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KAPITEL 4

DIENSTAG, 5. NOVEMBER 2019, 19:45 UHR

SEVERIN

Es gibt zwei Arten von Menschen“, nuschle ich und nippe an meinem Bier. „Lydia Heller und Severin Klemm.“

Tim und Achim werfen mir irritierte Blicke zu.

„Was?“, blaffe ich und verdrehe die Augen. „Sie versteht einfach nicht …“

„Sev. Sie hat dir wirklich geholfen. Du bist ihr was schuldig“, mischt sich Tim ein.

„Trotzdem hat sie keinen Grund, mich um Hilfe zu bitten, nur um mich dann wieder abzuservieren.“

Ich trinke weiter. Wahrscheinlich habe ich längst genug. Aber die letzten Tage haben so einiges aufgewühlt. Lydia, das Stadion … aber vor allem der tote Junge.

„Das war am Samstag. Heute ist Dienstag. Komm drüber weg.“

„Ich verstehe nicht, warum sie diese App weiterlaufen lassen“, weiche ich vom Thema ab und hebe meine Hand, damit die Bedienung, die hinter den Glasfenstern am Börsenplatz gerade ihre Zigarette ausmacht, zu mir kommt, bevor sie zur Bar geht.

„Was genau macht man da eigentlich? Ging es nicht nur um Eintracht-Fragen?“ Achim legt nachdenklich einen Finger auf die Oberlippe und streicht über seinen Schnauzer. Irgendein neuer Trend, den ich Gott sei Dank nicht mitmache.

„Erst waren es nur Fragen … Erst sind es nur Fragen“, sage ich und deute der Bedienung, dass sie noch drei Bier bringen soll. „Wenn man das hinbekommt, kommt man irgendwann in Runde zwei und wird zum Silber-Spieler. Da muss man dann die Orte aufsuchen, an denen die Geschichte zur Frage passiert ist. Also das Stadion oder den Römer oder was weiß ich.“

Tim wird unruhig. Beinahe so, als würde er hier jemanden von den App-Betreibern erwarten, der mich wieder in einen Hinterhalt locken und bedrohen will.

„Dann wirst du Gold-Spieler und hast die Chance auf einen Jackpot. Dafür musst du an Orte, die dir die App sagt, und die Antwort von dort herausbrüllen.“

„Klingt wie ein harmloses Spiel“, quittiert Achim meine Ausführungen.

Ein Lachen entfährt mir. Eins, das so freudlos klingt, dass es mich selbst erschreckt. Ich verenge meinen Blick und beuge mich vor. „Es ist tödlich. Die Orte sind gefährlich, Achim.“

„Wie das Fenster einer Uni?“ Er kann sich ein blödes Grinsen nicht verkneifen.

„Genau“, brumme ich im Gleichtakt mit meinem Handy. Ich werfe kurz einen Blick darauf und fluche innerlich.

Wo bist du? Bin in deiner Wohnung.

„Ladies, ich muss euch verlassen“, sage ich genervt, krame einen Zehner aus meiner Tasche und lasse ihn auf den Tisch segeln. „Genießt das Bier.“

„Und wer fährt dich?“ Tim schüttelt genervt den Kopf, legt dann ebenfalls Geld dazu und entschuldigt sich bei Achim, der nur abwinkt.

„Ich will eh noch den Bericht im SWR über den AfD-Abgeordneten sehen, der angeblich für diese rechtsextreme Zeitung Artikel geschrieben hat.“

„Er wird es weiterhin abstreiten“, werfe ich Achim noch zu, bevor wir Richtung Parkhaus marschieren.

Am Auto angekommen, redet Tim kaum ein Wort mit mir. Schon als ich ihm sagte, dass wir uns mit Achim im Bull and Bear treffen, war er sehr schweigsam.

Als er am Kino vorbei den Oederweg entlangfährt, räuspere ich mich und werfe einen unauffälligen Blick auf ihn.

„Entschuldige.“

„Für was?“

„Für was auch immer du sauer bist.“

Er schnauft nur und schüttelt wie so oft den Kopf. Wie ein Oberlehrer oder mein Vater.

„Was habe ich getan? Dich zu sehr rumgescheucht?“

„Darum geht es nicht. Du behandelst mich wie deinen Leibeigenen oder jemanden, der nur dein Anhängsel ist. Dabei …“

„Dabei was?“, frage ich. Meine Lider zucken.

„Dabei dachte ich, dass wir Freunde sind, Severin.“

„Sind wir“, sage ich schnell und fahre mir durch die Haare. „Wir sind Freunde und es tut mir leid. Ich war heute …“

„Ich dachte heute wirklich, du rufst mich an, um dich bei einem Bier für Samstag zu entschuldigen.“ Er seufzt. „Es ist wieder wie in der Türkei. Es hat dich zurückversetzt. Das verstehe ich. Aber rede mit mir und scheuch mich nicht herum.“

„In Ordnung.“

Er nickt zufrieden und stellt dann das Radio ein wenig lauter.

Als wir endlich bei mir ankommen, schnalle ich mich ab und drehe mich noch einmal zu Tim, der immer noch etwas angesäuert nach vorne starrt.

„Es tut mir leid, Hasibärchen. Schlaf gut. Küsschen“, sage ich in gestelzter Stimme und flüchte dann aus dem Auto, bevor er mich schlagen kann.

„Hauptkommissarin Lacker!“, begrüße ich Jules und knickse leicht, als ich in meine Wohnung trete, den Schlüssel auf meine kleine Kommode schmeiße und die Stiefel ausziehe.

Sie kocht vor Wut. „Du bist ein Kind!“

„Lady Polizei, Sie sind doch nur fünf Jahre älter“, entgegne ich gespielt schockiert. Sie brummt irgendetwas und deutet dann auf zwei weiße Tüten.

„Ich habe etwas zu essen mitgebracht.“

Mein Blick landet skeptisch auf den asiatisch riechenden Tüten auf meinem Couchtisch. „Warum?“, frage ich, statt mich einfach zu bedanken.

„Ich …“ Sie reibt sich nervös die Handgelenke. Eine seltene Geste bei Julia Lacker.

„Mache ich dich nervös?“ Ich hebe belustigt einen Mundwinkel.

„Lass das. Ich hatte Hunger und du hast sicher wieder gedacht, Bier ersetzt eine Mahlzeit.“

„Okay“, gebe ich knapp zurück und gehe zum Kühlschrank.

Das hier ist seltsam. Ich dachte, sie sei hier, um eine Nummer zu schieben, bevor sie die Nacht über wieder im Präsidium verbringt. So ist es immer. Und in meine Wohnung kommt sie nur, weil sie genau weiß, wo mein Ersatzschlüssel liegt. Was also wird das jetzt? Will sie mehr? Einen gemeinsamen Abend wie ein echtes Paar?

„Bier?“, frage ich, weil ich ehrlich gesagt keine Ahnung habe, was Jules trinkt, wenn sie einen Dienstagabend auf der Couch verbringt.

„Ich habe einen Sixer mitgebracht“, gibt sie zurück und deutet auf meinen Kühlschrank. Okay. Jetzt wird’s gruselig.

Ich nehme zwei Flaschen, öffne sie mithilfe meiner Arbeitsplatte und schlendere dann zurück zur Couch.

„Pass auf, Jules“, beginne ich eine ausholende und verwirrende Rede darüber, warum ich ein schlechter Kerl und sie eine viel zu gute Frau ist, aber sie unterbricht mich sofort, indem sie ihre Hand hebt.

„Spar es dir, Severin. Ich weiß, was du sagen willst, und es ist mir egal. Ich bin es leid.“

„Also verlässt du mich?“ Ich schlage mir theatralisch die Hand auf die Brust.

„Dass du Freunde hast, ist das größte Wunder dieser Welt“, faucht sie, schnappt sich das Bier und leert die halbe Flasche, bevor sie weiterspricht.

„Ich verlange nicht, dass du mich deinen Eltern vorstellst, mich heiratest oder auch nur händchenhaltend mit mir über die Zeil läufst. Ich will einfach nur etwas essen und trinken, bevor wir miteinander schlafen. Das ist eindeutig nicht zu viel verlangt.“

Ich schweige. Keine Ahnung, was ich dazu sagen soll, weil sie recht hat. Sie verlangt nicht viel und doch schnürt sich meine Kehle zu.

„Ich bin es einfach leid, abends schnell einen Döner vom Imbiss zu essen, zu dir zu fahren, ’ne schnelle Nummer zu schieben und dann ins Präsidium oder allein nach Hause zu fahren. So hab ich mir das nicht vorgestellt.“

„Ich war immer ehrlich, Jules“, finde ich endlich meine Stimme wieder.

„Ja. Und jetzt bin ich es auch.“

„Heißt das, dass du auch bei mir schlafen willst? Und frühstücken?“

„Das, was es bei dir zum Frühstück gibt, lebt wieder, Sev. Also nein. Ich will nicht mit dir frühstücken.“

„Aber bei mir schlafen?“

„Wenn das irgendwie im Bereich des Möglichen liegt und du nur einen kleinen Spalt deiner Severin-Zone für mich öffnen könntest, dann – ja. Ich würde gerne zusammen mit dir einschlafen und aufwachen und ab und zu etwas mit dir essen.“

Ich presse meine Lippen aufeinander und setze mich dann endlich neben sie. Vor allem, damit ich nicht mehr ständig ihren dunkel glänzenden Zopf anstarre, statt ihr in die Augen zu sehen.

„In Ordnung“, sage ich, greife nach dem Gummi in ihren Haaren und löse es. Ich hasse diese strenge Frisur. Wahrscheinlich habe ich nur deshalb Ja gesagt. Sie wirkt unheimlich, wenn sie ihre Haare so glatt und stramm nach hinten gebunden hat.

„Das klingt nicht begeistert.“

„Hast du denn wirklich erwartet, dass ich begeistert sein würde?“, schnaufe ich.

„Geht es hier um andere …?“

„Nein!“, unterbreche ich sie und lege meine Hand in ihren Nacken. „Nein, Jules, und das weißt du. Ich will keine anderen Frauen. Ich will …“

„Deinen Freiraum?“

Ich nicke bedeutungsvoll und beuge mich ein wenig zu ihr. „Aber ich werde ein Stück davon mit dir teilen. Und es wird mich bestimmt nicht umbringen.“

Ich hauche ihr einen sanften Kuss auf die Stirn und trinke dann selbst von meinem Bier. Sie wirkt nicht wirklich zufrieden. Aber zufrieden ist gerade wohl keiner von uns beiden.

„Wo warst du am Samstag noch?“, fragt sie unvermittelt, während sie die Tüten ausräumt. Na, das geht ja super los. Wir reden jetzt also über unseren Tag wie ein echtes Pärchen. Und nicht nur das. Mein Treffen mit Lydia liegt Tage zurück, aber offenbar nicht weit genug.

Sie reicht mir eine der Boxen und Stäbchen.

„Bei Lydia im Stadion“, gebe ich knapp zurück und betrachte das Essen in meiner Box. Woher weiß Jules, was ich gerne esse? Ist sie wirklich so aufmerksam und ich ein vollkommener Idiot? Ich habe das alles nicht kommen sehen. Dachte, Jules sieht das alles genauso wie ich.

„Was wollte sie denn?“ Ihre Stimme ist plötzlich viel höher.

„Ich unterliege der Schweigepflicht.“

 

„Severin!“, sagt sie genervt und isst ihre Nudeln wie ein verdammter Profi, während ich meine Fleischstücke mit dem Stäbchen aufspieße, um wenigstens etwas davon in meinen Mund zu bekommen.

„Dein Sarkasmus geht mir echt auf die Nerven.“

„Was war mit dem Jungen an der Uni?“, stelle ich eine Gegenfrage. Sie kneift missbilligend die Augen zusammen, während ich mir ein süffisantes Grinsen nicht verkneifen kann.

„Er ist tot. Was soll da also gewesen sein?“

„Stellt ihr die App endlich ab?“

„Du weißt, dass sowas nicht so einfach ist. Wir löschen sie heute und morgen gibt es dieselbe App unter einem anderen Namen. Aber wir haben die Presse über den Fall unterrichtet. Vielleicht schreckt das einige ab, die App überhaupt zu benutzen.“

„Sicher“, brumme ich, stehe dann auf und hole mir eine Gabel.

„Ich …“, beginnt Jules unsicher und wirft einen verstohlenen Blick auf ihre Handtasche, „habe einen Film mitgebracht.“

Ich verschlucke mich und greife zu meiner letzten Rettung. Dem Bier. In jeglicher Hinsicht.

„Klar und danach spielen wir ’ne Runde Uno.“

Sie verzieht den Mund, beugt sich dann aber zu mir. So nah, dass ich ihren Atem an meinem Nacken spüren kann. Er streicht mein Ohr und lässt meine Haut prickeln. „Ich wäre für Strip-Poker“, raunt sie so leise und rau, dass sich jedes verdammte Haar an meinem Körper aufstellt.

„Was für ein Film?“, gebe ich mich geschlagen und räuspere mich, um wieder klar zu denken.

„Wie ein einziger Tag.“

„Jules“, maule ich und weite meine Augen.

„Das war ein Witz“, sagt sie kopfschüttelnd und zieht eine DVD aus der Tasche. Noch so etwas. Woher weiß sie, dass ich keinen Blu-ray-Player besitze? Berufskrankheit?

„Star Wars?“, frage ich ungläubig. Was zum Teufel wird das hier?

„Ich dachte, wir fangen heute an und sehen, wie es uns gefällt.“

„Wie uns Star Wars gefällt?“, frage ich entrüstet und auch ein wenig schockiert.

Sie lacht und steht dann auf, um meinen Oma-Fernseher einzuschalten.

„Wie es uns gefällt, zusammen einen Film zu schauen und dabei zu essen.“

„Schön“, nuschle ich und sehe ihr dabei zu, wie sie mit dem DVD-Player kämpft. Irgendwann erhebe ich mich, stelle alles ein und befehle ihr, sich von allem Technischen fernzuhalten. Sie lacht und brummt etwas von Technik von vor hundert Jahren.

Bis zur Hälfte des Films bekomme ich kaum etwas mit, weil ich so verdammt angespannt bin. Und dann bringe ich es endlich fertig, sie zu mir in den Arm zu ziehen.

Als der Film vorbei ist und der Abspann läuft, mustere ich ihr schönes Gesicht. Ihre Augen sind geschlossen und ihr Mund ganz leicht geöffnet.

Nie zuvor habe ich sie so intensiv angesehen. Aber warum? Sie ist hübsch. Ihre sonst so skeptisch auf mich gerichteten blauen Augen bilden einen außergewöhnlichen Kontrast zu ihren dunklen Haaren. Ihre Lippen sind perfekt geschwungen, ihre Wangenknochen stehen ganz leicht vor. Ein anderer Mann hätte wahrscheinlich keine zwei Monate gebraucht, um zu begreifen, was für eine großartige Frau sie ist. Verdammt schön, aber vor allem clever, schlagfertig, selbstbewusst. Sie ist liebevoll und gleichzeitig eine echte Raubkatze. All das würde ich ihr gerne sagen. Und auch, dass ich nicht der Richtige bin und sie verletzen werde. Aber Jules hat ihren eigenen Kopf und wird sich sowieso niemals etwas von einem Mann sagen lassen.

Ich erhebe mich und überlege kurz, eine Decke über sie zu legen. Aber sie hat mich darum gebeten, mit ihr in einem Bett zu schlafen. Und das ist ihr sicher nicht leichtgefallen. Nicht ihr. Nicht einer so starken Frau wie ihr. Also nehme ich ihren schmächtigen Körper hoch, trage sie in mein Bett und decke sie sorgsam zu. Ich werde es probieren. Mir Mühe geben. Für sie und vielleicht auch für mich.

Der Geruch von Kaffee weckt mich. Irritiert öffne ich meine Augen und mustere die leere Bettseite neben mir. Hat sie wirklich das Bett gemacht? Auf einer Seite?

Frauen sind verwirrend. Ich strecke mich, erhebe mich und werfe kurz einen Blick in meine Küche. Jules steht da. Angelehnt an der Theke, eine Tasse Kaffee in ihrer Hand und in der anderen ihr Handy.

„Guten Morgen“, sage ich und zeige auf das Bad, wo ich mir eine Handvoll Wasser ins Gesicht spritze, mir durch die Haare fahre, Zähne putze und wieder zu ihr gehe.

„Morgen“, sagt sie und deutet auf den frisch aufgebrühten Kaffee in der Kanne.

„Wir haben einen Fall reinbekommen, ich muss gleich los.“

Ich werfe einen Blick auf die Uhr und nicke. „Ja, ich auch.“

„Hör zu, Severin. Es tut mir leid. Du hättest …“

„Dich wecken können?“, frage ich schmunzelnd und küsse sie auf die Wange, bevor ich leicht mit meinem Daumen ihre Unterlippe berühre. „Du warst das erste Mal an dem Abend still. Das hätte ich für keinen Sex der Welt aufgegeben.“

„Arsch!“, schimpft sie und boxt mir gegen die Brust.

„Es war nicht so schlimm wie gedacht, einfach nur neben dir zu schlafen“, raune ich und küsse sie erneut. Ihre Wangen erröten ein wenig.

„Wieso musst du so früh los? Fährst du in den Verlag?“

Ich sehe zu Boden und greife dann schnell nach einer Tasse.

„Nein.“ Es ist der 6. November.“

„Oh“, macht sie und verzieht entschuldigend den Mund.

„Ich werde Helena und die Jungs besuchen und Kevin, wenn er mich reinlässt.“

Sie nickt nur und legt mir eine Hand auf die Schulter. Der Schmerz in ihren Augen ist echt. Nicht, weil sie Mic kannte. Nein, weil sie es war, die seine Leiche im Stadion gefunden hat, nachdem er sich selbst hinuntergestürzt hat. Sie weiß, was er mir bedeutet hat. Eine der wenigen Sachen, die sie wirklich über mich weiß.

„Falls du nachher jemanden brauchst, ich bin nur eine WhatsApp entfernt“, flüstert sie, stellt ihre Tasse ab und küsst mich, bevor sie geht. Und als die Tür hinter ihr ins Schloss fällt, hinterlässt sie eine Leere, die vorher schon da war, ich aber nie wirklich wahrgenommen habe.

Ich warte nicht lange, bevor ich mir meine Jacke schnappe, meine Stiefel anziehe und ebenfalls losgehe. Blinzelnd stocke ich, als ich Nastis Wagen vor meiner Haustür entdecke. Sie sitzt hinterm Steuer und redet mit ihrer Freisprechanlage, die ich bis hier draußen hören kann. Als ich nähertrete und an die Scheibe klopfe, beendet sie das Gespräch und öffnet mir die Tür.

„Wie geht es dir?“

„Was machst du denn hier, Schwesterchen?“, entgegne ich verwundert.

„Na ja. Ich dachte, du brauchst Beistand. Oder jemanden der dich fährt. Wohin du willst.“

„Wo ist Leonard?“, frage ich, um nicht auf ihre Fürsorge einzugehen. Ehrlich gesagt habe ich nicht einmal damit gerechnet, dass sie weiß, welcher Tag heute ist. Vielleicht unterschätze ich Nasti manchmal. Das habe ich schon damals getan, als sie mir den Arsch gerettet hat.

„Bei Richard“, schnaubt sie. Ihre Stimme nimmt seit einem halben Jahr immer diesen bissigen Ton an, wenn sie seinen Namen sagt. Kein Wunder. Sie hat ihm nach seiner Affäre noch eine Chance gegeben, er ist ein halbes Jahr bei ihr geblieben und hat sich dann getrennt, weil er die andere liebt und sie schwanger von ihm ist. Nicht gerade die Vorzeigefamilie, die Nasti immer wollte und die beide gespielt haben.

„Woher weißt du, dass heute …“ Ich rede nicht weiter, weshalb Nasti mir ihre Hand auf mein Bein legt. Eine seltsam ungewohnte Geste von ihr.

„Was denkst du denn? Du bist mein Bruder und dieser Tag war schrecklich für dich. Das vergesse ich nicht einfach.“

Ich nicke und presse meine Lippen aufeinander.

„Würdest du mich zu Hel bringen?“, frage ich dann kleinlaut. „Du weißt schon. In Niederrad. Da, wo die Trauerfeier war.“

Als wir ankommen, bedanke ich mich und schicke sie zurück. So wie ich Nasti kenne, würde sie sonst den ganzen Tag in ihrem Auto warten und die Mandanten am Telefon abfertigen. Zumindest kenne ich sie so, seit Richard weg ist. Nein. Eigentlich sogar schon seit der Nacht, in der sie mir weinend von seiner Affäre erzählt hat. Etwas zwischen uns hat sich damals verändert. Wir werden wohl nie richtig liebende Geschwister sein. Aber wir unterstützen uns.

Als ich bei Hel klingele, dröhnt laute Musik durch die Gänge. Sie hat sich damals entschieden, in ihrer Wohnung wohnen zu bleiben und wahrscheinlich bekommt sie die Miete nur gestemmt, weil ich damals Nasti darum gebeten habe, Wohngeld für sie zu beantragen.

„Snobbi!“, begrüßt mich eine lallende Hel und breitet ihre Arme aus.

„Wir trinken schon?“

„Jap“, entgegnet sie und führt mich zu den anderen ins Wohnzimmer. Claudia, Gustav und Kevin sind da und kurz erstarre ich. Aber das Eis bricht, als es Kevin ist, der zuerst aufsteht und mich mit tränenden Augen in den Arm nimmt.

„Heute wird gefeiert. Auf unseren Mic.“

KAPITEL 5

MITTWOCH, 6. NOVEMBER 2019, 17.20 UHR

LYDIA

Hallo!“ Pause. „Ich bin’s. Vera.“

Einen Moment lang bin ich verwirrt. Vera? Kenne ich eine Vera? Scheiße, ich kenne so viele Leute und kann mir einfach keine Namen merken. Echter Schwachpunkt in meinem Job. Weil mir permanent Menschen begegnen, die sich kurz vorstellen und dann davon ausgehen, dass ich ihren Namen niemals wieder vergesse. Alle. Doch ihren hab ich nicht vergessen.

„Die Frau aus der Toilette! Du hattest mir deine Nummer gegeben. Für alle Fälle …“

„Ach Gott. Ja. Vera. Sorry. Hab deine Stimme am Telefon nicht erkannt. Schön, von dir zu hören. Wie geht es dir?“

„Besser!“ Ihre Antwort kommt auswendig gelernt. Obwohl man das Wort besser eigentlich nicht auswendig lernen muss. Aber es hört sich so an und ich frage mich, warum.

Ich lehne mich zurück. So wie man es tut, wenn man ein längeres Telefonat führen möchte.

„Wirklich?“, frage ich gedehnt und erwarte eigentlich, dass sie verneint und mir ihr Herz ausschüttet. Ich war schließlich die Erste am Samstag … habe ihr aus dem Klo geholfen. Ich muss innerlich lachen, weil ich plötzlich das Bild vor mir sehe, wie ich an der Klowand hänge und nicht so recht weiterweiß.

Aber ich lache natürlich nicht. Ich schweige und warte.

„Na ja, besser ist wohl ein bisschen übertrieben. Es geht so. Schlafe ziemlich schlecht, weißt du?!“ Wieder eine Pause. Ich kann jeden Atemzug von ihr durchs Telefon hören. Tief saugt sie die Luft in sich hinein. Bläst sie dann mit einem Rauschen wieder hinaus. So, als müsse sie sich sehr darauf konzentrieren, ihren Gefühlen nicht freien Lauf zu lassen.

Ich entscheide mich, vorzupreschen: „Vera. Du musst mir nichts vormachen. Auch wenn sich deine Geschichte für mich immer noch etwas konfus anhört … Wahrscheinlich allein schon deshalb, weil ich mich niemals auf so eine Wettidee einlassen würde. Aber es spielt überhaupt keine Rolle, was ich nicht tun würde. Du hast. Also sag mir, wie ich helfen kann.“ Ich beiße mir auf die Unterlippe. War das jetzt ein wenig zu deutlich? Müsste ich meine Zweifel nicht einfach beiseitelegen und ihr glauben?

„Ja, war echt blöd von mir“, nuschelt sie. Oder klingt das nur so, weil Menschen, wenn sie weinen, so klingen, als würden sie nuscheln?

Am anderen Ende der Leitung wird hörbar die Nase hochgezogen. Sie hat also nicht genuschelt.

„Die Bullen haben auch nur gelächelt, ein Protokoll geschrieben und mich in die Uniklinik geschickt. Das war’s.“

„Das war’s? – Okay, ich habe mich gewundert, dass am Sonntag kein Anruf kam und auch kein Streifenwagen oder irgendetwas in der Art, aber ich dachte doch, dass sie wenigstens eine Anzeige aufnehmen.“

„Gegen Unbekannt, oder was?“

„Na ja. Dem Kerl fehlen zwei Finger. Solche Typen laufen ja nicht reihenweise durch die Stadt.“

„Ich habe es dir doch gesagt. Wenn du nicht irgendwo zerfetzt herumliegst, ist das alles nicht so wichtig.“

Wieder diese merkwürdige Stille.

„Vera. Rede doch mit mir. Vielleicht kann ich dir helfen?“

„Weiß nicht. Wollte dich eigentlich fragen, ob du Lust hast, mit mir heute Abend zur Gerbermühle zu gehen. Ein paar Mädels kommen auch. Wird bestimmt lustig. Ich könnte ein wenig Ablenkung vertragen.“

„Eigentlich bin ich ganz schön platt und wollte auf die Couch“, antworte ich, ohne nachzudenken. Weil ich mir angewöhnt habe, außer mit den Eintracht-Leuten kaum noch wegzugehen. Bei mir ist schließlich alles geordnet. Ich habe die Eintracht, Jens und meine morgendliche Jogging-Tour durch den Park. Was will ich mehr?

„Ach komm. Sei nicht so langweilig. Die Mädels werden dir gefallen. Alles Eintracht-Fans. Und keine weiß, woher wir uns kennen.“

 

Ich bin mir nicht sicher, ob ich Lust auf einen Weiber-Fanclub-Abend habe. Meistens wollen die nur irgendwelche Dinge wissen, die ich ja doch nicht ausplaudern darf. Welche Unterhosen haben die Jungs an? Wie riecht es eigentlich in der Kabine nach dem Spiel? Wo kann man die Jungs denn mal privat treffen? Hat der Sebastian eigentlich ’ne Freundin?

Schon bei der Frage nach den Unterhosen würde ich mir am liebsten selbst eine runterhauen. Hallo, Lydia Heller. Du bist doch selbst eine Frau und würdest, wenn es um Fußball geht, solche Fragen niemals stellen. Warum also bildest du dir ein, andere Frauen würden das tun? Hat dich diese Männerwelt schon so sehr vereinnahmt?

„Also?“, reißt mich Vera ungeduldig aus meinen Gedanken.

„Also … gut. Bin dabei. Ich schaffe es aber erst gegen acht. Muss noch ein paar Dinge für die PK morgen vorbereiten“, höre ich mich sagen und denke: Strafe muss sein. Das hast du jetzt verdient.

Zweieinhalb Stunden und ein völlig überflüssiges Drei-Minuten-Telefonat mit Jens später stelle ich mein Auto auf dem Parkplatz vor der Gerbermühle ab und husche den Weg hinunter zum Eingang. Durchquere das Entree und blicke mich im Wintergarten suchend um. Vera hat mich kommen sehen und fuchtelt wie wild mit den Armen. Neben ihr sechs andere Frauen. Alle etwa so in meinem Alter. Kann ja doch ganz lustig werden, denke ich mit einem Blick auf die Klamotten der Ladies. Kein Schwarz-Weiß, kein Schwarz-Rot, nicht mal ein Eintracht-Schal. Guter Anfang für einen Abend fernab von den Stapeln auf meinem Schreibtisch.

Oder doch nicht.

„Also, das ist Lydia Heller, die stellvertretende Pressesprecherin der Eintracht. Aber das wisst ihr ja“, ruft Vera stolz in die Runde. Stolz darauf, mich so gut zu kennen, dass ich ihrer Einladung zu einem Frauenabend mit lauter Unbekannten gefolgt bin. Zwölf Augenpaare mustern mich. Offen, freundlich und ich fürchte, das wird doch keine private Weibersause.

„Petra, Susanne, Isabell, Grey – das ist ihr Spitzname, weil sie Chirurgin in der Uniklinik ist oder jedenfalls war –, Jenny und Silvia.“ Veras Zeigefinger macht blitzartig die Runde und die Frauen lächeln brav. „Nur Sarah und Gesa haben heute keine Zeit. Sarah arbeitet für ein IT-Unternehmen und muss sich den Würfel anschauen. Der wird im Sommer neu gemacht und sie soll die Technik klären. Frag mich, wie sie das mit ihrem Rollstuhl macht“, lacht sie.

„Rollstuhl?“, hake ich nach.

„Ja, ihr fehlt ein Fuß, aber sie ist, glaube ich, ein echtes Brain, und hat alles, was sie braucht, in ihrem Laptop“, erklärt Vera und schiebt schnell hinterher, warum die zweite Frau fehlt. So, als müsste sie entschuldigen, dass die Mädels bei meinem Besuch nicht vollzählig angetreten sind. „Gesa trifft sich neuerdings mit irgendeinem Kerl und ist seitdem immer wieder wie vom Erdboden verschluckt.“

„Schön, euch kennenzulernen“, sage ich mit einem Kopfnicken und füge schnell an: „Ich darf doch Du sagen?“

„Ja klar!“

Das erste Eis ist gebrochen. Auch, wenn mich Veras Ausführungen über ihre Freundinnen etwas überfordern. Sie redet wohl gerne.

Eine gute Stunde später weiß ich, dass die Mädels sich alle vom Fußball her kennen. Früher sind sie als hübsches Anhängsel ihrer Kerle mitgegangen. Heute haben sie so etwas wie einen eigenen Fanclub. „Aber nicht offiziell, sondern nur so“, hat mir Susanne erklärt. „Wir wollten nicht diskutieren oder Frauenrechte in der Kurve erkämpfen. Nur Spaß haben. Genauso wie die Männer. Und wir waren es leid, die blöden Fragen nach der Abseitsregel zu beantworten!“, erklärt sie mir und verdreht dabei die Augen.

„Ja, ja. König Fußball und der Männlichkeitswahn. Schluss damit!“ Grey erhebt ihr Glas, schreit für mich ein bisschen zu laut für die Gerbermühle „Stößchen!“ und ich blicke in sieben strahlende Gesichter mit leicht erröteten Bäckchen und zum Teil übermütig glitzernden Augen.

„Seit wann seid ihr eigentlich hier?“, raune ich Vera mit einem Augenzwinkern zu.

„Treffpunkt ist immer um sechs. Die meisten von uns müssen schließlich früh raus. Spätestens um elf ist Schicht im Schacht.“

Ein schneller Blick auf meine Uhr sagt mir: Okay. Das sind fast drei Stunden, also etwa vier Aperol Spritz pro Kopf. Wenn’s reicht. Alles klar! Auf Diskussionen sollte ich mich besser nicht einlassen.

Aber Grey ist noch lange nicht durch mit dem Thema. Und: Die große schlanke Frau mit den raspelkurz geschnittenen Haaren kann offenbar nicht nur mit dem Skalpell in der Hand umgehen. Ihre Argumente sind messerscharf.

„Dass sich die Kerle über Frauen lustig gemacht haben, als die anfingen, auch Fußball zu spielen, ist das eine. Hat damals schließlich echt bekloppt ausgesehen, wenn die Mädels gegen den Ball getreten haben und es für den EM-Titel ein Kaffeeservice gab. Aber als Fan sind wir genauso gut wie jeder Mann. Und brauchen nicht mal unsere Fäuste, oder?“, fragt sie nach Zustimmung heischend in die Runde.

„Jepp“, lacht Jenny auf. „So ist das!“ Und schon wieder klirren die Gläser.

Ich wirke in diesem Moment wohl eher desinteressiert. Schiebe nur mein Wasserglas gelangweilt von links nach rechts.

„Muss noch fahren“, habe ich nach dem Pflicht-Aperitif erklärt.

Das bringt Grey auf Touren. Endlich ist mal eine Frau am Tisch, die ihr Evangelium noch nicht eingesogen hat wie Muttermilch mit Aperolgeschmack.

„Gut ein Drittel der Fans im Stadion sind Frauen. Wusstest du das?“, giftet sie mich an. Und ohne auf eine Antwort zu warten, schiebt sie ihre persönliche Kriegserklärung gleich hinterher: „Solltest du in deinem Job aber!“

Plötzlich ist es still. Nur Jenny hat offenbar den Ernst der Lage nicht erkannt. Sie plappert etwas von „Frauen müssen zusammenhalten“ und erntet dafür einen saftigen Rippenstoß von Isabell. Inklusive bösem Blick.

„Doch, das weiß ich natürlich“, versuche ich in ruhigeres Fahrwasser zu gelangen. Aber Grey will nicht lockerlassen. Will mir ihr gesammeltes Wissen um die Ohren hauen.

„Als Zuschauer sind wir willkommen. Nur ernst nehmen will man uns nicht. Kannst du dir vorstellen, dass die BBC vor der Weltmeisterschaft 1966 Ex-Nationalspieler Jimmy Hill angeheuert hat, um die Regeln – insbesondere natürlich das Abseits – zu erklären und so mehr Frauen für den Fußball zu interessieren?“

Ich nicke. Auch wenn ich in diesem Moment nicht weiß, wer Jimmy Hill überhaupt ist und was er mit der BBC zu tun hat. Peinliche Wissenslücke, denke ich und lächle noch ein bisschen breiter. „Nur nichts anmerken lassen“, sagt Papa in solchen Momenten. „Man muss nicht alles wissen, aber vor allem muss man es nicht zugeben. Gibt schließlich schlaue Bücher und ihr habt ja heute das Internet.“

Gerne würde ich jetzt eine kleine Pause einlegen, um diesen Jimmy Hill zu googeln. Der einzige Hill, der mir einfallen will, ist dieser Rennfahrer, der sich mit Schumi in den 90ern böse Scharmützel geliefert hat. Doch daraus wird nichts. Grey wandert mit großen Schritten durch die Geschichte des Fußballs.

„Stell dir vor: In den siebziger Jahren wollte HSV-Präsident Peter Krohn uns Frauen durch eine extravagante Farbgebung für den Fußball begeistern.“

„Stimmt. Frauen sollten durch Trikots in den Farben rosa und himmelblau angesprochen werden. Hat aber nicht funktioniert“, werfe ich ein und bringe Grey aus dem Konzept. Allerdings nur für einen Moment. Der nächste Zeitsprung folgt gekonnt.

„2006 hat der 1. FC Saarbrücken sein Spiel gegen die Sportfreunde Siegen zum Frauentag erklärt. Die hatten freien Eintritt und mussten die Begrüßung des Stadionsprechers über sich ergehen lassen. Liebe Frauen. Das Grüne da unten ist der Rasen. Das Weiße sind die Tore. Das Rote, das ist der Gegner aus Siegen, hat der wirklich gesagt.“ Die Frauenrunde kreischt fast vor Vergnügen.

Ich blicke sie einen Moment lang ungläubig an. „Nicht dein Ernst? Hat der nicht. Nicht 2006!?“

„Doch. 2006. Hat er. Flachwichser!“

Flach … was? Ich bin überrascht, welche Worte aus dem Mund dieser aparten Chirurgin kommen, und versuche es damit zu rechtfertigen, dass sie als Medizinerin wahrscheinlich mit allen menschlichen Abgründen auf Du und Du ist. Wenn da nur noch ein Häufchen Fleisch und Blut auf ihrem Tisch liegt, spielt die Wortwahl sicher eine untergeordnete Rolle.

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