Kamikaze Mozart

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Er kann ihr nur versprechen, oft zu schreiben und sich nie mehr mit Nazistudenten zu prügeln. In Zürich glaubte er, ein paar jungen Hitzköpfen erklären zu müssen, dass ihr Hitler ein Taugenichts sei, der nicht einmal die Universität besucht habe. Daraufhin kam es zu einer Schlägerei, von der Wolfgang Spuren zurückbehalten hat, die seiner Mutter gar nicht gefallen.

Am Bahnsteig lässt Frau Steinamhirsch den Tränen, die sie bei der Beerdigung zurückgehalten hat, freien Lauf, während ihr Sohn ihr hinter der beschlagenen Fensterscheibe liebevoll, aber verlegen winkt. Ihm wäre es lieber, diese Frau mit dem schwarzen Hutschleier würde weniger Gefühl und mehr wohlgesittete Zurückhaltung zeigen. Im letzten Moment schiebt er das Fenster herunter und wirft Mama mit den Fingerspitzen einen Kuss zu.

7

Stockholm

An Heiligabend des Jahres 1938 lernt Wolfgang in Stockholm im Haus eines ehemaligen Assistenten von Professor Scherrer Lise Meitner kennen. Ein Fest zu Ehren mehrerer im schwedischen Exil lebender Wissenschaftler. Die kleine weißhaarige Frau lächelt ihm zu, während sie ihr Glas auf das Wohl der Wissenschaft hebt. Sie kommt gerade aus Deutschland. Dort ist sie eine renommierte, bewunderte Forscherin. Wovon ihr das verschmitzte Lächeln geblieben ist. Er hätte sie gern zur Freundin.

Am späten Nachmittag begleitet er sie zurück in ihr Hotel. Da es schon dunkel ist, hakt sie sich bei ihm unter, um auf dem vereisten Bürgersteig nicht auszurutschen, und erkundigt sich unterwegs nach Professor Scherrers Arbeiten zum Beschuss von Atomen mit Neutronen. Dann schlägt sie vor, die Fortsetzung des Gesprächs auf den nächsten Tag zu verschieben.

Sie verabreden sich für den späten Vormittag zu einer Skiwanderung. Als Wolfgang sich mit Kusshand verabschiedet, fallen ihm Lises eiskalte Finger auf und mehrere braune Flecken auf ihrem Handrücken. Ein Laborunfall oder Alterszeichen?

Am nächsten Tag kommt sie ohne Skier und im dunklen Mantel, mit Kragen und Ohrschützern aus Hasenfell. Er in Golfhosen, eine wollene Pudelmütze auf dem Kopf. Sie verbirgt ihre Augen hinter einer großen schwarzen Brille. Eine kleine, agile Frau von fünfzig Kilo. Sie ist sechzig, Wolfgang einundzwanzig. Ein gemeinsamer Ausflug durch die weiße Landschaft eines Wintermorgens. Er gleitet auf seinen Skiern, sie geht zu Fuß neben ihm her, bewegt sich mit kleinen Schritten über den gefrorenen Schnee, der den riesigen Stadtpark überzieht. Djurgarden bedeutet Hirschgarten.

Er läuft wie ein Karibu, ein Elch, wie ein Hirsch, Steinamhirsch, den Kopf in die Höhe gereckt, die beiden Stöcke so gleichmäßig schwingend wie möglich. Er fürchtet, sich lächerlich zu machen. Lise kaum außer Atem, er schweißgebadet. Professor Scherrer möchte, dass sie an der ETH lehrt, Wolfgang soll sie dazu überreden. Statt zu antworten, stellt sie Fragen.

Eine kleine Atemwolke weht aus ihrem Mund und verwandelt sich sogleich in glitzernde Eiskristalle. Die Schatten ziehen sich etwa zehn Meter in die Länge. So sieht der mittägliche Sonneneinfall auf dem Schnee am Weihnachtstag aus.

Andere aus der Stadt kommende Paare gehen an ihnen vorbei. Verliebte Gespräche oder Familiendiskussionen. Man wirft ihnen belustigte Blicke zu. Eine verkehrte Welt. Das Gegenteil wäre besser zu verstehen: sie auf Skiern, er nebenher laufend.

Kurz vor dem Park sind sie an einem Kino vorbeigekommen, an dem ein Plakat verkündete: «Von einer Narbe entstellte Frau sinnt auf Rache.» Die Hauptdarstellerin heißt Ingrid Bergman. Wolfgang kennt sie nicht. Lise hat den Film gesehen: Die Frau mit der Narbe. War von der Geschichte ergriffen. Sie selbst hat Angst um ihre Augen, die sie mit einer riesigen schwarzen Brille schützt. Besonders beeindruckt sie die Jugendlichkeit der dreiundzwanzigjährigen Schauspielerin, die kurz vor dem Sprung nach Hollywood steht. Lise sagt:

«In Kalifornien treffen Sie sie vielleicht.»

Er bemüht sich, das Gleichgewicht zu halten, will auf seinen Skiern locker wirken, während Lise unbekümmert Fragen stellt, sich die Antworten anhört, kein bisschen angestrengt wirkt, sich auf ihre Gedankengänge konzentriert. Sie bittet ihn, eine Hypothese zu formulieren. Wohin entweicht seiner Meinung nach die Energie eines aufgebrochenen Atoms? Das sei eine fast philosophische Frage, antwortet er. «Nein, eine von Beweisen und bestimmten Berechnungen», sagt sie. Und da sie immer schneller geht, hat er Mühe, ihr zu folgen. Es ist fast, als befänden sie sich in einem Unterrichtsraum, als wären da weder das Weiß der Natur noch die weihnachtlichen Spaziergänger. Nur sie, er und die Wissenschaft.

Sie will eine Formel notieren und schlägt vor, an einem gefällten Baumstamm anzuhalten, von dem andere bereits den Schnee gewischt haben. Aus einer ihrer Manteltaschen zieht sie einen kleinen spitzen Bleistift und ein Blatt kariertes Papier hervor. Ohne die Sonnenbrille abzunehmen, schreibt sie die Gleichung mit den von ihr vermuteten Werten auf, während er, ganz außer Atem, bewundernd den Kopf schüttelt.

Bis zum Frühjahr war Lise Meitner Professorin in Berlin. Nach Hitlers Einmarsch in Österreich hatte sie gerade noch Zeit, nachts mit zehn Mark in der Tasche und der Hilfe einiger mutiger Kollegen, darunter Professor Scherrer, zu fliehen.

Sie und er im Schnee, über das karierte Blatt Papier gebeugt, beschäftigt mit einer sehr ernsten, für den wissenschaftlichen Fortschritt bedeutsamen Sache. Sie liest die Ziffern und Buchstaben noch einmal laut vor, dann zieht sie ihre Handschuhe wieder an. Bei dieser Kälte kann man unmöglich längere Zeit einen Stift halten. Sie erwähnt das Einsteins Theorie innewohnende Paradox, schlägt vor, weiterzugehen, um nicht auf der Stelle zu erfrieren. Und über die Frage nachzudenken: Wohin entweicht die Energie des aufgebrochenen Atoms?

Beim kleinsten Anstieg läuft er mit V-förmig gespreizten Skiern, wie ein Pinguin. Lise gewinnt an Vorsprung, wartet oben auf dem Hügel nicht auf ihn. Abwärts ist er schneller und holt sie wieder ein.

Eine vom Meer herüberwehende Brise lässt die Wipfel der Birken schaukeln. Bei minus fünfzehn Grad und ohne das kleinste Wölkchen am Himmel liegt der Djurgården wie eine weite weiße Ebene da. Das flach einfallende Licht lässt kleine Erhebungen hervortreten. Die Spuren der Wege haben sich verwischt. Kreuz und quer laufen die Spaziergänger über den harschen Schnee. In der Ferne deutet eine Baumreihe an, wo das Meer beginnt, wenn das Eis schmilzt.

Er wiederholt Professor Scherrers Angebot. In Zürich warte der Beschuss der Atome immer noch auf eine Erklärung. Statt zu antworten, beginnt sie, ihm den offiziellen Teil ihres Lebens zu erzählen, als müsse sie vor einer Zusage ihren Lebenslauf präsentieren. Sie spricht, ohne außer Atem zu geraten, in kurzen, klaren Sätzen, ohne Versprecher.

Geboren ist sie 1878 in Wien. Als das neue Jahrhundert begann, war sie so alt wie Wolfgang jetzt. Der Vater Rechtsanwalt, acht Kinder, alle musizierten. Sie hat Klavier gespielt und Mathematik gelernt. Wie all ihre Geschwister ließ sie sich schließlich taufen. Katholisch, jüdisch, protestantisch, was macht das schon? Anfang des 20. Jahrhunderts sahen viele Wiener Juden ihre Taufe nicht als Lossagung von ihrem Glauben, sondern als Schritt in die Moderne. Sie ist nicht gläubig, außer was die Wissenschaft betrifft. Aus Liebe zur Mathematik ging sie zur Universität. Junge Mädchen wurden nur mit Sondererlaubnis zum Studium zugelassen. Professor Boltzmann, einer der ersten Atomphysiker, ließ sich überzeugen. Er hatte einen sehr eigenwilligen Unterrichtsstil. Im Hörsaal sprach er mit ungewöhnlicher Überzeugungskraft über Physik, sagte, die Geheimnisse der Wechselwirkungen der Teilchen könne man nur mit größter Leidenschaft durchdringen, einer Leidenschaft, die jene zwischen zwei Menschen weit in den Schatten stelle. Seine Selbstmordversuche unternahm Boltzmann nicht aus Liebeskummer, sondern weil die Theorie sich ihm verweigerte. Die Positivisten machten sich über ihn lustig: «Haben Sie denn jemals ein Atom gesehen?» Die Entdeckung der Radioaktivität kam zu spät, um Boltzmann recht zu geben. 1906 setzte er seinem Leben ein Ende, kurz nachdem er Lise Meitner die Doktorwürde verliehen hatte.

Wolfgangs Augen folgen ihr voller Bewunderung. Sie stellt ihm Fragen zu seinen musikalischen Vorlieben, beglückwünscht ihn dazu, dass er immer noch Geige spielt. Die Schatten über dem Djurgården werden länger, als hätte die Sonne mit den nordischen Regionen abgeschlossen. Lises und Wolfgangs Gesichter, zwei Silhouetten, treffen sich nur am Horizont. Hinter den beiden ist der Himmel von einem nicht ganz so kräftigen Rosa wie jenem, das Wolfgangs Geburtsstadt an Winterabenden verschönert. Das behält er für sich, La Chaux-de-Fonds wird Lise wohl nicht kennen.

Ihrer beider Atem gefriert auf jedem noch so kleinen Härchen. Sogar Lises Augenbrauen über der schwarzen Brille, die einen Teil ihrer Backenknochen verbirgt, haben sich weiß verfärbt. Wolfgang zögert, seine Skier auszuziehen. Wäre es weniger lächerlich, sie auf der Schulter zu tragen und neben Lise herzulaufen? Sie will wissen, wie sehr er die Nazis ablehnt.

Er hasst Hitler, das haben die Zürcher Nazisympathisanten ganz richtig erkannt. Mit zwei abgebrochenen Zähnen ist er davongekommen, hat den Schaden noch nicht reparieren lassen. «In Ihrem Alter schließt sich eine solche Lücke noch, auch der Bart wächst nach», sagt Lise.

Seit seiner Ankunft in Stockholm vergangene Woche dreht er sich manchmal nach den großen Schwedinnen um, die entschlossenen Schrittes an ihm vorbeigehen. Sie sind in seinem Alter und vergnügt, mit ihren fast weißen Zöpfen und ihren Wollhandschuhen für Schneeballschlachten. Heidis im Riesenformat gewissermaßen. Genau das Gegenteil von Lise, dieser energischen und zugleich süßen Frau, die ihn durch die glitzernde Kälte hindurch anlächelt.

 

Auf einer etwas längeren Steigung kann er nicht mehr Schritt halten. Sie macht sich lustig über ihn. Schmunzelnd, ätherisch, auf halber Höhe auf ihn wartend. Ihr helles Lachen klingt noch leichter, als seine Skier sich verheddern. Der Pinguin fällt in den Schnee. Als Entschuldigung müssen die alten Bindungen mit ihren völlig morschen Lederriemen herhalten. Während Wolfgang seine Skier losmacht, lacht sie noch immer wie eine freche kleine Schwester und sagt, dafür gebe es keine Entschuldigung. Mit einundzwanzig habe man das Leben noch vor sich.

Sie reicht ihm die Hand und hilft ihm auf. Da überkommt ihn eine jähe Lust, die Professorin zu küssen, einfach so, damit sie ihm verzeiht. Natürlich traut er sich nicht. Sie hilft ihm, den Schnee von den Schultern zu klopfen, streicht sich eine Haarsträhne aus der Stirn, rät ihm, beim nächsten Mal ohne Skier zu kommen. «Machen Sie nicht zwei Dinge gleichzeitig, Wolfgang, schauen Sie auf das Gelände, nicht auf mich.»

Lise geht weiter, er hinterher. Während sie von den Anfängen des Nationalsozialismus am Berliner Institut erzählt, zieht ein riesiger Eisbrecher am Horizont entlang. Unheimliches Krachen des aufgeschlitzten Meeres. Lise bleibt stehen, um sich das Schauspiel anzusehen. Er nutzt die Gelegenheit, um wieder zu Atem zu kommen. Eine wahre Opernkulisse. Die bläuliche Masse eines überdimensionalen Schiffs, gefolgt von mehreren in seinem Kielwasser fahrenden Fischerbooten. Er fragt Lise, warum sie so lange in Deutschland geblieben sei.

Weil die Politik sie weniger interessiert habe, sagt sie, als die Radioaktivität. Unverhoffte Perspektiven hätten sich ihr eröffnet. Nach und nach seien ihre früheren Annahmen über die Existenz von Elementarteilchen gebröckelt. Ihrem Kollegen Otto Hahn schlägt sie vor, Uran mit Neutronen zu bombardieren, eine Eingebung, deren Resultat beide überrascht. Sie staunen über das, was sie ausgelöst haben, verirren sich in den Mäandern der Chemie, sogar der Alchemie. Der Anschluss Österreichs macht Lises Ausreise unumgänglich. Sie flieht erst nach Dänemark, dann nach Schweden. Dieses Land hat soeben fünfhundert jüdische Kinder aufgenommen, da wird es auch einer alten Dame Zuflucht gewähren. Aus der Ferne entwickelt sie weitere Hypothesen zu den durchgeführten Experimenten. Otto schreibt ihr lange Briefe, in denen er von den Aktivitäten im Labor berichtet, schildert die Ratlosigkeit der Forscher angesichts der neuen Ergebnisse. Der Beschuss von Uran setzt nicht nur Radioaktivität frei, sondern auch unvermutete Gase. Lise fragt sich, wo der Fehler liegen mag.

Täglich sucht sie nach einem Begriff, mit dem sich das Phänomen besser beschreiben ließe. In der Biologie bezeichne man so etwas als Spaltung, sagt sie und macht Wolfgang auf den Klang des Wortes aufmerksam. Mitten im Djurgården bleibt sie stehen und wiederholt:

«Spaltung.»

Wolfgang ermisst die Kraft ihrer Intuition: Der Beschuss des Kerns führt dazu, dass er zerbricht. So werden große Entdeckungen gemacht. Das spürt er, während Lise spricht. Im Bann dieser kleinen Frau, die ihm den Weg weist, folgt er ihr, wiederholt das Wort Spaltung. Als genügte es, das Phänomen zu benennen, um es zu beherrschen. Noch heute Abend werde sie an Otto Hahn schreiben, sagt sie, beschleunigt ihren Schritt, will den Djurgården verlassen.

Sie kehren zurück ins Hotel, lassen sich in der großen Eingangshalle, wo im Kamin ein Feuer brennt, in die Sessel sinken. Er macht ihr zaghaft den Hof. Lise lächelt, aber über die Eleganz der Wissenschaft. Er wagt es nicht, ihr zu sagen, was er empfindet. Mit den Frauen ist er nicht so geschickt wie mit den Atomen. Er findet Lise aufregender als all die großen Schwedinnen, die mit ihren wippenden hellblonden Zöpfen im Schnee spielen. Der kleine Schuss hochprozentigen Alkohols im Tee steigt ihm zu Kopf. Sie schaut ihn zärtlich an, nimmt ihre schwarze Brille ab, fragt ihn, wie er sich entscheiden würde zwischen Wissenschaft und Musik.

«Eindeutig für die Wissenschaft.»

Sie glaubt ihm nicht, sagt, er sei ein schlechter Lügner, nimmt ihn nicht besonders ernst. Einmal wirft sie den Kopf zurück.

«Sie sind entzückend, Wolfgang.»

Von diesem Augenblick an redet er sich ein, sie könnte seine zweite Freundin werden. Trotz des Alkohols aber hat er nicht den Mut, einer Frau, die älter ist als seine Mutter, eine Liebeserklärung zu machen. Behutsam ergreift er die Hand, die sie ihm reicht, verbeugt sich nach preußischer Manier. Lises Finger sind warm geworden und die Flecken verschwunden. Es steckte also kein Laborunfall dahinter. Auch nicht das Alter.

Sie verabschiedet sich mit wohlwollendem Lächeln. Trotz des Angebots aus Zürich wird sie Schweden nicht verlassen.

«Und Sie, Wolfgang, was für Pläne haben Sie?»

Da er nächste Woche nach Berkeley fahren wird, zu Oppenheimer, wünscht sie ihm viel Glück bei diesem brillanten Marxisten.

8

Berkeley

Februar 1939. Wolfgang überquert den Atlantik und den nordamerikanischen Kontinent. Professor Scherrer hat ihn vorbereitet: «Robert Oppenheimer ist ein toller Bursche, Sie werden sehen.» Und um ihn im Spektrum menschlicher Typen einzuordnen, hat er gesagt: «185 Zentimeter und 51 Kilo, 34 Jahre, Professor für theoretische Physik in Berkeley und am Caltech.»

Am Tag seiner Ankunft stellt Wolfgang sich bei Oppenheimers Sekretärin vor. Berkeleys Wiesen blühen in der Sonne, die Luft ist mild, die Mammutbäume sind riesig. Er spürt, dass er Kalifornien mögen wird. Die junge Frau, die sein Einführungsschreiben entgegennimmt, verschwindet im Nebenraum. Der Professor empfängt seinen Gast auf europäische Art mit einem kräftigen Händedruck und einer angedeuteten Umarmung. Als er Wolfgangs leichten Akzent hört, stellt er seine Fragen in perfektem Französisch. Er nimmt einen Stapel Papiere von einem Stuhl, bittet ihn, sich zu setzen, bleibt selbst aber stehen, unruhig. Er ist so mager, dass man das Gefühl hat, ihn im Profil zu sehen. Mit seinen unterschiedlich hohen Schultern wirkt er etwas schief gebaut. Sein Haar ist leicht gelockt, eher gewellt. Am stärksten aber fällt das intensive Blau seiner Augen auf und die in seinem Lächeln lauernde Ironie.

Sie unterhalten sich über Lise Meitner. Oppenheimer kennt Hahns Artikel über den Beschuss von Uran mit Neutronen.Wolfgang berichtet ihm von ihrem Gespräch in Stockholm. Es sei Lise Meitner gewesen, die den Begriff Spaltung erfunden und am Weihnachtsabend an Hahn geschrieben habe.

Oppenheimer zufolge hat ihr Briefpartner die Entdeckung umgehend veröffentlicht, und zwar unter seinem Namen. Meitner habe er nicht als Mitautorin des Artikels angeben können, da sie als Jüdin im Exil lebe. Seit einigen Tagen sei der Text sogar in Japan bekannt. In den Vereinigten Staaten habe er eine geradezu kopernikanische Revolution ausgelöst. Einstein soll dem Präsidenten der Vereinigten Staaten geschrieben und von einer neuen Möglichkeit berichtet haben, eine Bombe von unerhörter Sprengkraft zu bauen. Kernspaltung.

Zunächst habe er Zweifel an dieser Hypothese gehabt, sagt Oppenheimer, ja, Zweifel, wie Descartes, fruchtbare Zweifel. Doch nachdem er das Experiment in seinem Labor wiederholt habe, sei er zu einem glühenden Anhänger der Kernspaltung geworden. Voller Enthusiasmus wandert er in seinem Büro auf und ab. Auf jedem Tisch, jedem Stuhl stapeln sich Unterlagen, aufgeschlagene Bücher, offene Ordner. Auch an den über und über mit Blättern behängten Wänden ist kein Fleckchen mehr frei. In einem Regal entdeckt Wolfgang französische Romane, Aragon, Claudel, Martin du Gard. Auf Deutsch die dicken Bände von Marx’ Kapital. Auf Englisch John Steinbeck. An einer verschmierten Wandtafel stehen die abschließenden Berechnungen des Meisters über die Wirkung der Kernspaltung. Der Faktor zehn hoch sechs steht für das Verhältnis von Dynamit und Uran. Die Gleichung ist mit gelber Kreide doppelt unterstrichen. Ein Wert, der noch genauer zu berechnen wäre, nicht wahr? Für den Anfang wäre das eine interessante Sache, die er Wolfgang anvertrauen könnte.

«Was sagen Sie dazu, Steinamhirsch?»

Oppenheimer fügt der Aufgabe einige Arbeitsanweisungen hinzu. Er will nicht Herr Professor, sondern Oppie genannt werden. Jeden Freitag erwartet er ihn zum Mittagessen in seiner auf einem Hügel gelegenen Villa, zum Treffen der Professoren, Assistenten und Gastwissenschaftler. Man soll ihn ruhig so oft stören wie nötig, ohne Furcht vor seiner Sekretärin.

Wolfgang ist angetan von diesem neuen Arbeitsstil, der sich völlig von den preußischen Sitten an der Zürcher Hochschule unterscheidet. Auf väterliche und zugleich zwanglose Art nimmt Oppie ihn beim Arm, um ihn mit seinen anderen Assistenten bekannt zu machen. Jedem einzelnen stellt er ihn als den Mann vor, der kürzlich Lise Meitner begegnet ist. Und fügt hinzu: «Die Frau, der wir die Kernspaltung verdanken.»

Ein sympathisches Team. Alle bewundern Oppie und scheuen sich nicht, ihm zu widersprechen, wenn er sich bei Einzelheiten ihrer Biografie irrt. Unter einem Mammutbaum draußen im Park, neben dem Gebäude für theoretische Physik, schildert Oppie seinem neuen Assistenten nun auch seinen eigenen Lebenslauf.

Er stammt aus einer jüdischen Familie. Am Ende des 19. Jahrhunderts kam sein Vater aus Deutschland in die Vereinigten Staaten und machte mit dem Verkauf von Futtermaterial für Bekleidungen ein Vermögen. Oppie studiert in Harvard und Cambridge, schreibt anschließend in Göttingen seine Dissertation über die Quantentheorie kontinuierlicher Spektren. Er liebt Frankreich, hat Freunde in England, schwärmt von Korsika, spricht Holländisch, hat die spanischen Republikaner gegen die Faschisten unterstützt, reitet und erleidet von Zeit zu Zeit einen Nervenzusammenbruch. Will er Wolfgang schmeicheln, als er über die Schweiz sagt: «Nie in meinem ganzen Leben habe ich produktiver gearbeitet als in den wenigen Monaten in Zürich mit Pauli und Scherrer. Ich träume davon, Berkeley zu einem ähnlichen Ort wie eure ETH zu machen.»

Als Wolfgang abends das Buch liest, das Oppie ihm geliehen hat, L’Espoir von Malraux, notiert er sich daraus einen von einem früheren Leser unterstrichenen Satz: «Er sah aus wie ein junger Einstein und gleichzeitig wie ein zu groß gewachsener Chorknabe.»

Eine Woche nach seiner Ankunft in Berkeley schickt er seiner Mutter einen langen Brief, in dem er ihr seinen neuen Chef mit so überschwänglichen Worten beschreibt, dass sie sich in ihrer Antwort besorgt erkundigt, ob er neben dem so verherrlichten Gelehrten da drüben in Kalifornien vielleicht auch eine wie auch immer geartete Erfüllung seines Liebeslebens gefunden habe.

1939, 1940, 1941. Wolfgang ist hingerissen von der Bucht von San Francisco. Endlich Platz, große Weiten, die Unendlichkeit des Meeres statt der Schweizer Berge, die ihm den Blick auf den Horizont verstellten. Hier findet er, was er schätzt: ein geregeltes Leben, intelligente Kollegen, eine wissenschaftliche Herausforderung fern allen Säbelrasselns. Europa versinkt im Krieg, Wolfgang beginnt seine Tage mit zwei Stunden Geigenspiel.

Freitags freut er sich auf das Mittagessen bei Oppie. Dessen Haus in den Hügeln liegt an einem Hang mit Blick auf die Bucht. An den getäfelten Wänden Navajoteppiche, mexikanische Silberschmiedearbeiten. Eine herzliche Atmosphäre, in der jeder über den Stand seiner Forschungen berichtet. Die Gäste stellen sich selbst vor. Einige kommen von der Ostküste, andere aus Australien oder Großbritannien. Wolfgang hat den Eindruck, die theoretische Physik schreite mit großen Schritten voran. Man braucht ihr nur auf dem Fuß zu folgen.

Im Dezember 1941, nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor und dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten, ruft der Chef seine Mitarbeiter zusammen. Aus seiner kleinen Ansprache geht hervor, dass die Wissenschaftler in Friedenszeiten in ihren Forschungen frei gewesen seien, sich jedoch in Kriegszeiten in den Dienst der Demokratie stellen müssten. Da nun ein anderes Klima herrsche, würden Forschungsergebnisse nicht mehr in internationalen Zeitschriften publiziert, sondern unterlägen der militärischen Kontrolle.

Wolfgang bekommt einen Brief von seiner Mutter, die ihm erzählt, wie stolz sie sei, den Kunden in der Buchhandlung mitteilen zu können, dass ihr Sohn sich für die Befreiung Europas einsetzt. Auch klagt sie über die reichen deutschen Juden, die sich in La Chaux-de-Fonds niedergelassen haben. Sie vertrieben sich die Zeit damit, im Laden die Bücher zu zerlesen, statt sie zu kaufen. Mutters Schlussfolgerung: «Hoffen wir, dass sie bald wieder nach Hause können und du hier in meiner Nähe einen Lehrstuhl bekommst.»

 

Eines Abends auf dem Campus schaut Oppie im Labor vorbei, das in einem Kellergeschoss hinter dem Kampanile liegt. Die Ergebnisse weichen um den Faktor zwei von den Berechnungen ab. Wolfgang versteht diese Ungenauigkeit nicht, für den Professor aber bedeutet der klare Faktor zwei, dass es sich nicht um einen banalen Irrtum handeln kann. Um eine ganze Oktave habe man sich vertan, sagt er. Er fragt Wolfgang geradeheraus, ob er noch immer Geige spielt. Wolfgang bejaht, Diplom in einem Monat. Darauf stellt Oppie eine sonderbare Frage:

«Werden wir mit Ihrem Mozart den Krieg gewinnen?»

Im ersten Augenblick weiß Wolfgang nicht, was er erwidern soll. Oppie spricht sich nicht wirklich gegen Musik aus, aber sein kleiner Satz über Mozart lässt Zweifel aufkommen. Fortan achtet Wolfgang genau darauf, wie lange er Geige spielt, als raube er diese Stunden den Kriegsanstrengungen. Bei seiner Diplomprüfung lässt er sich von Fumika begleiten, einer bildhübschen japanischen Pianistin, der er nicht den Hof zu machen wagt. Als der Name Steinamhirsch auf der Liste der bestandenen Diplomprüfungen auftaucht, gratuliert ihm Oppie. Und doch liegt im Blick des Meisters ein Hauch von Missbilligung. Wolfgang bittet ihn nicht, seine Gedanken auszusprechen. Schließlich reitet Oppie doch täglich aus, genau wie Professor Scherrer. Ist angesichts der vordringlichen Bekämpfung des Nationalsozialismus nicht auch Reiten Zeitverschwendung? Da die Frage offen bleibt, sieht Wolfgang den schwarzen Kasten seiner Gagliano schief an. Am Tag nach dem Diplomkonzert, als er das Rosshaar seines Geigenbogens mit Kolophonium bestrichen hat, nimmt er den kleinen stumpfen Bleistift zur Hand, mit dem er die Bogenstriche notiert, und schreibt in Großbuchstaben auf den grünen Umschlag einer Köchelpartitur: «Werden wir mit Ihrem Mozart den Krieg gewinnen?»

Da ihm ein Nein auf einmal selbstverständlich erscheint, klappt er den Geigenkasten zu und beschließt, das weiße Seidentaschentuch, den Bogen und das schöne Instrument, das ihm seine Mutter geschenkt hat, nie wieder in die Hand zu nehmen … Nach der Niederlage der Nazis, wenn wieder Frieden in der Welt herrscht … Wenn ich nach Europa zurückkehre und eine Frau finde, wenn ich wieder französischen Wein trinke und die Schweizer Armee demobilisiert wird, erst dann wird die Musik wieder zu ihrem Recht kommen, erst dann werde ich den schwarzen Holzkasten wieder öffnen und auf meiner kostbaren Gagliano spielen. Sogar mehrere Stunden täglich.

Er traut sich nicht, seiner Mutter zu schreiben, dass er die Geige aufgibt und folglich nie Dirigent werden wird. Gewiss ahnt sie es bereits. Solange man sich beides erlauben konnte, hat er die Musik und die Erforschung der Materie mit ganzer Kraft betrieben, die Atomphysik zum Wohl der Menschheit, die Geige für sich selbst. Doch irgendwann bringen die Ereignisse jedermanns Privatleben durcheinander.

Auch Fumika sagt er nichts von seinem Entschluss. Was er für sie empfindet, geht sie nichts an, solange er ihr seine Liebe nicht gestanden hat. Sie wäre die dritte Frau in seinem Leben. Nach Heidi Stähelin und Lise Meitner.

Einige Zeit darauf bestellt ihn Oppie in sein Büro und schlägt ihm vor, in Enrico Fermis Labor in Chicago zu wechseln. Eine neue, diesmal von den Militärs kontrollierte Mission. Amerika erweist ihm eine große Ehre. Obwohl er Schweizer Staatsbürger ist, wird er an einem internationalen Projekt mitarbeiten, bei dem sich die Wissenschaft untermittelbar dem Kampf gegen den Nationalsozialismus zur Verfügung stellt.

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