Eintracht wird zur Halbzeit 2:1 führen und mit mir um einen Kuss gewettet. So zum Spaß. Einfach nur eine Blödelei. Ich habe gedacht, den siehst du eh nie wieder. Aber er kam und hat sich seinen Kuss abgeholt. Ganz brav auf die Backe. Es war lustig und er war schon irgendwie mein Typ.“

„Und dann?“

„Hat er mir eine zweite Wette angeboten. Wenn die Eintracht das Spiel gewinnt, wollte er einen echten Kuss. Und einen für jedes weitere Tor, das die Mannschaft gegen die Bayern noch schießt. Und für mich 500 Euro für jedes Tor, das die Bayern noch schießen.“

„500 Euro. Nicht schlecht.“

„Ich konnte doch nicht ahnen, dass die wirklich fünf Tore schießen. Habe gedacht, die Bayern machen schon noch eins oder sogar zwei rein. Macht einen Tausender. Für mich. Das, was wir hier bekommen, ist nicht schlecht, aber … Hallo? Ein Tausender!

„Und du hast ihm geglaubt?“, frage ich vorsichtig nach und bin mir nicht ganz sicher, ob ich ihr die Geschichte so abnehmen soll. 500 Euro pro Tor … klingt nicht wirklich glaubhaft.

Sie hebt angewidert die Mundwinkel. „Ja klar. Mein Gott. Fußball. VIP-Bereich. Da fliegen die Scheine doch immer tief.“

Innerlich muss ich lachen. Ja, in der Fußball-Bundesliga geht es um eine Menge Geld. Und viele genießen es, ein Teil dieser Welt zu sein. Für 90 Minuten plus Nachspielzeit. Aber Fußball ist eben nicht nur Geld. Drüben in der Kurve, die sparen sich jede Fahrt und jede Eintrittskarte vom Mund ab. Und auch hier im VIP-Bereich gibt es eine Menge Leute, die ihr Geld hart verdienen.

„Aber du siehst nicht so aus, als wäre es am Ende nur um ein paar Küsse für die drei Eintracht-Tore in der zweiten Halbzeit gegangen? Wieso bist du mit ihm aufs Klo?“, bohre ich nach.

„Nein. Schlimmer.“ Sie schluchzt wieder laut auf. „Es war mein Vorschlag.“ Pause. „Es ist mein erster Tag heute. Was glaubst du, was die mit mir gemacht hätten, wenn ich an der Kaffeebar mit einem Wildfremden rumknutsche? Also habe ich vorgeschlagen, wir verziehen uns nach dem Spiel kurz auf die Toilette. Er war einverstanden und ein Freund von ihm hat gesagt, er steht Schmiere. Mein Gott, wie dumm bin ich denn?“

Sie bricht ab und beginnt hemmungslos zu weinen. Über das, was passiert ist, und wahrscheinlich über ihre eigene Unbekümmertheit.

„Er hat noch gesagt: Mäuschen, lass uns aus den vier Küssen doch lieber einen ordentlichen machen … und mir dann seine Zunge in den Hals gesteckt. Widerlich! Aber ich dachte immer noch: Okay, du blöde Gans. Das hast du dir schön selbst zuzuschreiben. Augen zu und durch. Statt der erhofften tausend Euro hast du eben nur einen scheiß Geschmack im Mund.“

Ich starre sie an. Frage mich, ob ich an irgendeinem Punkt in meinem Leben ähnlich gehandelt hätte. Wie alt mag sie sein? Mitte, Ende 20? Ziemlich verkrachte Existenz, wenn du in dem Alter noch für Mindestlohn Kaffee servieren musst.

Sie schaut mich an. Kann sie meinen Gedanken erraten haben? Wie peinlich ist das denn?

„Alles gut, Vera“, plappere ich drauflos.

„Nee, nichts ist gut“, antwortet sie aufgebracht. Als hätte sie tatsächlich meine Gedanken gelesen. „Plötzlich hat er mich herumgerissen und meine Brüste und meinen Hintern begrapscht. Ich habe gesagt, er soll sofort damit aufhören. Da hab ich auch schon seine Hand zwischen meinen Beinen gespürt. Mäuschen. Komm. Tu nicht so, als kämst du aus dem Nonnenkloster. Du willst es doch auch, du kleine Nutte, hat er mir ins Ohr gesabbert und versucht, meinen Rock nach oben zu schieben.“

„Und dann?“ Eine dümmere Frage ist mir wahrscheinlich noch nie im Leben eingefallen.

„Ich habe mich mit letzter Kraft aus seiner Umklammerung herausgewunden und ihm eine geklatscht.“

„Gut so.“

„Eher nicht. Er hat mit voller Wucht zurückgeschlagen“, sie deutet auf die derbe Rötung unterhalb ihres Auges. „Ich habe nur noch Sternchen gesehen, das Gleichgewicht verloren und muss beim Fallen auf die Kloschüssel geknallt sein. Dumme Fotze, hat er geschrien und ist einen Schritt zurückgegangen. Den Moment habe ich genutzt, um die Klotür vor seiner Nase zuzuknallen und abzuriegeln. Dann ist es dunkel um mich herum geworden.“

Einen Moment lang überlege ich, wie ich mit dieser grauenvollen Geschichte umgehen soll. Dann treffe ich eine klare Entscheidung: „Vera, wir müssen die Polizei informieren. Hast du das verstanden? Da hilft uns der Sicherheitsdienst nicht weiter.“

Vera rappelt sich mühevoll hoch. Es fällt ihr sichtlich schwer, aufrecht zu stehen. Sie dreht den Hahn auf und spritzt sich Wasser ins Gesicht. Dann blickt sie sich selbst im Spiegel an. Eine gefühlte Ewigkeit lang.

„Vera?“, frage ich.

Sie überlegt einen Moment. Dann antwortet sie mit klarer Stimme: „Okay. Dann eben die Polizei. Aber glaub mir, die kriegen das nicht gebacken. Du musst mir helfen. Ihr habt doch überall Kameras. Kommst du an die Aufzeichnungen ran? Dann können wir den Mann identifizieren. So wie sie es letztes Jahr in einem Fanzug von München nach Gladbach gemacht haben. Nach der Vergewaltigung einer 19-Jährigen haben sie in Flörsheim den Zug gestoppt, das Opfer rausgeholt und von allen mitfahrenden Männern zwischen 18 und 50 bei den weiteren Haltepunkten Fotos gemacht. So haben sie das Schwein gekriegt.“

Wow. Damit habe ich jetzt nicht gerechnet. Die letzten Sätze kamen wie aus der Pistole geschossen, wie auswendig gelernt. Ich muss einen Moment nachdenken. Mir Klarheit verschaffen. „Vera. Beruhige dich. Wir tun alles. Natürlich. Aber ohne Polizei geht gar nichts. Die müssen alles veranlassen. Verstehst du? Ich kann da gar nichts machen.“

In diesem Moment reißt Carlos die Tür auf. Er schaut erst mich, dann Vera an. „Was um Himmels willen ist hier passiert?“, will er mit bohrendem Blick wissen.

„Das lässt sich nicht in zwei Sätzen erklären“, antworte ich zögernd, doch davon scheint er wenig zu halten.

„Draußen stehen sich die Damen schon die Füße platt“, deutet er grinsend auf die Tür. „Also, wenn nichts beschädigt ist, sollten wir vielleicht in die Geschäftsstelle gehen und dort reden.“

Mit diesen Worten schiebt uns der große Kerl mit einer ausladenden Handbewegung zur Tür hinaus. Vera zuckt nicht einmal, als er sie sanft anschiebt. Ihre Panik scheint verflogen.

In meinem Büro angekommen, drücke ich ihr einen Kaffee in die Hand. „Schnaps?“, frage ich. Sie schüttelt den Kopf. „Wenn ich noch zur Polizei soll – besser nicht.“

Sie schaut erwartungsvoll zu Carlos, aber der scheint ausgerechnet jetzt unschlüssig. „Ihr müsst mir gar nichts erzählen. Sie müssen nur entscheiden, ob ich die Polizei einschalten soll. Dauert keine fünf Minuten, dann sind die Beamten hier“, erklärt er Vera. Sie nickt und schweigt.

 

Für Carlos das Zeichen, dass er zunächst nicht aktiv werden muss. Er dreht sich Richtung Tür. „Ruf mich an, wenn sie sich anders entscheidet“, murmelt er. „Ich werde sie auf jeden Fall schon mal bei der Security als abwesend melden. Sonst sucht noch das halbe Stadion nach ihr.“

Als die Tür ins Schloss fällt, setzt sich Vera auf. „Und nun?“, will sie wissen.

„Nun rufe ich Severin an. Severin Klemm. Ein Freund von mir. Er ist Journalist und hatte es zuletzt mit einer Art Wett-App zu tun. Da geht es wohl um solche Sachen, wie du sie mit dem Typ im Stadion erlebt hast. Seltsame Wetten eben. Vielleicht kann er helfen. Ist das okay für dich?“

Sie nickt.

KAPITEL 2

SAMSTAG, 2. NOVEMBER 2019, 17.40 UHR

SEVERIN

Severin?“

Blinzelnd sehe ich über meinen Monitor hinüber zu Achim, der vor seinem Gesicht herumschnipst, als würde er sich selbst aufwecken wollen. Ich hebe meine Brauen und fahre mir durch die Haare.

„Was, Achim?“

„Hast du das gelesen?“

Ich verziehe den Mund und atme tief durch.

„Was, Achim?“, wiederhole ich meine Frage und werfe einen Blick aus dem Fenster.

„Bei deinem scheiß Zockerspiel ist einer draufgegangen. Ist gerade als Agenturmeldung reingekommen.“

Wie elektrisiert erhebe ich mich und gehe um den Tisch zu ihm hinüber. Mein Blick fixiert den Bildschirm und die Worte, die da groß und fett stehen. Mir mit jedem einzelnen Buchstaben Panik und Schuld in die Glieder rammen.

War es nur eine dumme Wette? 19-Jähriger stirbt nach Fenstersturz.

„Ich muss da hin“, murmle ich völlig in Gedanken, greife mir meine Jacke und gehe, ohne auf Achims Rufe zu hören.

Dieses verdammte Spiel. Diese verdammte App. Ich verdammter Idiot. Warum habe ich es nicht geschafft, sie abstellen zu lassen?

Kurz bevor ich am Aufzug bin, fingere ich mein Handy aus der Tasche und wähle Tims Nummer.

„Bist du schon raus aus dem Stadion? Du musst mich abholen.“

„Hast du ’nen Knall?“

„Tim!“, knurre ich zurück, nehme das Handy kurz von meinem Ohr, um mich zu beruhigen, und rede dann weiter. „Ein Spieler ist gestorben.“

Mit einem „Bin unterwegs“ beendet Tim das Telefonat. Ich starre verwirrt auf mein Handy, rufe den wenigen Kollegen am Newsdesk „Außentermin!“ zu und trete in den Aufzug. Die Erinnerungen überrennen mich. Lassen mich taumeln, bis ich mich schwer atmend gegen die kühle Fahrstuhlwand lehne.

Der Tote könnte ich sein. Ich, weil ich über diese blöde App recherchieren wollte, aber immer weiter in den Sumpf hineingeraten bin.

Unten angekommen, muss ich nicht lange warten, bis Tim in seinem schwarzen BMW vorfährt. Von Sachsenhausen ist es nur ein Katzensprung hierher. Jedenfalls an einem Samstagnachmittag. Selbst dann, wenn die Eintracht gespielt hat.

„Wo müssen wir hin?“, fragt er, als ich einsteige, und mustert mich. Mustert mich mit diesem bestimmten Blick, den auch Lydia nach meiner Verhaftung draufhatte. Als wollten sie nachsehen, ob etwas in mir zerbrochen ist. Dabei vergessen sie, dass man es nicht sehen kann. Keiner kann das, außer mir.

„Uni“, zische ich. „Westend.“

Die Stille im Auto erdrückt mich und bringt alles zurück. Die Blicke. Die Stille. Die Enttäuschung in Lydias Augen, als sie begriff, dass ich nie in einem Kriegsgebiet gewesen war. Dass ich nie zu dem Journalisten geworden bin, den sie in mir gesehen hat. Stattdessen bin ich einer abstrusen Wettgesellschaft hinterhergejagt und habe mich selbst zum Spieler gemacht.

Nach einer halben Ewigkeit kommen wir endlich an. Ich springe aus dem Auto und während Tim einen Parkplatz sucht, stürme ich auf den abgesperrten Bereich vor dem Brunnen.

Die Leiche wird abgeschirmt und einige Polizisten halten weinende Studenten zurück. Wieder prasseln Bilder auf mich ein. Diesmal von Lydia, Tim und mir. Von einer unbeschwerten Zeit hier am Campus. Ich sehe kurz hinter mich zum Casino, in dem wir so oft gegessen haben.

„Was ist passiert?“, frage ich einen der Polizisten. Er versucht auf dem Presseausweis, den ich ihm vor die Nase halte, etwas zu erkennen, und sofort wird sein Blick abschätzig.

„Die Presse ist also auch schon da.“

„Was ist passiert?“, wiederhole ich und balle meine Hände zu Fäusten. Seit ich in der Türkei nach den Betreibern der Wett-App gesucht habe, ist da wieder diese Wut in mir. Eine, die ich kaum imstande bin zu bändigen.

„Ein Student ist aus dem zweiten Stock gestürzt“, übernimmt eine junge Frau neben mir das Wort. Ihre Stimme klingt fassungslos und gebrochen. So, wie sich meine Stimme wahrscheinlich auch einmal angehört hat. Damals, vor den Toten in der Tiefgarage. Vor Kats Tod, bevor Lydia entführt wurde und bevor Mic entlassen wurde, nur um sich dann das Leben zu nehmen.

Ich schlucke schwer und räuspere mich, um meine Fassung wieder zu erlangen.

„Und er hat diese App gespielt?“, frage ich sie und zeige auf meinem Handy das rot-schwarze Symbol des Icons.

Sie zuckt mit den Schultern und deutet dann auf einen Kerl, der oben an der Treppe steht und starr hinabsieht. „Frag ihn.“

Der Polizist seufzt, doch ich ignoriere ihn und gehe auf den paralysierten jungen Mann zu.

„Hey“, versuche ich einen Anfang und lege den Kopf ein wenig schief. „Bist du ein Freund des Toten?“

Bei diesem Wort treffen mich seine vernebelten Augen. Dann nickt er matt und resigniert.

„Wir wollten doch nur …“ Seine Stimme bricht.

„Severin!“, höre ich plötzlich Tims Stimme, ignoriere sie aber. Im Augenwinkel erkenne ich den Polizisten. Er wird auch begriffen haben, dass dieser Junge hier dabei war.

„Was ist passiert?“, fordere ich eindringlich und berühre seine Schulter.

„Wir wollten nur ein bisschen Geld verdienen. Und Marvin wusste alles über die Eintracht und …“

„Und?“

„Er sollte die nächste Antwort vom Fenstersims aus hinausschreien. Aber wir haben vorher getrunken und …“

„Kommen Sie bitte mit mir“, unterbricht uns der Polizist und stellt sich zwischen uns. Hier werde ich also keine Informationen mehr bekommen. Verdammt. Diese beschissene App.

„Severin!“, höre ich Tim wieder schreien. Jetzt deutlich näher und völlig außer Atem.

„Was ist los, Mobby Dick? Bist du schon wieder gerannt?“, frage ich mit zusammengezogenen Brauen, als er vor mir ankommt und sich schweratmend auf seinen Beinen abstützt.

Tim brummt irgendetwas, das ich nicht verstehe, sich aber verdächtig nach „Arschloch“ anhört. Ich drehe mich um und suche nach einem bekannten Gesicht und dann erkenne ich sie.

„Jules!“, rufe ich über den Campus. Ein paar der Polizisten drehen sich um und dann trifft mich ihr Blick. Sie sieht so verdammt zornig aus, dass ich belustigt einen Mundwinkel hebe, während sie auf mich zu stapft.

„Du sollst mich ordentlich ansprechen, wenn ich im Dienst bin, Severin!“, knurrt sie kaum hörbar und funkelt mich böse an. Ich hebe beschwichtigend meine Hände und deute dann auf den jungen Kerl, den ich gerade noch befragt habe.

„Sie sind Spieler?“, frage ich, obwohl es viel eher eine Feststellung ist. Aber Jules mag es, wenn ich ihr das Gefühl gebe, sie hätte alles in der Hand, während ich sie um kleine Happen an Informationen anbetteln muss. „Oberkommissarin Monika Julia Lacker“, füge ich noch schnell und grinsend hinzu.

„Ja, Herr Klemm. Sie sind Spieler. Einer von ihnen war ein Spieler. Denn jetzt ist er tot. Verstehst du? Es gibt eine Leiche. Also hast du hier nichts zu suchen. Ich bin die Polizei.“

„Und ich Journalist“, sage ich mit geschwollener Brust und schnipse Tim zu, der mich nur verdutzt ansieht, statt mir einen Zettel zu reichen. Anfänger.

„Das ist kein Spiel, Sev“, flüstert Jules und tritt ein wenig näher. „Du wärst ebenfalls fast gestorben und …“

„Genau genommen ist es sehr wohl ein Spiel.“

Sie seufzt genervt, fährt sich durch ihr Haar und dann nehmen ihre Augen einen flehenden Ausdruck an.

„Bitte, Severin. Halt dich da raus!“

Ich will ihr gerade sagen, dass ich es nicht kann. Nein, ich will es ihr ins Gesicht brüllen, weil ich wieder einmal von dieser kaum zu bändigenden Wut überrannt werde, als mein Handy klingelt. Ich stöhne genervt, nehme es aus meiner Tasche und starre auf den Namen, der dort grell blinkt. Lydia. Was? Irritiert nehme ich das Gespräch an. Jules verfolgt jeden meiner Schritte von ihr weg.

„Was gibt’s, Goldlöckchen?“, frage ich in das Handy und ernte ein Stöhnen.

„Ich brauche deine Hilfe“, raunt sie, als könne sie nicht offen sprechen.

„Ach, schon wieder?“

„Sei bloß still, Sev! Sonst erinnere ich dich daran, wer vor zwei Monaten in der Scheißtürkei festgenommen wurde, weil er da illegale Wetten abgeschlossen hat, und mich angebettelt hat, ihm zu helfen.“

„Muss ein draufgängerischer Kerl gewesen sein“, lache ich und spüre immer noch Jules Blicke in meinem Rücken.

„Severin! Komm bitte zum Stadion.“

„Und warum?“ Sie weiß genau, dass ich diesen Ort nie wieder betreten will.

„Weil ich deine Hilfe brauche, verdammt. Wie beschränkt kann man eigentlich sein?“

Ich grinse, was sie natürlich nicht sehen kann. Aber ich liebe es einfach zu sehr, Lydia auf die Palme zu bringen.

„Ich habe hier eine Frau gefunden. Auf dem Klo. Verletzt. Und das, was sie erzählt hat, klingt verdächtig nach deiner beschissenen App.“

„Meiner App?“, frage ich zornig, fange mich aber wieder und nicke schwer atmend. „Bin unterwegs.“

„Sag am Eingang deinen Namen.“

„Soll ich auch erwähnen, dass die Pressesprecherin die Presse reinlässt?“

Ein Klicken verrät mir, dass sie nicht weiter mit mir reden will. Wahrscheinlich sogar verständlich.

„Ich muss los“, werfe ich Jules zu, die verärgert den Kopf schüttelt, und scheuche Tim vor mir her.

„Bis heute Abend, Babe“, raune ich Jules noch mit einem Zwinkern zu. Sie antwortet mit einer nicht so freundlichen Geste.

„Was ist jetzt schon wieder?“, keucht Tim, als wir endlich bei seinem Auto ankommen.

„Gib mir die Schlüssel, so wie du atmest, stirbst du jede Sekunde und ich direkt mit dir, wenn du hinterm Lenkrad sitzt.“

„Ha, ha“, macht der, überreicht mir aber sofort seinen Schlüssel.

Als wir endlich am Stadion ankommen, mustert mich der Ordner, als sei ich ein verblödeter Fan, der den Anpfiff verpasst hat.

„Severin Klemm“, nuschle ich. „Lydia Heller erwartet mich in ihrem Büro in der Geschäftsstelle.“ Der Ordner hebt nur seine Brauen und dann das Funkgerät an seinen Mund, bis er mich endlich durchlässt.

Es ist inzwischen zehn nach sieben. Zwei Stunden nach Spielende. An den Getränke- und Fressständen wird zusammengepackt und nur oben im VIP-Bereich zeigt die Beleuchtung, dass die Reichen und Schönen mal wieder den Hals nicht voll kriegen. Ich stelle Tims Auto auf dem Zufahrtsweg zum Stadion an der Seite ab. Weit genug weg von dem Ort, an dem mein Leben sich auf herzzerfetzende Art verändert hat. So schnell, dass ich es kaum begreifen konnte und noch immer nicht kann. In die Tiefgarage hätten mich keine zehn Pferde gebracht. Die erst recht nicht. Aber mit Sicherheit auch keine zehn leichtbekleideten Damen.

Wir steigen aus und laufen los.

Tim meckert hinter mir immer wieder, dass dieser Weg viel länger ist, was ich aber geflissentlich ignoriere. Mein Herz pocht unerbittlich gegen meine Brust. Warum auch immer. Ich habe Lydia, seit sie mich aus der Türkei geholt hat, nicht mehr gesehen. Vielleicht liegt es daran.

Als wir endlich am Nordost-Eingang ankommen, entdecke ich sie rauchend vor der Rampe. Unruhig kaut sie auf ihrer Lippe herum. So wie immer.

„Severin!“, stößt sie hervor, als sie mich entdeckt und auf mich zukommt. Fast so, als wäre ich ihr Retter in der Not. Aber was genau soll ich hier? Und wie soll ich ihr helfen?

„Ich habe im VIP-Bereich auf der Toilette eine Frau gefunden, die offenbar Ärger mit einem Kerl hatte“, flüstert sie beinahe verschwörerisch. „Und das, was sie über das Spielchen, das er mit ihr gespielt hat, erzählen konnte, ist …“

„Stopp“, unterbreche ich sie und lege den Kopf schief, bevor ich meine Hände sanft auf ihre schmalen Schultern lege.

 

„Was für ein Spiel?“

„Er“, beginnt sie völlig durcheinander. „Er hat auf die Tore gewettet. Der Einsatz war ein Kuss und Geld.“

„Und wie passt das mit mir zusammen?“

„Du weißt alles über diese App.“

„Lyd“, versuche ich, sie zurück in die Realität zu holen. „Die Spieler müssen Fragen zur Eintracht beantworten und Aufgaben erledigen, bevor sie die Antwort nennen dürfen. Sie wetten nicht um Küsse.“

„Sie wetten in der App aber auch um Tore.“

„Ich glaube, dass du einfach gerne eine Antwort für das hättest, was hier passiert ist, aber … die kann ich dir nicht geben.“

Sie atmet tief ein und nickt dann resigniert. „Würdest du dir wenigstens alles noch einmal anhören und versuchen, eine Verbindung herzustellen?“

„Natürlich“, gebe ich ruhig und heiser zurück und mustere ihre großen blauen Augen, die sich ein wenig entspannen.

„Kann ich sie sehen?“

Lyd beißt sich erneut unruhig auf der Lippe herum und nickt dann. „Sie ist in meinem Büro.“

„In deinem Büro?“ Ich sehe sie skeptisch an.

„Ich wollte, dass du mit ihr sprichst, bevor wir die Polizei hinzuziehen.“

„In Ordnung, bring mich zu ihr.“

Wir gehen die Rampe hinter der mächtigen Kurve hoch und ich bemühe mich, nicht richtig hinzusehen. Mich nicht diesem Gefühl hinzugeben, das in mir wächst und wächst. Angst, Panik, aber vor allem Trauer und Schmerz. Ich verbinde das Stadion nicht nur mit den Toten, die ich gesehen habe, oder dem Angriff des Mörders. Nein, ich verbinde es auch mit meiner Jugend. Mit einer Freundschaft zu Mic, die genau hier unterhalb der Fankurve geendet hat, genauso wie sein Leben.

Ich bin froh, als wir hinter der Tür zu den Geschäftsräumen verschwinden und in dem ausladenden Büro stehen, von dem man hinab auf den Rasen sehen kann.

„Das sind Freunde“, sagt Lydia behutsam zu der Frau, die zusammengekauert auf einem der Stühle sitzt und ängstlich nickt.

Okay, Severin. Jetzt bloß nicht taktlos sein.

„Ich bin Severin. Lydia hat mir erzählt, dass … jemand mit Ihnen gewettet hat.“

Sie sieht zu Lydia, doch dann nickt sie, als diese ihr ein Lächeln schenkt.

„Wie lief die Wette ab?“

„Er bot mir Geld für jedes Tor, das für die Bayern fällt, und wollte einen Kuss für jedes Tor, das die Eintracht schießt.“ Sie klingt ängstlich und doch besitzt ihre Stimme eine gewisse Stärke, die ich so nicht erwartet habe. Tim und ich stehen immer noch an der Tür, um ihr nicht zu nahe zu treten, während Lydia ihr Wasser reicht.

„Hat er eine App erwähnt?“

Sie wirft mir einen irritierten Blick zu.

„Eine App? Denkst du, dass das nur ein dummes Spiel war?“, schnaubt sie und deutet auf die Wunde an ihrem Kopf. „Sieht das hier nach einem Spiel aus?!“

Ich hebe beschwichtigend meine Hände und trete noch einen Schritt zurück.

„Auf keinen Fall. Es gibt nur eine App, in der man Eintracht-Rätsel lösen und Aufgaben erfüllen muss. In dieser App wird auch auf Tore gewettet. Wenn man falsch liegt, muss man noch schwierigere Aufgaben erledigen.“

Sie legt den Kopf schief und runzelt die Stirn. „Aufgaben wie die, eine Frau zu belästigen?“ Ihre Stimme bricht.

Schwer atmend schüttle ich den Kopf und verfluche Lyd innerlich dafür, dass sie mich hierher gebracht hat.

Etwas in mir entscheidet sich, den Abstand zu minimieren. Ohne weiter nachzudenken, gehe ich auf sie zu und setze mich neben sie. Lyd hält hörbar die Luft an.

„Hör zu, …?“ Ich sehe sie fragend an.

„Vera“, presst sie hervor.

„Ich benehme mich oft wie ein blöder Trottel. Da kannst du die beiden fragen.“

Lyds Augen sind weit aufgerissen, während Tim nickt, bis ich ihm einen vernichtenden Blick zuwerfe.

„Dieser kleine Wichser hat keine App erwähnt?“, hake ich noch einmal nach. Lydia keucht. Sie kann sich auch nicht einmal ruhig verhalten. Alles muss eine Reaktion bei ihr auslösen.

„Nein“, gibt diese Vera knapp zurück.

Ich versuche mich zu konzentrieren. Was daran könnte für die App sprechen? Natürlich kann man da auch um Tore wetten. Aber die eigentlichen Wetten schließen die großen Tiere ab. Eine Ebene höher als die Spieler gibt es nämlich die reichen Säcke, die auf die Spieler wetten.

Auch gestern Nacht gab es Menschen, die darauf gewettet haben, ob der Junge die Lösung seines Rätsels vom Fenster aus hinab schreit. Wahrscheinlich war sein Freund dabei, um das alles live zu filmen.

Ich atme schwer. Könnte der Mann eine Aufgabe gestellt bekommen haben? Aber dann hätte er die Lösung präsentieren müssen.

„Hat er irgendetwas ohne Zusammenhang gesagt?“

Sie schüttelt den Kopf.

„Ich sollte Jules anrufen“, raune ich Lydia zu.

Sie rümpft ihre Nase und sieht mich ernst an. „Die Mordkommission? Spinnst du?“

„Wer ist Jules?“, fragt die junge Frau panisch, ich fahre mir genervt durch meine Haare und stehe auf.

„Eine Freundin von der Polizei. Sie kann helfen, den Kerl zu finden.“

„Habt ihr eigentlich eine Ahnung, wie Frauen wie ich in solchen Situationen behandelt werden? Als was wir von den Männern bezeichnet werden? Saftschubse oder Ginhure sind noch die netten Worte.“ Tränen platzen aus ihren Augen.

„Ein Grapscher hier, ein tiefer Blick ins Dekolleté oder ein Zwicken in den Hintern sind auch an der Tagesordnung. Und hier …“ Sie deutet um sich herum. „Hier in dieser beschissenen, glitzernden Fußball-Welt ist es noch schlimmer!“ Sie steht auf, stellt das Wasserglas zur Seite und richtet sich noch einmal an Lydia. „Und du bist eine verdammte Frau in dieser Männerdomäne und machst nichts! Dabei könntest du mit einem Blick auf die Videos alles klarstellen.“

„Ich …“, setzt Lyd an.

„Na dann ruft halt die Bullen. Ich werde ihnen erzählen, was hier los war“, schreit Vera plötzlich und rennt zur Tür. „Nun macht schon! Die werden sich eh wundern, warum wir so lange gewartet haben.“

„Das war ja erfolgreich“, brumme ich, wofür ich einen hasserfüllten Blick von Lyd ernte. Ich mache einen Schritt auf sie zu. „Es hat nichts mit der App zu tun, Lyd. Ich kann mir das jedenfalls nicht vorstellen.“

„Ja, ja, aber du weißt es eben nicht zu hundert Prozent!“, spuckt sie mir förmlich entgegen und schlägt die Hände vors Gesicht. „Wie sicher bist du dir?“

„Wie kamst du überhaupt darauf?“

„Weil“, beginnt sie und sieht mich dann nachdenklich an. „Weil …“

„Wolltest du mich vielleicht einfach nur wiedersehen?“, frage ich und zwinkere ihr zu. Ihr Mund öffnet sich.

„Genau, Severin. Ich wollte nicht helfen. Ich wollte auch nicht einfach nur deine Hilfe. Ich wollte natürlich ausschließlich den großen, tollen Severin Klemm sehen.“ Sie prustet. Aber irgendetwas an ihr ist zu aufgebracht. Vielleicht wollte sie mich nicht einfach nur sehen. Aber sie wollte das hier nicht allein durchstehen müssen. Nicht ohne mich.

„Sie hat recht. Wenn ich jetzt die Polizei informiere, werden die wissen wollen, warum wir zwei Stunden damit gewartet haben und die Toilette wahrscheinlich längst gereinigt wurde. So eine verdammte Scheiße. Ich hab’s versaut. Ich muss den Präsi suchen oder Max. Wir brauchen eine Entscheidung, wie wir pressemäßig damit umgehen sollen“, quillen Wortfetzen aus ihrem Mund hervor.

„Darüber machst du dir Sorgen?“ Ich schnaube herablassend.

„Leck mich, Sev. Manche von uns haben einen Job, den sie nicht so leichtfertig aufs Spiel setzen wollen!“, flucht sie und deutet auf die Tür. „Und jetzt lass dich nicht länger aufhalten!“

„Euer Wunsch sei mir Befehl, Eisprinzessin.“

Sie flucht hinter mir, aber ich höre nicht hin, während ich die Gänge zurücklaufe. Wut kocht in mir hoch. Unbändige Wut, weil sie mich angerufen hat. Sie wollte meine Hilfe. Sie wollte, dass ich nachforsche, ob es was mit der beschissenen App zu tun hat. Und jetzt kostet mich das Wissen darüber schon wieder meine Nerven und meinen verdammten Verstand. So wie schon vor Monaten.