Eine Geschichte des Krieges

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Die Kernenergie zum Nutzen des Friedens

Im Atomzeitalter setzten die Supermächte, wenigstens in der Theorie, ihre wirkungsvollsten Technologien nicht dazu ein, Krieg zu führen, sondern ihn zu verhindern. Nachdem die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten mit der Atombombe die Mittel zur wechselseitigen Vernichtung entwickelt hatten, zielte der technologische Fortschritt auf die Herstellung eines sogenannten Gleichgewichts des Schreckens. Im Kern bestand die während der Kubakrise 1962 entwickelte Idee darin, ein technologisches System zu schaffen, mit dem ein Land einen Überraschungsangriff eines anderen Landes überleben konnte und gleichzeitig genügend Schlagkraft hatte, um seinerseits einen verheerenden Angriff zu starten. Der Logik nach würde es keines der beiden Lager wagen, Atomwaffen einzusetzen, wenn es nicht möglich war, mit dem ersten Angriff den Sieg davonzutragen.

Infolgedessen arbeiteten beide Lager Pläne aus, um glaubhaft einen Zweitschlag oder gar Drittschlag führen zu können. Auf diese Weise entwickelten sie die sogenannte nukleare Triade: Langstreckenbomber wie die amerikanische B-52 Stratofortress oder die sowjetische Tu-95, die mit Atomsprengköpfen an Bord in den gegnerischen Luftraum eindringen können; ballistische Raketen (einige davon gleich mit mehreren nuklearen Sprengköpfen bestückt), die von Silos aus gestartet werden können; schließlich Atomraketen, die von U-Booten vor den gegnerischen Küsten abgefeuert werden. Die im Laufe der 1970er und 1980er Jahre von beiden Blöcken unterzeichneten Abrüstungsverträge sahen vor, der Gegenseite die groben Linien der Atomprogramme zugänglich zu machen und gemeinsame Inspektionen zu erlauben, damit sichergestellt werden konnte, dass beide Lager die Kapazitäten des anderen kannten und so davon abgehalten würden, ihre Waffen einzusetzen oder eine kleinere Krise bis an die Schwelle eines Atomkrieges zu treiben. Es war ein schmaler und unsicherer Weg, der aber erfolgreich zum Ziel führte.

Mehrere erfolgreiche Filme aus der Zeit haben die prekäre Natur dieses Systems und die desaströsen Folgen im Fall des Scheiterns zum Gegenstand gemacht. In Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben (1964) startet ein paranoider General der US-Air Force einen Atomwaffenangriff auf die Sowjetunion. Der amerikanische Präsident und sein wissenschaftlicher Berater, ein ehemals nationalsozialistischer Raketenkonstrukteur, erfahren, dass die Sowjets einen geheimen Mechanismus entwickelt haben, der auf einen Schlag das gesamte Atomarsenal und die Zerstörung der Welt auslöst, sobald ein amerikanischer Angriff registriert wird. Da Russland allerdings die Vereinigten Staaten nicht über die Existenz dieses Systems in Kenntnis gesetzt hat, kann es auch keine abschreckende Funktion haben, »und zwar aus Gründen, die zu diesem Augenblick nur zu klar sein dürften«3, wie Dr. Seltsam anmerkt. Die einzige mögliche Konsequenz des apokalyptischen Mechanismus der Sowjets ist die Vernichtung der Welt, was durch eine Reihe von Atompilzen im Abspann des Films angedeutet ist. In WarGames – Kriegsspiele (1983) schafft es ein Oberschüler, aus Spaß in das Computersystem des amerikanischen Militärs einzudringen, und löst unwissend den Countdown für den Start von Atomwaffen aus. In Jagd auf Roter Oktober (1990) versucht ein sowjetischer U-Boot-Kapitän, ins amerikanische Lager überzulaufen, nachdem er entdeckt hat, dass sein neues geheimes Antriebssystem nicht zu Abschreckungszwecken entwickelt wurde, sondern dazu, einen nicht zu ortenden Erstschlag zu ermöglichen.

Bestimmten Analysen zufolge konnte der Westen den Kalten Krieg durch technologische Überlegenheit gewinnen, ohne gegen die Sowjetunion auf dem Schlachtfeld zu kämpfen. Im Laufe der 1980er Jahre investierten die Vereinigten Staaten in eine Raketenabwehr-Technologie mit Namen Strategic Defense Initiative (SDI). Obwohl sich die Zeitgenossen darüber lustig machten, indem sie von einem »Krieg der Sterne« sprachen, hätte ein solches System, sobald es einmal entwickelt wäre, alle sowjetischen Atomwaffen praktisch unbrauchbar gemacht. Die Vereinigten Staaten hätten einen unumkehrbaren Vorteil erlangt. Dass sich die Russen gewahr wurden, dass sie einen Rückstand von mehreren Generationen auf die westliche Militärtechnologie hatten, trug sicher zum Zusammenbruch der Sowjetunion bei.

Schnellkochtopf und ein Sack Nägel

In den asymmetrischen Kriegen, in denen sich beide Lager auf sehr unterschiedliche militärische Organisationen stützen, hat Technologie gewöhnlich eine weniger entscheidende Rolle gespielt. Die Erfahrung des amerikanischen Militärs in Vietnam beweist dies hinlänglich. Die Vereinigten Staaten hatten alle nur erdenklichen technologischen Vorteile, und doch fand die vietnamesische Seite die Mittel, um fast alle davon auszugleichen. Sie verbarg sich im Dschungel, um ihre Bewegungen geheim zu halten (im Gegensatz zum ersten Golfkrieg 1991, in dem die irakischen Truppen in der Wüste exponiert waren), und ließ sich selten darauf ein, für Kämpfe größere Menschenmassen an einem Ort zu konzentrieren. Auf dem Schlachtfeld versuchte sie überall, wo dies möglich war, in den Nahkampf zu gelangen und so die amerikanische Seite dazu zu bewegen, ihre Luftangriffe einzustellen: Wie man sich denken kann, widerstrebte es den Pilot*innen, Bomben oder chemische Kampfstoffe wie Napalm in der Nähe ihrer eigenen Truppen einzusetzen.

Außerdem benötigte die vietnamesische Militärorganisation weder Schwerindustrie noch hochentwickelte Bewaffnung. Folglich fanden die amerikanischen Bomber, die ursprünglich für strategische Luftangriffe gegen die Sowjetunion entworfen worden waren, nur wenige industrielle Angriffsziele vor. Als sich der Krieg in die Länge zog, forschte die amerikanische Seite nach anderen technologischen Lösungen, darunter das als Agent Orange bezeichnete Herbizid, mit dem sie den Dschungel zu zerstören und die Aufgabe ihrer Piloten bei der Bombardierung vietnamesischer Truppen zu erleichtern hoffte. Das US-Militär steigerte auch die Zahl der Luftschläge in einem Maße, dass auf Vietnam zwischen 1965 und 1973 doppelt so viele Bomben abgeworfen wurden wie insgesamt im Zweiten Weltkrieg. Doch dies führte nur zu größerer Frustration bei den Strateg*innen, die dazu tendierten, die dem Gegner zugefügten Schäden mit wirklichen Fortschritten hin zum Endsieg zu verwechseln.

In diesem Ungleichgewicht der Kräfte kann die schwächere Seite auch auf die sogenannten Waffen der Armen zurückgreifen, sprich auf Waffensysteme, die aus kostengünstiger Ziviltechnologie gefertigt sind. Den Guerillas gelang es so, Minen, Bomben und – mit tragbaren Telefonen oder Funksprechgeräten improvisierend – ziemlich ausgefeilte Sprengkörper herzustellen. Das Attentat auf den Boston-Marathon vom 15. April 2013 wurde mit einfachen Schnellkochtöpfen und Nägeln durchgeführt. Um Technologien zum Aufspüren solcher Waffen zu entwickeln, müssen beträchtliche Summe aufgewendet werden. Das haben die Vereinigten Staaten 2003 im Irak getan, um gegen solche Sprengsätze anzukämpfen.

Der israelische Fall illustriert gut die Grenzen der Technologie im asymmetrischen Krieg. In den symmetrischen Kriegen von 1967 und 1973 konnte Israel zu seinem großen Vorteil auf ausgefeilte westliche Technologie zurückgreifen. Die französischen und amerikanischen Waffensysteme, die das israelische Militär einsetzte, waren den sowjetischen Waffensystemen, die das ägyptische und das syrische Militär einsetzten, hoch überlegen. Israel gelang es also, seine technologischen Vorteile in militärische Vorteile zu verwandeln, wie dies Preußen in den 1860er Jahren gelungen war. Insbesondere 1967 gelang es den israelischen Luftstreitkräften und Panzerdivisionen leicht, das gegnerische Lager zu überwältigen.

Doch gegen die Intifada, den 1987 begonnenen palästinensischen Aufstand, erwiesen sich diese technologischen Vorteile als deutlich weniger wirkungsvoll. Panzer, Flugzeuge und Kriegsschiffe richteten wenig aus, wenn es darum ging, junge Palästinenser*innen am Demonstrieren oder an Terroranschlägen zu hindern. Die Bilder israelischer Panzer, die durch Dörfer rollten und junge Steinewerfer*innen ins Visier nahmen, gaben dem technologischen Vorteil Israels einen Anstrich des Grausamen und Sinnlosen.

Wenn außerdem Israel wirksamen Gebrauch von seiner Technologie machte wie 2008–2009 bei den Luftschlägen gegen Aktivist*innen im Gazastreifen, die des Terrorismus verdächtigt wurden, verursachte dies unvermeidlich zivile Verluste, da diese militärischen Mittel ja dafür konstruiert waren, Kampfformationen zu eliminieren. Die technologische Suprematie machte aus Israel einen mächtigen und gut gerüsteten Goliath, der sich gegen den palästinensischen David aufstellte. Dieses Ungleichgewicht der Mittel hat einen Teil der internationalen Öffentlichkeit dazu gebracht, Sympathien für eine als unterdrückt angesehene palästinensische Jugend zu hegen.

Die Vereinigten Staaten, Frankreich und Großbritannien sind bei Militäreinsätzen gegen al-Qaida und den Islamischen Staat ebenfalls auf Schwierigkeiten beim Einsatz ihrer technologischen Mittel gestoßen. Die westlichen Luftstreitkräfte und Marschflugkörper können einen Gegner angreifen und zerstören, der mit Truppenkonzentrationen kämpft. Nun mischen sich militante Aktivisten*innen in der Regel unter die Zivilbevölkerung, was es den westlichen Ländern erschwert, ihre Bewaffnung einzusetzen. Trotzdem glaubt der Westen weiterhin daran, dass ihm seine Technologie den Sieg in asymmetrischen Auseinandersetzungen bringt. In der Krise rufen amerikanische Präsidenten regelmäßig nach Luftschlägen und Marschflugkörpern, die sich im Allgemeinen durch große Präzision und eine verheerende Wirkung auszeichnen; außerdem, und das ist vielleicht das Wichtigste, entbinden diese Schläge die Politiker*innen davon, Landstreitkräfte zu entsenden. Nichtsdestoweniger kann die Gegenseite die Wirkung dieser Waffen begrenzen, indem sie ihre Kräfte über ein großes Territorium verteilt oder sich, oft in großen Städten, unter die lokale Bevölkerung mischt.

 

Die Terrororganisationen ziehen einen Vorteil aus ihrer Fähigkeit, die westlichen Lufteinsätze auch zivile Opfer fordern zu lassen, woraufhin erregte Reaktionen in der Öffentlichkeit nicht ausbleiben, oder sie dazu zu bringen, dass sie Millionen von Dollar für die Zerstörung weniger wertvoller Ziele aufwenden. Da sie über keine klassische Militärinfrastruktur verfügen, haben der Islamische Staat und al-Qaida wenige feste Stützpunkte, die sie vor der westlichen Technologie schützen müssen. Umgekehrt sind die westlichen Armeen gezwungen, nennenswerte Mittel zum Schutz ihrer zahlreichen Einrichtungen und ihrer zivilen Infrastruktur aufzuwenden. Außerdem müssen sie beträchtliche Geldsummen in die Verhinderung nicht nur wirklicher, sondern auch potenzieller Angriffe auf ihre teuren technologischen Systeme stecken. Al-Qaida und der Islamische Staat behelfen sich mit preiswerten Technologien, manchmal mit so bescheidenen wie einem Messer oder einem Cutter. So haben sie bei den Attentaten vom 11. September 2001 die Mittel gefunden, die westliche Technologie in den Dienst ihrer eigenen Zwecke zu stellen.

In dem Maße, wie der Westen immer ausgefeiltere Technologien entwickelte, wurde er auch angreifbarer. Praktisch alle westlichen Militäreinsätze sind heute auf die Sicherung ihrer Computernetze angewiesen, was ihre Armeen zu massiven Investitionen in IT-Sicherheit zwingt. Dieselbe Technologie, die einem Kriegsherrn ermöglicht, in Echtzeit über Satellit eine Operation in Hunderten Kilometern Entfernung zu lenken, kann zu einem Schwachpunkt werden, sobald der Gegner einen Weg gefunden hat, das von ihm verwendete Informationsnetzwerk zu zerstören oder Kontrolle über es zu gewinnen. Während solche Netze heute Operationen auf globaler Ebene ermöglichen, bedeuten sie zugleich und im selben Umfang eine Verwundbarkeit, aus der staatliche wie nichtstaatliche Akteure ihren Nutzen schlagen können. Die Informatik stellt somit eine Achillesverse dar, die alle westlichen Armeen mit einberechnen müssen.

Hochentwickelte Technologie ist keine Garantie für den Fortschritt der Gesellschaft und auch nicht, soweit es unser Forschungsfeld betrifft, für Erfolg auf dem Schlachtfeld. Neue Technologien sind nicht immer revolutionär; weder ersetzen sie schnell alte Technologien noch lassen sie alte Formen der Kriegführung obsolet werden. Um die Technologie zu verstehen, müssen wir auch das System verstehen, innerhalb dessen sie aufkommt, und die Entscheidungen, die die Einzelnen und die Gesellschaften treffen. Trotz des Aufkommens moderner Technologien, wie dem Panzer und dem Flugzeug waren die Armeen, wie David Edgerton gezeigt hat, noch lange stark von der Muskelkraft von Tieren abhängig. So setzte beispielsweise die britische Armee noch im Zweiten Weltkrieg 500 000 Pferde und 47 000 Kamele ein. Das Neue ersetzt nicht zwangsläufig das Alte.

Insbesondere die westlichen Gesellschaften scheinen manchmal von der Technologie wie betört und sehen in ihr eine Art Wundermittel. Bestimmte technologische Fortschritte werden uns helfen, länger zu leben, den Zustand der Umwelt zu verbessern oder im Fall der Militärtechnologie Siege auf dem Schlachtfeld zu erringen. Doch die technologischen Systeme sind per Definition dynamisch und führen oft zu Resultaten, die den Vorstellungen ihrer Erfinder*innen entgegengesetzt sind.

Außerdem ist der Krieg, Clausewitz hat daran erinnert, ein Duell, in dem jedes Lager die Art der entsprechenden Interaktion mitbestimmt. Die vietnamesischen Guerillas, die sich im Dschungel verbargen, die Kombattanten des Islamischen Staates, die in den Großstädten des Nahen Ostens verschwinden, sind moderne Pendants zu den indianischen Kriegern, die im Angesicht der Artillerie der amerikanischen Armee nicht bewegungslos auf ihren Reittieren verharren wollten. Sie erinnern uns daran, wie die militärischen Planer gerne sagen, dass der Feind im Bereich der Technologie nicht weniger ein Wörtchen mitzureden hat als in allen anderen Aspekten des Krieges. Der Besitz einer fortschrittlichen Technologie allein kann einen Vorteil auf dem Schlachtfeld bringen, aber er hat auch seinen Preis. Und er garantiert auch nicht den Sieg.

Michael Neiberg ist Inhaber des Lehrstuhls für War Studies am US War College. Er ist Autor zahlreicher Arbeiten zur Militärgeschichte, insbesondere über den Ersten Weltkrieg u. a. The Path to War. How the First World War Created Modern America (Oxford 2016).

Literaturhinweise

Unter den Gesamtstudien zum Thema möchten wir insbesondere hinweisen auf: William J. Astore, »Science and Technology in War«, Oxford Bibliografies Series, https://dx.doi.org/10.1093/obo/9780199791279-0054 [9. 6. 2019]; Martin Van Creveld, Technology and War. From 200 B. C. to the Present (New York 1989); Elting Morison, Men, Machines, and Modern Times (Cambridge, MA 1966); David Edgerton, The Shock of the Old. Technology and Global History since 1900 (Oxford 2011); Paul Kennedy, Aufstieg und Fall der großen Mächte (Frankfurt am Main 1989).

Und unter den Spezialstudien: Carlo Cipolla, Guns, Sails and Empires. Technological Innovation and the Early Phases of European Expansion (1400–1700) (Manhattan, KS 1988); I. B. Holley, Ideas and Weapons, Exploitation of the Aerial Weapon by the United States during World War I. A Study in the Relationship of Technological Advance, Military Doctrine and the Development of Weapons (New Haven 1953); Merritt Smith, Harpers Ferry Armory and the New Technology. The Challenge of Change (Ithaca 1977); Dennis Showalter, Railroads and Rifles. Soldiers, Technology and the Unification of Germany (Hamden 1975).

Unter den Arbeiten über bestimmte Technologien insbesondere: Gerard De Groot, The Bomb. A Life (Cambridge, MA 2006); Robert Massie, Die Schalen des Zorns (Frankfurt am Main 1993); John Ellis, The Social History of the Machine Gun (Baltimore 1986); Edward W. Constant, The Origins of the Turbojet Revolution (Baltimore 1980).

Querverweise

Das Drohnen-Zeitalter146

Der Aufstieg des Kriegsstaates150

Der Preis des Krieges166

Guerilla und Aufstandsbekämpfung236

Die AK-47 erobert die Welt283

Der Bombenkrieg, vom Boden aus betrachtet568

Schweigen über Hiroshima583

1Die im Folgenden dargestellten Ideen stammen vom Autor selbst und geben nicht die des Verteidigungsministeriums, des Army War College, der Regierung der Vereinigten Staaten oder einer anderen ihrer Institutionen wieder. Ich möchte William J. Astore für seine wertvollen Beobachtungen danken, die er freundlicherweise nach Lektüre einer ersten Fassung dieses Textes mit mir geteilt hat.

2Hilaire Belloc, The Modern Traveller, London 1898, S. 41.

3Stanley Kubrick, Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben, 1963.

Katharine Hall
Das Drohnen-Zeitalter

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hoben die ersten als Bomben eingesetzten unbemannten Flugzeuge ab. Diese Automatisierung des Krieges wirft zahlreiche ethische Fragen auf.

2002 führten die Vereinigten Staaten im Jemen ihren ersten gezielten Luftschlag mit Drohnen durch. Laut des Bureau of Investigative Journalism autorisierte die Bush-Regierung mindestens 57 Drohnenangriffe im weiteren Rahmen des Krieges gegen den Terrorismus und des Irak- und Afghanistankrieges. Doch erst mit dem Einzug Obamas ins Weiße Haus nahm die Zahl der US-Drohnenangriffe merklich zu: Im Verlauf seiner zwei Amtszeiten kam es zu 563 Drohnenangriffen allein in Pakistan, Somalia und im Jemen (nicht zu reden von den Schlachtfeldern im Irak und in Afghanistan). Die Obama-Regierung stützte sich nicht nur vermehrt auf Drohnen, sondern veränderte auch die Art und Weise, wie die Angriffe durchgeführt wurden. Wenig überraschend wurden zahlreiche Einzelpersonen ins Visier genommen, weil sie in den Ziellisten aufgeführt waren. Andere hingegen fielen den Drohnenangriffen zum Opfer, ohne dass ihre Identität von den zuständigen Diensten im Vorhinein geklärt worden war – man spricht von einer Zielauswahl auf Grundlage einer »Analyse der Lebensgewohnheiten«, das heißt einer kombinierten Analyse der Kommunikation, der Reisen, der sozialen Netze und anderer Daten, die die Expert*innen für Korrelate terroristischer Aktivität halten. Die Identität der ins Visier genommenen Person ist unbekannt und kann meist auch nach dem Angriff nicht in Erfahrung gebracht werden. Die Verwendung von Metadaten zur Identifizierung von Zielen ist ein wichtiges Element der heutigen Drohnenangriffe, bei denen Algorithmen und Telefondaten zu einem integralen Bestandteil der kill chain, das heißt der vordefinierten Handlungskette bei Tötungsaktionen, geworden sind.

Diese Entwicklungen werfen eine Reihe wichtiger Fragen bezüglich des gegenwärtigen Stands des amerikanischen Militärengagements und der Zukunft des Krieges auf. Wieso sind Drohnen zu einem zentralen Element der amerikanischen Militäreinsätze seit dem 11. September 2001 und insbesondere nach dem Ende der Bush-Regierung geworden? Zeigt die zunehmende Verwendung von Drohnen eine Verschiebung des ethischen und rechtlichen Rahmens an, der die Kriegführung bis dahin bedingt hat, insbesondere da die Drohnenangriffe aus der Distanz gesteuert werden, oft von einem Ort völlig abseits vom Kriegsschauplatz, und sich zunehmend auf Algorithmen und Metadaten stützen? Und was bedeuten letzten Endes diese Entwicklungen und die Tatsache, dass die Soldaten in der Zukunft potenziell durch Drohnen und Roboter ersetzt werden, für den Krieg und die Sicherheit?

Wenn uns diese Fragen vor einige Herausforderungen stellen, kann uns die Geschichte der Drohnentechnologie viel über das Thema lehren. Großbritannien versuchte sich als Erstes an der Entwicklung von Drohnen als Offensivwaffen. Eines der ersten britischen Programme zum Bau von Drohnen Anfang des 20. Jahrhunderts hatte zum Ziel, unbemannte Flugzeuge zu entwickeln, die Bomben abwerfen oder sich auf Ziele stürzen und sich somit selbst in Bomben verwandeln konnten. Diese Drohne, genannt Larynx, wurde zunächst in beschränkter Stückzahl gebaut und war so konzipiert, dass sie auf einer vorherbestimmten Flugbahn (mit etwas Glück) das Ziel erreichte. In den 1930er Jahren wurden verschiedene Ansätze zur Fernsteuerung des Larynx erprobt und neue Mechanismen zur Erkennung und Eliminierung der Ziele entworfen. Eine dieser Ideen bestand darin, den Larynx mit einem »elektronischen Auge« zu versehen, ein von dem Erfinder S. G. Brown entwickeltes Gerät, das fotoelektrische Zellen so einsetzte, dass sie das Flugzeug auf alles, was es »sah«, hinsteuern konnten. Das elektronische Auge, das als Mittel zur Überwindung der menschlichen Kontrolle erachtet wurde, sollte dem Larynx ermöglichen, seine »Beute« so lange zu verfolgen, bis es zur Kollision kam. So sollte er die Fähigkeit erlangen, seine eigene Position zu verorten und selbstständig auf Ziele wie Scheinwerfer oder andere Infrastrukturen hinzusteuern.

Auch wenn die Version des Larynx mit elektronischem Auge nie erfolgreich gebaut wurde, kann sie doch in gewisser Hinsicht als Vorläufer der Präzisionslenkraketen oder Raketen mit Wärmesensoren gelten, die die heutigen Anstrengungen zur Entwicklung autonomer Drohnen ankündigten. Tatsächlich zeigt die fortlaufende Entwicklung der Drohnen im 20. Jahrhundert, dass die automatisierte und rechnergestützte Zielidentifikation immer eines der Hauptziele dieser Forschungsprogramme geblieben ist. In den 1960er Jahren entwickelte das amerikanische Unternehmen Ryan Aeronautical eine Aufklärungsdrohne, die Tausende Einsätze während des Vietnamkrieges und in Südostasien flog. Diese gemeinhin als Lightning Bug (Glühwürmchen) bezeichnete Drohne reiht sich in die Handvoll unbemannter Überwachungsflugzeuge ein, die die Vereinigten Staaten während des Kalten Krieges entwickelt haben.

 

Das Lighning Bug-Programm wurde letztlich gestoppt, doch diejenigen, die daran beteiligt gewesen waren, hatten keinen Zweifel am enormen Potenzial dieser Fluggeräte, die aus ihrer Sicht Teil neuer nachrichtendienstlicher Aufklärungstechniken auf elektrischer und elektromagnetischer Basis bildeten. Zum Beispiel war eine Version des Lighting Bug mit Sensoren ausgestattet, die Stützpunkte mit Luftabwehrgeschützen erkennen können sollten. Fast zur selben Zeit entwickelte Lockheed die Tagboard, die eine unbemannte Alternative zum Spionageflugzeug U-2 bot und somit die der bemannten Steuerung inhärenten Grenzen überwand. Drohnen wie die Tagboard konnten länger in der Luft bleiben und eine kontinuierliche und langfristige Überwachung liefern. Diese Überwachungsfähigkeit war einer der Gründe, aus denen im Rahmen der US- und NATO-Luftschläge im Kosovo Ende der 1990er Jahre die Drohnen – nach dem Vorbild einer ersten unbewaffneten Version der Predator – in die Missionen mit dynamischer Zielfestlegung integriert wurden. Vor dem 11. September 2001 war dies der intensivste Drohneneinsatz in der Geschichte amerikanischer Militäreinsätze.