Eine Geschichte des Krieges

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Im Übergang zum 20. Jahrhundert trat der Krieg in eine neue Phase ein. Diese war geprägt von einer noch stärkeren Vermassung der Armeen, einer klareren Ideologisierung der Soldaten und einer beispiellosen Zerstörungskraft. Militärische Berater wurden zu fernen Kriegen entsandt, um die Umsetzung taktischer und strategischer Modelle zu beobachten, ohne dass immer eindeutige Lehren für zukünftige Konflikte daraus gezogen werden konnten. Als im Februar 1904 der Russisch-Japanische Krieg ausbrach, nahm John Pershing, der nach Befriedungskampagnen gegen die Krieger der Moros auf den Philippinen (1899–1901) als amerikanischer Militärattaché in Tokio tätig war, an einer amerikanischen Beobachtermission teil; auch von russischer Seite waren vier Beobachter entsandt worden. »Die Regeln der Kriegführung haben keine bedeutsame Modifikation in ihrer Anwendung erfahren«, resümierte einer der Amerikaner, der weder die Fortschritte der Artillerie noch die Entwicklung der Gräben, noch den massiven Einsatz von Granaten für bemerkenswert hielt. Scharfsichtiger schloss der britische Militärattaché Ian Hamilton auf die Überlegenheit des Positionskrieges: Zehn Jahre später war er als Oberbefehlshaber für die desaströse Offensive der Alliierten 1915 bei Gallipoli verantwortlich, die seiner militärischen Karriere ein Ende setzte. Ein Ereignis wie die Niederlage der russischen Flotte im Kampf gegen die Japaner bei Tsushima (27. und 28. Mai 1905) hatte wie kaum eine Schlacht zuvor Auswirkungen auf globaler Ebene. In den westlichen Ländern löste sie Befürchtungen aus, dass sich die Macht in den Fernen Osten verschieben könnte.

Vermittelt durch die imperialen Dynamiken, setzten die beiden Weltkriege eine Zirkulation von Menschen und Rohstoffen über den ganzen Planeten in Gang. Es genügt, die wenigen Quadratkilometer zu durchstreifen, wo die Schlacht an der Somme stattfand, um einen Eindruck davon zu gewinnen. In dieser typisch nordfranzösischen Landschaft ruhen Soldaten, die aus den britischen Besitzungen am anderen Ende der Welt stammten: in Beaumont-Hamel die Kämpfer des Newfoundland Regiment; in Longueval die südafrikanischen und neuseeländischen Soldaten; in Villers-Bretonneux Australier. Wenige Denkmale hingegen für die Soldaten oder Arbeiter*innen aus den Kolonien. Die Mehrzahl der Hunderttausenden von Chines*innen, Afrikaner*innen und Inder*innen, die zwischen 1914 und 1918 nach Europa kamen, haben weder persönliche Aufzeichnungen noch Memoiren hinterlassen; die Briefe an ihre Familien sind, weil das Papier dem Klima ihrer Herkunftsländer nicht standgehalten hat, nur noch in Spuren in den Berichten der Postprüfstellen erhalten. In der unmittelbaren Nachkriegszeit hatten die enttäuschten Hoffnungen auf das »Selbstbestimmungsrecht der Völker« langfristige Konsequenzen: der Auftrieb des chinesischen Kommunismus infolge der Bewegung des 4. Mai 1919, Unabhängigkeitsbewegungen in Indien und in Ägypten, der Aufschwung des arabischen Nationalismus angesichts der zionistischen Ambitionen in Palästina. Im Juni 2014 rief die Proklamation eines »Kalifats« durch die Organisation »Islamischer Staat im Irak und in Syrien« zur Wiederherstellung einer 1924 abgeschafften Institution und zur Beseitigung der Folgen des französisch-britischen Sykes-Picot-Abkommens von 1916 auf, das die Aufteilung des Osmanischen Reiches in Einflusszonen für die beiden europäischen Mächte vorsah. Im Nahen und Mittleren Osten ist der Erste Weltkrieg noch immer nicht zu Ende.

Ab 1914 und vor allem während des Zweiten Weltkrieges wirkte sich der Konflikt auf mehreren Kontinenten, auf Tausende Kilometer entfernten, mehr oder weniger miteinander koordinierten Kriegsschauplätzen gleichzeitig aus. Ein historisches Novum war das nicht: Der Siebenjährige Krieg (1756–1763), in dem alle europäischen Großmächte in Europa, in Nordamerika, in Afrika, in Indien und auch auf den Meeren aufeinanderprallten, war bereits ein Weltkrieg gewesen. Indes bleibt der ungeheure Einsatz von Menschen und materiellen Ressourcen 1914–1918 unerreicht. Die beiden Weltkriege sind gelegentlich als Folge von Regionalkonflikten mit je nach Kriegsschauplatz verschiedenen Chronologien betrachtet worden. Auf dem Balkan beispielsweise bildeten die Kriege von 1912 und 1913, der Erste Weltkrieg und der Griechisch-Türkische Krieg (1919–1922) eine separate chronologische Abfolge. Die Erinnerungen an einen globalen Konflikt wie den Ersten Weltkrieg bleiben weitgehend dem nationalen Rahmen verhaftet: In Australien und in Neuseeland wird die Schlacht von Gallipoli als Geburtsstunde dieser jungen Nationen angesehen. Dort ist der 25. April 1915 nationaler Gedenktag (ANZAC Day) und wird im Gedenken an die Landung an den Dardanellen begangen. Für die Briten hingegen markierten die Umwandlung einer Freiwilligenarmee in eine Wehrpflichtigenarmee (27. Januar 1916) und die Schlacht an der Somme (Juli – November 1916) die entscheidenden Wendepunkte.

Auch der Zweite Weltkrieg spricht hier Bände: Japan lässt ihn 1931 mit dem Einmarsch in der Mandschurei beginnen, auch wenn dieser Krieg erst im Juli 1937 einen totalen Charakter annahm. Mit dem Angriff auf den amerikanischen Stützpunkt Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 wurde er zum »Großostasiatischen Krieg« – eine Bezeichnung, die 1945 von der amerikanischen Besatzungsmacht verboten und durch den Ausdruck »Pazifikkrieg« ersetzt wurde, bevor die akademischen Kreise in Japan, um die Ereignisse in der Mandschurei mit einzubeziehen, den Begriff »Fünfzehnjähriger Krieg«, und um den Amerikanisch-Japanischen Krieg mit den Kämpfen gegen China und gegen die Briten in Südostasien zu verknüpfen, den Begriff »Asien-Pazifikkrieg« populär machten. Für China endete der Krieg erst im Oktober 1949 mit dem Sieg der Kommunist*innen, für Korea mit dem Waffenstillstand von 1953, für Vietnam zweifellos 1975.

Es handelt sich um eine andere Form von »Totalwerdung« des Krieges, die, um nur die bedeutendsten Konflikte vom Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts herauszugreifen, im Amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865), im Deutsch-Französischen Krieg (1870–1871), im Zweiten Burenkrieg (1899–1902) in Südafrika, im Russisch-Japanischen Krieg (1904–1905) und den beiden Balkankriegen 1912 und 1913 sukzessive sichtbar wird. Was zeichnet diese Kriege aus? Die erste Veränderung, die, wie wir gesehen haben, bereits im Wechsel vom 18. zum 19. Jahrhundert wirksam war, ist eine politische: Zur Rekrutierung, Ausbildung, Ausstattung und Entsendung von – überdies immer größeren – Wehrpflichtigenarmeen bedurfte es eines entwickelten Staatsapparats, einer ausgefeilten Infrastruktur, eines Schulungssystems, das die Individuen auf den »Waffendienst« vorbereiten konnte. 1870 hatten einer von 71 Franzosen und einer von 34 Deutschen eine Militärausbildung durchlaufen; 1914 waren es einer von 10 Franzosen und einer von 14 Deutschen. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges hatten alle europäischen Länder mit Ausnahme Großbritanniens eine Wehrpflichtigenarmee.

Die zweite Veränderung, die mit der ersten im Zusammenhang steht, ist ideologischer Natur. Eine »Nationalisierung der Massen«, um den Begriff des großen Historikers George L. Mosse aufzugreifen, funktioniert durch die Schaffung von Institutionen und Symbolen, die mit patriotischer Bedeutung aufgeladen sind, durch den Aufbau riesiger Armeen von Bürgersoldaten, die Marginalisierung und Verfolgung derjenigen, deren Loyalität als fraglich gilt oder die als nicht assimilierbar angesehen werden: Die Idee der »nationalen Gemeinschaft« gipfelt in kriegsorientierten Gesellschaften wie dem nationalsozialistischen Deutschland, dem faschistischen Italien oder dem stalinistischen Russland, wo die ethnischen, religiösen und nationalen Minderheiten die bitteren Folgen tragen mussten. Die Grenze zwischen Krieg und Frieden wurde zunehmend porös: Die Sowjetunion führte zu politischen Zwecken im Inneren einen Krieg gegen die ethnischen Minderheiten mit Mitteln, die aus Kriegszeiten bekannt waren (beispielsweise Beschlagnahmung von Getreide): Die große Hungersnot in der Ukraine, der zwischen 1931 und 1933 mehr als 6 Millionen Menschen zum Opfer fielen, ist das größte Massenverbrechen des Stalinismus. Die Macht der nationalen Ideologien trug zur Entstehung von Auseinandersetzungen neuen Typs bei – wie dem Deutsch-Sowjetischen Krieg, in dem der Zusammenprall des Stalinismus und des Nationalsozialismus zwischen 1941 und Mai 1945 die Bedingungen für einen Vernichtungskrieg schufen, oder dem Pazifikkrieg mit seiner rassistischen Komponente, den der Historiker und Japanspezialist John Dower mit gutem Grund einen »Krieg ohne Gnade«9 nennt.

Die dritte Veränderung betraf die rechtliche, humanitäre und ethische Ebene: die Auflösung der ohnehin schon durchlässigen Grenze zwischen Kombattant*innen und Nichtkombattant*innen. Halten wir dennoch fest: Es steht ganz außer Frage, dass Nichtkombattant*innen seit Jahrhunderten massenhaft Kriegen zum Opfer gefallen waren. Man denke nur an die Plünderung Magdeburgs (20. Mai 1631) während des Dreißigjährigen Krieges, bei der rund 25 000 Zivilist*innen niedergemetzelt wurden und die mit solcher Grausamkeit durchgeführt wurde, dass infolgedessen das Verb »magdeburgisieren« entstand. Die Periode von 1860 bis 1945 sticht nicht durch die Masse an getöteten Zivilist*innen heraus, sondern durch die Tatsache, dass ihre Zahl am Ende bei Weitem die Verluste an Soldaten überstieg: Sie machten 65 Prozent der Todesopfer im Zweiten Weltkrieg gegenüber ungefähr 10 Prozent im Ersten Weltkrieg aus – ein Zeichen dafür, dass im Prozess der Totalwerdung des Krieges ganz bewusst zunehmend die Nichtkombattant*innen ins Visier genommen wurden: als Opfer von Städtebombardements, von Blockaden, von Genoziden …

Diese Angriffe auf die Zivilbevölkerung waren von einer entgegengesetzten Tendenz zur Regulierung des Krieges begleitet, die durch die Haager Landkriegsordnung von 1899 und 1907 an Fahrt aufnahm. Allerdings verfügte Letztere über keinerlei Durchsetzungsmechanismen. Letztlich bestand eine permanente Diskrepanz zwischen den Rechtsverletzungen gegen Nichtkombattant*innen in Europa, die heftige Reaktionen bei Politiker*innen und Jurist*innen (der Bryce-Report von 1915 über die »deutschen Gräuel« in Belgien) sowie bestimmten Künstler*innen auslösten (Picassos Guernica von 1937, gemalt nach der Bombardierung eines baskischen Dorfs durch die deutsche Luftwaffe während des Spanischen Bürgerkrieges), und der Banalisierung derselben Gewalthandlungen innerhalb des Imperiums oder außerhalb Europas, die auf eine breite Front der Gleichgültigkeit stießen, wenn man von wenigen aufgeklärten Geistern wie André Gide absieht. Als sich H. G. Wells in seinem Science-Fiction-Roman The War in the Air (1908) die Bombardierung New Yorks durch »Luftschiffe« ausmalt, schreibt er, sie hinterließen »Ruinen und lodernde Feuersbrünste und aufgehäufte und umhergestreute Tote: Männer, Weiber und Kinder – alles durcheinander, als wären sie nichts weiter als Neger, Zulus oder Chinesen«.10

 

Die vierte Veränderung ist die technologische Entwicklung infolge der zweiten industriellen Revolution im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts (billiger Stahl, moderne Chemie, Verbrennungsmotor). Beispiele sind das während des Amerikanischen Bürgerkrieges entwickelte Minié-Geschoss; der Stacheldraht, dessen Erfinder, ein amerikanischer Viehzüchter in Illinois, sich 1874 kaum ausgemalt haben konnte, wie seine Erfindung vierzig Jahre später auf dem no man’s land der Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges eingesetzt würde; die Maschinengewehre, die Granaten, die chemischen Kampfstoffe, die Flammenwerfer, die Jagdflugzeuge und Bomber, die Panzer bis hin zu der einschneidenden Erfindung der Atombombe – außerdem im Bereich der Versorgung Verwundeter und Kranker: die Röntgenstrahlung, die Bluttransfusion (ab 1914) und das Penizillin (ab 1942). Innerhalb weniger Jahrzehnte veränderte der technologische Fortschritt die Erfahrung auf dem Schlachtfeld: Die Luftfahrt, später das Radar und das Sonar (in den 1930er Jahren) sowie die Satelliten (in den 1960er Jahren) erlaubten der militärischen Aufklärung, sich über den Horizont zu erheben; die drahtlose Telegrafie (seit 1894) und später der Funk (womit die deutschen Panzer während des Blitzkrieges 1940 ausgestattet waren, während die französischen Panzerfahrzeuge noch mit Fähnchen kommunizierten) erleichterten die Übermittlung von Befehlen; die Eisenbahn war bis zur Erfindung des Flugzeugs und später des Hubschraubers (ab den 1950er Jahren) unverzichtbar für die Mobilisierung und den Truppentransport. Das bedeutet allerdings weder zwangsläufig, dass diese technologischen Revolutionen auf dem Schlachtfeld entscheidend waren (die Technologie ist nichts ohne die Strategie), noch dass sie nicht auch auf Unverständnis oder Widerstände unterschiedlichster Form getroffen wären. Dem ist noch hinzuzufügen, dass es in bestimmten Perioden zu einer beschleunigten Entwicklung kam: Ein Heerführer aus dem Sezessionskrieg und sogar aus den Napoleonischen Kriegen hätte im Großen und Ganzen ein Schlachtfeld des Sommers 1914 wiedererkannt. Aber ließe sich dasselbe auch für einen General des Jahres 1914 bezüglich der Situation vier Jahre später sagen?

Aus der Vermassung der Heere, der zunehmenden Ideologisierung der Bürgersoldaten, der Verwischung der Grenze zwischen Zivilist*innen und Soldaten sowie der Verbesserung der Tötungstechnologien folgte die Erfahrung des Massentods: Zwischen 1861 und 1865 starben im Amerikanischen Bürgerkrieg schätzungsweise 750 000 Soldaten – mehr als alle amerikanischen Verluste vom Unabhängigkeitskrieg bis zum Koreakrieg. Doch zu dieser Zeit war die Artillerie nur für 10 Prozent der Verluste verantwortlich. Fünfzig Jahre später, im Ersten Weltkrieg, erhöhte sich das Verhältnis auf 70 bis 80 Prozent. Außerdem kam es in zunehmender Zahl zur völligen Zerstörung der sterblichen Überreste, wenn die Körper mit voller Wucht von den Explosionen getroffen wurden. Zur gleichen Zeit war der Kriegstod durch Epidemien fast vollständig verschwunden, obwohl er das ganze 19. Jahrhundert beherrscht hatte: Der Krimkrieg beispielsweise war eine unbeschreibliche sanitäre Katastrophe gewesen, in der zwischen 75 000 und 95 000 französische Soldaten durch Krankheiten, insbesondere die Cholera, den Tod gefunden hatten. Eine Ausnahme bildete 1918–1919 die Spanische Grippe, die zwischen 30 und 40 Millionen Tote forderte, die Hälfte davon in Indien und China und darunter vorwiegend Zivilist*innen. Der Tod, der im Fall der Luftbombardements von oben kam, sich im Fall der chemischen Kampfstoffe unsichtbar verbreitete, veränderte sein Gesicht, ließ neue Ängste, auch neue Schwierigkeiten, Leichen zu identifizieren und sich um sie zu kümmern, außerdem neue Gedenkrituale entstehen.

Was sich innerhalb von vier Generationen zwischen Gettysburg (ein Schlachtfeld von einigen Dutzend Quadratkilometern) und Hiroshima (ein historischer Wendepunkt ohne Konfrontation und ohne Schlacht) abspielte, ist von entscheidender Bedeutung: Heere wie menschliche Ameisenhaufen (ungefähr 60 bis 70 Millionen Mobilisierte zwischen 1914 und 1918, zwischen 80 und 110 Millionen während des Zweiten Weltkrieges) verzeichneten in diesem Zeitraum schwerste Verluste (zwischen 1941 und 1945 mehr als 5400 Tote pro Tag in der sowjetischen Armee). Unter dem Eindruck des massenhaften Tods läuft man Gefahr, die tragischen Einzelschicksale der Kriegszeit zu vergessen. In Erinnerung an das Blutbad des Ersten Weltkrieges schrieb Marguerite Yourcenar: »Wie man den Wald vor Bäumen nicht sieht, so sah man den Tod nicht vor Toten.«11 Für die einfachen Soldaten des industriellen Krieges änderte sich die Erfahrung des Schlachtfeldes radikal. In einer berühmten Szene in Die Reise ans Ende der Nacht setzt Céline seinen Protagonisten Ferdinand Bardamu mitten in die Feuersbrunst: »Das war alles. Dann nur noch Feuer und außerdem noch Krach dazu. Aber so ein Krach, wie man ihn nie für möglich halten würde. Die Augen hatten wir voll davon, Ohren, Nase, Mund, sofort, mit diesem Krach, dass ich glaubte, es ist vorbei, ich bin selbst zu Feuer und zu Krach geworden.«12

Die Ära der modernen Völkermorde, an den Armenier*innen, den Jüdinnen und Juden, den Sinti und Roma, kennzeichnet die Hochzeit des human engineering, in der man Hunderttausende Menschen – Frauen, Kinder und Ältere eingeschlossen – zahlenmäßig erfasste, stigmatisierte, verfolgte, ghettoisierte, aus ihren Wohnungen trieb, deportierte, ermordete und vollständig verschwinden ließ, teils über Monate hinweg. Selbst wenn die Mehrzahl der rund 6 Millionen Opfer der »Endlösung« in anderen Vernichtungslagern (Treblinka, Belzec, Sobibor, Majdanek, Chelmno) oder den Massenmordstätten der »Bloodlands« (Timothy Snyder) umgebracht wurden, ist der Name Auschwitz zum Synonym des absolut Bösen, des moralischen Bankrotts des Westens und der Industrialisierung des Massenmords geworden: die Schattenseite unserer Moderne.

Am 6. und 9. August 1945 schien die Welt ins Ungewisse zu stürzen. In ihrer moralischen und anthropologischen Bedeutung waren die Atomexplosionen von Hiroshima und Nagasaki globale und beispiellose Ereignisse. »[Bis dahin] hatten wir das Gefühl, durch unsere Kinder und Kindeskinder in einem endlosen biologischen Kontinuum weiterzuleben«, betont der Psychiater Robert Jay Lifton, der als einer der Ersten Überlebende von Hiroshima interviewte. Ab jenem Moment wurde die augenblickliche Vernichtung der ganzen Menschheit möglich. Der Kalte Krieg, der unmittelbar auf den Zweiten Weltkrieg folgte, war ein globaler, auf dem Gleichgewicht des Schreckens beruhender Konflikt. George Orwell, von dem eine der ersten bezeugten Verwendungen des Ausdrucks »Kalter Krieg« stammt, fasst die Situation in seinem Roman 1984 zusammen: »Krieg ist Frieden.«13

Lange Zeit herrschte eine Lesart dieser globalen Auseinandersetzung vor, die sich ausschließlich auf die Beziehung zwischen den beiden Supermächten konzentrierte. Am Ende des Zweiten Weltkrieges verfügten Moskau und Washington jeweils über ein Netz von Bündnissen, das sich über den gesamten Planeten erstreckte: Die Vereinigten Staaten beispielsweise hatten zu Beginn der 1950er Jahre vierhundertfünfzig Militärstützpunkte in fünfunddreißig Ländern. Zwischen 1945 und 1949 besaßen einzig die Vereinigten Staaten Atombomben, wodurch sie die Überlegenheit der russischen Landstreitkräfte ausgleichen konnten. Ab August 1949 wurde die Angst vor Spion*innen und einem russischen Atomangriff, die in den Filmen der amerikanischen Zivilverteidigung sichtbar wird, von einem Wettrennen um den technologischen Vorsprung begleitet: Entwicklung der Wasserstoffbombe durch die Vereinigten Staaten im November 1952 (gefolgt von der sowjetischen Wasserstoffbombe im August 1953), Start des Sputnik 1 durch Russland 1957, als Nächstes das amerikanische Programm zur Eroberung des Weltraums bis zu den ersten SALT-Verträgen zur Verminderung der nuklearen Bewaffnung 1972 und erneuten Spannungen in den 1980er Jahren mit der Stationierung der sowjetischen SS-20-Raketen und dann der amerikanischen Pershing-II-Raketen in Europa.

Im Laufe der Jahrzehnte schwand die Perspektive einer möglichen Einigung zwischen den beiden Supermächten, so sehr klafften ihre Interessen, ihre Ideologien und ihre Wahrnehmungen der Außenwelt auseinander. Phasen größerer Spannungen (die Blockade Berlins von Juni 1948 bis Mai 1949, der Koreakrieg von Juni 1950 bis Juli 1953, der Start des ersten Sputnik 1957, die Kubakrise im Oktober 1962 bis zum Einmarsch der Sowjets in Afghanistan 1979) wechselten sich mit Perioden der Entspannung ab, in denen man, wie Kissinger sich ausdrückte, »die Realität der Konkurrenz mit dem Imperativ der Koexistenz in Einklang bringen«14 musste. Ist der Kalte Krieg dennoch als »Nullsummenspiel« zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion und letztlich als »langer Frieden«15 anzusehen? So hat ihn der Historiker der internationalen Beziehungen John Gaddis in einem 1987 erschienenen Buch beschrieben, in dem er auch zu der Einschätzung kam, dass der Kalte Krieg noch Jahre dauern würde. Eine neue Generation von Historiker*innen betont heute die dramatischen Kosten an Menschenleben in den Konflikten der 1950er bis 1970er Jahre, die Afrika, Lateinamerika und Asien nicht zur Ruhe kommen ließen.

Eine mörderische Gewalt entwickelte sich in den Nord-Süd-Beziehungen mit den Dekolonisationskriegen. Es ist richtig, dass die Zahl der Toten in den westlichen Armeen ab den 1950er Jahren im Verhältnis zum hohen Niveau der beiden Weltkriege stetig abnahm: Im Indochinakrieg (1946–1954) und im Algerienkrieg (1954–1962) verloren die französischen Armeen weniger Soldaten im Kampf als während der Grenzschlachten am 22. August 1914 allein. Die amerikanischen Verluste in Korea beliefen sich auf 36 000 Personen. Die Namen aller rund 58 000 im Vietnamkrieg getöteten und verschwundenen Amerikaner*innen sind in das von Maya Lin entworfene Vietnam Veterans Memorial in Washington eingemeißelt. Der Architekt der einige Hundert Meter weiter gelegenen amerikanischen Gedenkstätte für den Zweiten Weltkrieg musste auf ein Symbol zurückgreifen, um den Umfang der Verluste sichtbar zu machen: Das Bauwerk ist mit 4048 goldenen Sternen besetzt, von denen jeder hundert verlorene Leben repräsentiert. Diese stetige Abnahme an Verlusten im Westen erklärt sich aus dem Fortschritt der frontnahen medizinischen Einheiten, der Entwicklung der Notfall-Chirurgie, der Verbreitung des Penizillins und dem schnellen Abtransport von Patient*innen per Helikopter. Anders sieht es aus, wenn wir die Perspektive wechseln: Ungefähr 800 000 nordkoreanische und chinesische Soldat*innen, 150 000 südkoreanische Soldat*innen und über 2 Millionen Zivilist*innen starben im Koreakrieg, 1 Million Soldat*innen der nordvietnamesischen Streitkräfte und des Vietcong verloren während des Vietnamkrieges ihr Leben.

Lokal überlagerten sich häufig verschiedene Arten von Konflikten. Nehmen wir zum Beispiel den Koreakrieg, der am 25. Juni 1950 mit dem Einmarsch nordkoreanischer Truppen in Südkorea ausbrach. Mit Unterstützung der Sowjetunion und Chinas kämpften die nordkoreanischen Kommunist*innen gegen das nationalistische Regime Syngman Rhees, dem die USA an der Spitze einer internationalen Koalition zur Seite standen – es war der erste Krieg, in dem die UNO eine Rolle spielte. Ab Oktober 1950 wurde der Koreakrieg zu einem Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und China, dem der Konflikt Gelegenheit zu einem tiefgreifenden Umbau seiner Armee bot. Außerdem war der Koreakrieg ein Bürgerkrieg der Nationalist*innen gegen die Sympathisant*innen der Kommunist*innen und in den nordkoreanisch kontrollierten Zonen die Gelegenheit, die Kollaborateur*innen des südkoreanischen Regimes zu unterdrücken. Diese drei Dimensionen, die globale, die internationale und die regionale, fanden sich in fast allen Konflikten des Kalten Krieges wieder, ob in Südamerika, in Afrika oder in Asien. Das legt nahe, sich mehr um eine Dezentrierung des Blicks zu bemühen.

 

Es genügt nicht, sich nur die Frage nach dem Warum einer Globalgeschichte des Krieges zu stellen. Wir müssen uns auch fragen, an wen sie sich richtet. Am 16. März 1968 wurden in My Lai mehr als fünfhundert vietnamesische Dorfbewohner*innen von den amerikanischen Soldaten der Charlie Company niedergemetzelt. Nachdem dies im Sommer 1969 ans Licht gekommen war, wurde, was zunächst als »Zwischenfall« dargestellt worden war, schnell als Verletzung des Kriegsrechts wahrgenommen. Als Symbol der in Vietnam begangenen amerikanischen Gräueltaten in den Augen eines Teils der Weltöffentlichkeit (ein globales Ereignis also), wurde My Lai von den vietnamesischen Kommunist*innen, die lieber die Opfer der Revolutionsarmee feierten, lange stillschweigend übergangen. Außerdem waren es auf lokaler Ebene weniger das Ausmaß des Massakers als seine Folgen für den Ahnenkult, die die Überlebenden trafen. Die Zivilist*innen in My Lai hatten einen gewaltsamen Tod gefunden. Nach der vietnamesischen Tradition waren sie deshalb dazu verdammt, als ruhelose Geister umherzuirren. Während es für die Kritiker*innen aus dem Westen eine Menschenrechtsverletzung war, wurde das Massaker von My Lai von den Dorfbewohner*innen selbst als eine Schändung erlebt. Eine Globalgeschichte des Krieges zu schreiben bedeutet auch zu versuchen, den Toten und Überlebenden eine Stimme zu geben.

Mit dem Ende des Kalten Krieges in den 1990er Jahren hofften viele auf einen globalen Rückgang der Gewalt. Zwanzig Jahre später entwickeln norwegische Politikwissenschaftler*innen weiterhin statistische Modelle, um dem Ausbruch von Konflikten vorzubeugen: Zur Vermeidung des Übels würde es genügen, die »bedrohten Länder« zu identifizieren und die Vereinten Nationen mit einer genauen Überwachung zu beauftragen, die von gezielter ökonomischer Unterstützung begleitet würde. »2050 wird die Zahl der kriegführenden Länder halbiert sein«, versprechen sie. Diese Versuche, die Entwicklung der Kriege umfassend zu erklären, sei es durch eine von der Philosophie der Aufklärung inspirierte vage Fortschrittsideologie, sei es durch eine einigermaßen unbekümmerte Modellierung der menschlichen Komplexität der Konflikte, prallt auf eine schwer zu bestreitende Wirklichkeit: Die Kriege sind heute nicht nur zahlreicher, sondern auch besonders mörderisch – wie der paroxysmale Völkermord an den Tutsi in Ruanda gezeigt hat.

Die erste Behauptung stützt sich auf die spektakuläre Häufung von Bürgerkriegen (Jugoslawien, Sierra Leone, Darfur, DR Kongo, Kaukasus, Afghanistan, Syrien …), in bestimmten Ländern parallel zu oder infolge von Staatsgründungen, die wie im Irak oder in Libyen ihrerseits von desaströsen westlichen Militäreinsätzen angestoßen oder beschleunigt wurden. Von dem großen Soziologen Charles Tilly stammt der berühmte Ausspruch: »Krieg führte zum Staat und der Staat führte Krieg.«16 Mit dem Zusammenbruch der Kolonialreiche und des kommunistischen Blocks, der Zunahme fragiler Regime und der Legitimitätskrise der Nationalstaaten trat der traditionelle Krieg im Sinne zwischenstaatlicher Konfrontationen in den Hintergrund und machte einer anarchischen Kriminalität oder Konflikten niedriger Intensität Platz, deren Kombattant*innen mit den Soldaten der zwei Weltkriege nicht mehr viel gemein haben. Auf dem Balkan, in Mitteleuropa und in den ehemaligen Sowjetrepubliken war die nationalistische Büchse der Pandora geöffnet worden. Es verbreiteten sich separatistische Konflikte wie im Donbass in der Ukraine oder in Ossetien und Abchasien in Georgien. Bis 1990 nutzten die afrikanischen Diktaturen mit Unterstützung der alten Kolonialmächte oder einer der beiden Supermächte ihren Staatsapparat dazu, die komplette politische Opposition zum Schweigen zu bringen. Nach dem Ende des Kalten Krieges hat sich die Situation umgekehrt. Die wirtschaftlich geschwächten und zur Ausübung ihrer hoheitlichen Funktionen unfähigen Staaten sind zu leeren Hüllen oder, um einen kontroversen Ausdruck aus den 1990er Jahren aufzunehmen, zu failed states herabgesunken. Der Krieg wird zu einem Symptom interner Probleme (Sukzessionskrisen, Staatsstreiche) wie auch der globalen geopolitischen Lage (Aufschwung des Waffen- oder Drogenschmuggels auf dem Balkan, in Afghanistan, in Pakistan, in Mittelamerika und in Lateinamerika; Zusammenbruch Libyens seit 2011 und Auftrieb für die dschihadistischen Bewegungen in der Sahel-Zone; Konkurrenz um die Kontrolle der natürlichen Ressourcen …). Wer eine Globalgeschichte des Krieges versucht, für den stellt die gegenwärtige Situation eine gewaltige Herausforderung dar: Die Deutungsmodelle, die noch zur Zeit des Kalten Krieges vorherrschten, haben ihre Relevanz eingebüßt, was den Forscher*innen ein Mehr an Einfallsreichtum abverlangt, um die der heutigen Kriegsgewalt eigenen Dynamiken zu verstehen.

Ob es sich um eine friedenssichernde Maßnahme, eine internationale Koalition oder eine Kampagne zur Aufstandsbekämpfung handelt: Die Soldat*innen der westlichen Länder machen die Erfahrung, dass sich die Art ihrer Kriegführung und ihres Kriegserlebens tiefgreifend verändert. Die Kombattant*innen stellen nur noch eine kleine Minderheit der Truppen im Einsatz dar, den größten Teil machen Logistik und Unterstützung aus – Aufgaben, die auch von privaten Unternehmen übernommen werden. Während des Irakkrieges wurden von der amerikanischen Armee tagtäglich nicht weniger als 57 Millionen Liter Treibstoff verbraucht. 2 Tonnen Nahrungsmittel waren jeden Tag nötig, um die Bedürfnisse einer Division von 20 000 Soldat*innen zu befriedigen. Der Krieg wird zunehmend zu einer Angelegenheit von Fachleuten, und immer mehr Frauen arbeiten in der Armee (mit Ausnahme der Kampfeinheiten). Das Kriegerethos musste sich, so gut es ging, diesen Veränderungen anpassen. Die restriktiven Einsatzregeln bei UNO-Friedensmissionen und das Ohnmachtsgefühl angesichts der Gräueltaten, denen die Blauhelmsoldat*innen manchmal tatenlos zuschauen müssen, haben bei einer beträchtlichen Zahl von ihnen psychische Probleme hervorgerufen. Beim Massaker von Srebrenica vom 11. bis 16. Juli 1995 in Bosnien wurden mehr als 8000 bosnische Muslime von der Armee der Republika Srpska unter dem Befehl General Ratko Mladićs niedergemetzelt, ohne dass die zum Schutz der »Sicherheitszone« anwesenden niederländischen Blauhelme auch nur einen einzigen Schuss abgefeuert hätten.

Die Veränderung der Konfliktformen ist von einer Dissoziation der Einstellungen zur Gewalt begleitet: Auf der einen Seite gibt es die Länder des Westens, die sich auf Technologie stützen, um ihre Überlegenheit zu beweisen, indem sie den Bodenkampf für ihre eigenen Soldat*innen so weit wie möglich vermeiden (das ist der Sinn der berühmten »Ohne Tote«-Doktrin), und um einen »postheroischen Krieg«17, wie Edward Luttwak ihn genannt hat, zu führen; auf der anderen Seite stehen bewaffnete Gruppen, die dem Leben ihrer Kombattant*innen keine große Bedeutung zumessen und die die territorialen Ziele (die militärische Eroberung eines Nachbarlands) ideologischen Zielen (die ethnische oder religiöse Säuberung eines Gebiets) unterordnen. Die Möglichkeit, einen Krieg zu führen, ohne Bodentruppen einzusetzen, hat in den Worten Michael Walzers »eine neue und gefährliche Ungleichheit«18 hervorgebracht. Dieses Auseinanderklaffen kollektiver Einstellungen zur Gewalt, das sich seit dem Golfkrieg, dem Irakkrieg und dem Aufschwung des internationalen Terrorismus verstärkt hat, darf nicht zu dem Irrtum verleiten, es mit zwei radikal getrennten Welten oder gar einem Zusammenprall der Zivilisationen zu tun zu haben. Abgesehen davon, dass die ersten Opfer der Dschihadisten häufig diejenigen sind, die sie gegen den Einfluss der westlichen Welt zu beschützen vorgeben, gibt es noch zahlreiche Indizien einer Globalisierung des Krieges: weltweite Verbreitung von Waffen (wie die AK-47), Finanzierung der Guerillas durch staatliche Gelder und Schmuggel, Bewegungen der Söldner*innen zwischen den Kontinenten, Benutzung moderner Kommunikationssysteme durch bewaffnete Gruppen zur Terrorisierung der westlichen Öffentlichkeit …