Eine Geschichte des Krieges

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Jean-Vincent Holeindre
Den Krieg denken

Ein symmetrischer und konventioneller Konflikt zwischen Staaten ist das traditionelle Modell des Krieges. Durch Einbeziehung der Bevölkerung, Guerillas und massive Verbesserung der Militärtechnologie bis hin zur Atombombe befindet es sich seit dem 19. Jahrhundert in der Krise.

Von Krieg sprechen hat immer eine politische Dimension. Als die Präsidenten Bush und Hollande die Terroranschläge, die 2001 bzw. 2015 ihre Länder trafen, als »Krieg« bezeichneten, unterstrichen sie damit vor allem die Schwere und den besonderen Charakter der auf nationalem Boden ausgeführten Angriffe. Zugleich gaben sie damit aber auch eine entschlossene politische Antwort vor, die dem Schock, den die Taten ausgelöst hatten, entsprechen sollte. Und was wäre in den Augen der eigenen Bürger*innen und der restlichen Welt entschlossener als die militärische Antwort? Wenngleich al-Qaida und der Islamische Staat in den Anfängen dieser neuen Art von Krieg als »Feinde« bezeichnet wurden, erscheinen sie im politischen Diskurs doch als »kriminelle«, zu »barbarischen« Taten fähige Organisationen. Die Gleichsetzung des Dschihadismus mit Kriminalität soll ihm jegliche Legitimität nehmen, während das Register des »Krieges« erlaubt, gerade zu einem Zeitpunkt, da die Sicherheit der Bürger*innen infrage gestellt ist, die Integrität und Souveränität des Staates zu bekräftigen.

In anderen Fällen hingegen fungiert der Krieg für die Politik als negatives Gegenbild. So kann sich die Staatsgewalt dagegen verweigern, Konflikte, die die Geschichtsschreibung später als »Kriege« anerkennt, als solche zu benennen. Das war der Fall im Koreakrieg (1950–1953), im Algerienkrieg (1954–1962) und auch im zweiten Tschetschenienkrieg (1999–2009), die von den amerikanischen bzw. französischen oder russischen Behörden als »Polizeioperationen«, »Ereignisse« oder »Terrorbekämpfungsoperationen« bezeichnet wurden. Im Fall des Koreakrieges wollte Präsident Truman kenntlich machen, dass es sich um eine von den Vereinten Nationen veranlasste Operation und nicht um einen von den Vereinigten Staaten verfügten Krieg handelte. In Algerien ging es Frankreich darum, die Ausmaße eines Konflikts herunterzuspielen, der die Souveränität des Staates auf einem von ihm kolonisierten Territorium infrage stellte. Russland wiederum betrachtete die Tschetschen*innen als »Terroristen«, die die russische Ordnung destabilisieren wollten, und nicht als »legitime« Feinde an der Spitze eines potenziell souveränen Staates. Von Krieg zu sprechen hätte bedeutet, die Abspaltung Tschetscheniens anzuerkennen und die Unabhängigkeitsforderung ernst zu nehmen; das wäre zugleich darauf hinausgelaufen, den Feind als vollwertigen politischen Akteur anzusehen. Daher wurde das Register Kriminalität dem Register Krieg vorgezogen.

Diese Debatten darüber, ob von Krieg zu sprechen ist, verweisen allgemeiner darauf, dass das politische und militärische Denken insbesondere in den Ländern des Westens um ein Modell des zwischenstaatlichen Krieges herum strukturiert ist, der wiederum mit der Idee der Souveränität verbunden ist. Nach dem Ausspruch des amerikanischen Soziologen Charles Tilly ist es der Staat, der Krieg führt, und der Krieg, der zum Staat führt: Diese Idee prägt Theorie und Geschichtsschreibung in einem Maße, dass es auf einer analytischen Ebene schwierig geworden ist, den Krieg anders zu denken als in der Form eines Konflikts zwischen Nationalstaaten mit »regulären« Armeen. Ist das Völkerrecht nicht ein Recht der Staaten, das nichtstaatlichen Akteuren die Legitimität aberkennt? Die Jurist*innen haben sich seit 1945 übrigens von dem Begriff »Krieg« abgewandt und stattdessen den Ausdruck »bewaffneter Konflikt« bevorzugt – ein Zeichen dafür, dass eine Diskrepanz zwischen Tatsachen und Normen besteht, genauso wie es auch eine Kluft gibt zwischen dem zwischenstaatlichen, »westfälischen« Rahmen der modernen internationalen Beziehungen und den diffusen Formen bewaffneter Auseinandersetzungen, zu denen es während der Dekolonisation und dann im Kontext der Globalisierung kam. Keinem Beobachter würde es in den Sinn kommen, von einem Verschwinden des Krieges nach 1945 zu sprechen, doch über den Begriff selbst hat es nie so wenig Übereinstimmung gegeben: Aus der Rechtslehre verschwunden und zwischen Akteur*innen, Zeug*innen und Beobachter*innen umstritten, wird er noch in strategischer Weise, und oft auch willkürlich, von der Politik verwendet.

Sich dem Krieg auf einer analytischen Ebene zu nähern ist somit höchst problematisch geworden, weil das Modell zwischenstaatlicher Auseinandersetzungen der Sache nach und juristisch infrage steht, ohne dass das internationale System auf politischer und rechtlicher Ebene angepasst worden wäre. Seit 1945 sind die zwischenstaatlichen Formen des Krieges zurückgegangen und haben der Logik der nuklearen Abschreckung und den »neuen Konflikten« Platz gemacht, die etwas hilflos als »irregulär«, »asymmetrisch« oder auch »nichtkonventionell« bezeichnet werden. Die Verwendung dieser Attribute ex negativo zeigt an, dass durchaus ein Modell des regulären, symmetrischen und konventionellen Krieges existiert, das mit dem politischen und normativen Rahmen der nationalen und staatlichen Souveränität korrespondiert. In diesem Rahmen konnte der Begriff des Krieges in der Moderne eine exakte Bedeutung erhalten und auf politischer und rechtlicher Ebene formalisiert werden. Doch heute befindet er sich in der Krise: Das Kriegsphänomen überschreitet die Institution des Staates, auf die man es festschreiben wollte. Genau das hat bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts der preußische Offizier und Theoretiker Carl von Clausewitz (1780–1831) in seinem Werk Vom Kriege offengelegt.

Clausewitz’ Vermächtnis

Clausewitz wird oft fälschlicherweise nur im Zusammenhang der zwischenstaatlichen Kriege in Europa gesehen. Gelegentlich wird er auch zum Propheten der großen, weltweiten Konflikte des 20. Jahrhunderts gemacht. Doch der preußische Stratege hatte eine umfassendere Perspektive, als die kritischsten seiner Interpreten meinen: Seine Analyse des Phänomens Krieg beruht auf der Unterscheidung von drei grundlegenden Elementen, die unabhängig von der Form der Auseinandersetzung und der betreffenden Kultur Gültigkeit besitzen.

Zunächst ist der Krieg ein »erweiterter Zweikampf«1, in dem sich zwei Parteien gegenseitig auf militärischer und strategischer Ebene als Gegner anerkennen. Aus dieser Perspektive ist jeder Krieg zunächst ein Kampf, in dem sich auf taktischer Ebene »Willen« und auf strategischer Ebene Intelligenzen gegeneinanderstellen.

Zweitens bildet der Krieg ein militärisches Mittel, das die politische Befehlsgewalt einsetzt, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen (auf einen Angriff reagieren, ein Gebiet erobern etc.); in diesem Sinne ist er die »Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln«2. Während die »Grammatik« des Krieges militärisch ist, ist seine »Logik« ihrer Natur nach politisch: Der Krieg findet immer ein Ende, wenn die zuvor definierten Ziele erreicht wurden – diese Ziele müssen allerdings laut Clausewitz von der Politik klar benannt werden, was nicht immer der Fall ist.

Drittens ist der Krieg »ein wahres Chamäleon, weil er in jedem konkreten Falle seine Natur etwas ändert«3. Wenngleich sich Clausewitz bemüht, die Natur des Krieges zu definieren und eine allgemeine Theorie zu entwickeln, sagt er zugleich, dass jeder Konflikt ein Spiegel der kriegführenden Gesellschaften ist. Dadurch ist der Krieg nicht einfach ein militärisches und politisches Phänomen; er ist auch ein gesellschaftlicher Tatbestand, der von der Natur, den Sitten, dem Zeitgeist, dem technischen Fortschritt, der Bündnissituation, kurz vom Zustand der gesellschaftlichen Kräfte abhängt.

In Bezug auf diesen letzten Punkt verdient die von John Keegan vorgetragene scharfe Kritik an Clausewitz eine neuerliche Betrachtung. Der britische Historiker wirft in seinem Buch Die Kultur des Krieges dem preußischen Strategen vor, den Krieg auf seine politische Dimension reduziert zu haben. Für Keegan und die Anhänger*innen der Kulturgeschichte ist der Krieg jedoch in erster Linie ein kulturelles Faktum, das die Gesellschaft schon vor allen politischen Beschlüssen prägt. Allerdings legt Clausewitz, wie wir gerade gesehen haben, nicht eine, sondern drei Definitionen des Krieges vor, die sich überschneiden und ergänzen: Die militärische Definition richtet das Augenmerk auf die Sphäre des Kampfes; die politische Definition bezieht den Krieg auf die Belange der Macht; die »gesellschaftliche« oder anthropologische Definition schließlich legt den Schwerpunkt auf die Situiertheit jedes Krieges und unterstreicht, dass es eine Vielfalt an Praktiken und »Kriegskulturen« gibt. Diese Definitionen korrespondieren mit der »wunderlichen Dreifaltigkeit«4 des Krieges, wie Clausewitz es nennt, in der drei verschiedene Ebenen in der Analyse zusammenkommen: Das Militärische stößt eine taktische und strategische Dynamik an; das Politische beschließt die Mobilisierung der Streitkräfte; das »Volk« bestimmt die sozialen, ökonomischen und kulturellen Formen der Auseinandersetzung.

Clausewitz’ Perspektive ist in dem spezifischen Kontext der Revolution und des französischen Kaiserreichs (1792–1815) zu sehen, in dem das Volk eine wichtige, wenn nicht zentrale Stellung einnahm. In der Auseinandersetzung standen sich nicht mehr nur die »Könige« und die »Armeen« auf politischer und militärischer Ebene gegenüber; »sondern ein Volk [bekriegt] das andere und im Volke sind König und Heer enthalten«5. In der Französischen Revolution bildete mit der von den Republikanern beschlossenen Massenaushebung das Volk die Triebfeder der nationalen Mobilisierung, die es den Revolutionstruppen ermöglichte, von 1792 an den europäischen Monarchien die Stirn zu bieten. Doch es konnte auch der Motor des Aufstands gegen den Staat sein: Bei der spanischen »Guerilla« (1808–1814) mobilisierten sich die Bürger gegen die napoleonischen Truppen.

 

In Europa ist es somit die Beteiligung des Volks, worin sich die Kriege des Ancien Régime mit der Militäraristokratie als strukturierendem Zentrum von den nach der Französischen Revolution geführten Kriegen unterschieden, die die nationalen Leidenschaften schürten und in denen die gesellschaftlichen Kräfte das Herz der Armee bildeten. Alle Gesellschaftsschichten waren von nun an aufgerufen, sich, von gemeinsamem nationalem Elan getragen, direkt oder indirekt an der Kriegsanstrengung zu beteiligen. Die Aristokratenehre verschwand nicht hinter dem patriotischen Gefühl; vielmehr gab das Volk der vom aristokratischen Ancien Régime ererbten Ehre durch das patriotische Gefühl eine andere Färbung.

Clausewitz erklärt vermittels dieses besonderen Falls, dass der Krieg im Rahmen der Völker durch Anwendung bewaffneter Gewalt zu politischen Zwecken charakterisiert ist. Sein Denken lässt sich dabei nicht auf ein Sakrosanktwerden des Staates und den Primat des Politischen reduzieren. Denn zugleich betont er die intrinsisch politische Natur des Krieges, durch die sich politische Gemeinschaften und »Willen« gegeneinanderstellen, sowie die Vielfalt der sozialen und kulturellen Formen, seien sie zwischenstaatlich oder bürgerkriegsartig, groß oder klein, defensiv oder offensiv.

Rollenaufteilung zwischen »großem« und »kleinem Krieg«

Der »große Krieg«, bei dem reguläre Truppen aufeinanderprallen, steht im Zentrum von Clausewitz’ Abhandlung. Doch der preußische Stratege hat auch »Vorlesungen über den kleinen Krieg« gehalten, der Gegenstand eines anderen Abschnitts seines Werkes hätte werden müssen, wenn er nicht vorzeitig am 16. November 1831 in Breslau der Cholera erlegen wäre.

Der von »Partisanen« geführte »kleine Krieg« oder auch »Parteigängerkrieg«, ab dem 18. Jahrhundert theoretisch diskutiert, bildete anfangs eine komplementäre Taktik zum »großen Krieg«: Er bezeichnet militärische Operationen leichter Kavallerie- oder Infanterietrupps, die von der regulären Armee abgetrennt und in kleinen Einheiten organisiert werden, um Aufklärungseinsätze, Überraschungsangriffe, Hinterhalte unterstützend oder in Vorbereitung »großer« Schlachten durchzuführen, in denen reguläre Truppen gegeneinander antreten. Nach dem Vorbild der Peltasten der griechischen Antike, die in wechselvollem oder unwegsamem Gelände operierten, wo die Hopliten nur geringe Wirksamkeit entfalteten, agieren die »Partisanen« parallel zu den Soldaten der regulären Armee.

Begünstigt durch die Dynamiken, die sich im 19. Jahrhundert in Aufständen entwickelten, entkoppelte sich der kleine vom großen Krieg und wurde zu einer ganz eigenständigen, das Volk involvierenden Form der Auseinandersetzung. Dass wir von »Guerilla«, »Aufstand« oder »irregulärem Krieg« sprechen, liegt daran, dass sich diese Konfliktform im Schatten der »konventionellen« Auseinandersetzungen etabliert hat. Da sie auf psychologischem Vorgehen, Störung und Zermürbung basiert, findet sie meist Anwendung auf der »schwachen« Seite und kompensiert das Fehlen oder die Unterlegenheit der konventionellen Streitkräfte in diesem Bereich. Die zugleich militärische und politische Asymmetrie zwischen einer »starken« und einer »schwachen« Seite ist aus dieser Perspektive eine entscheidende Gegebenheit der zeitgenössischen Konflikte. Der Schwache versucht, seinen Gegner zu destabilisieren, da er ihn militärisch nicht besiegen kann, während der Starke bestrebt ist, sich an die Art von Krieg anzupassen, die ihm der Schwache aufzwingt, sei es, dass dieser einen »Aufstand« im Inneren betreibt oder ein äußerer »Feind« ist oder beides zugleich. Das führt zur Entwicklung von Methoden der »Aufstandsbekämpfung«, zum Beispiel bei dem Kalabrien-Feldzug der napoleonischen Truppen von 1806–1807, die ein regelrechtes Laboratorium für die zeitgenössischen Formen des Krieges darstellten.

Die kleinen Kriege florierten im 19. Jahrhundert im Fahrwasser der Napoleonischen Kriege, aber auch der Kolonialeroberungen: Die Auseinandersetzung zwischen den Briten und den Maoris zwischen 1845 und 1872 (auf Englisch New Zealand Land Wars oder Maori Wars) veranschaulicht das gut. Wenn die Briten diesen Konflikt auch für sich entschieden, so fügten ihnen die Maoris doch mehrere bittere Niederlagen zu, die mit deren Kenntnis des Terrains und dem Einsatz des kleinen Krieges zusammenhingen.

Ein gutes Zeugnis dieser kolonialen Formen des Krieges liefert der britische Offizier Charles E. Callwell in Small Wars. Their Principles and Practice, das in erster Auflage 1896 erschien. Der Autor erarbeitete anhand von Beispielen aus den britischen, französischen und russischen Kolonialkriegen ein Anti-Guerilla-Kompendium, das konkreten Nutzen für den »imperialen Soldaten« haben sollte, der sich Angriffen durch lokale Truppen ausgesetzt sah, die ihre materielle und technologische Unterlegenheit mit genauer Kenntnis des Terrains und mit List kompensierten. Für Callwell umfasst der Begriff »kleiner Krieg« daher »alle Kampagnen, bei denen sich nicht von beiden Seiten reguläre Truppen gegenüberstehen«6.

Die Komplementarität zwischen großem und kleinem Krieg bleibt so erhalten, doch tatsächlich kommt es zu einer Rollenteilung: Der noble, reguläre und normierte große Krieg blieb allein den innerwestlichen Auseinandersetzungen vorbehalten, während der kleine Krieg oft das Los der Kolonialeroberungen war, die in Gegenden außerhalb des Westens gegen »wilde«, »unzivilisierte« Feinde stattfanden. Die Techniken zur Aufstandsbekämpfung entzogen sich also dem Modell und damit den Normen des zwischenstaatlichen Krieges. Dadurch eigneten sich die Kolonialmächte durch Anpassung an den strategischen Kontext im Moment der Eroberung und erneut bei der Dekolonisation, als sie im Laufe des 20. Jahrhunderts ihre Kolonialreiche aufgeben mussten, das »rustikale« Wissen ihrer Feinde an. Die Strategie des kleinen Krieges der Kolonialisierten bestand darin, einerseits aufständische Aktionen durchzuführen und andererseits die Weltöffentlichkeit zur Zeugin anzurufen, wobei sie von der diplomatischen Arena profitierten, die die junge UNO zur Verteidigung ihres Anliegens der Unabhängigkeit und »nationalen Befreiung« bot.

Im 20. Jahrhundert kam es zu zahlreichen kleinen Kriegen im Kontext revolutionärer und antikolonialer Kämpfe, die mit Figuren wie Lenin, Trotzki, Mao und später Giáp und Ernesto »Che« Guevara verbunden sind. Ihre aufmerksame Lektüre Clausewitz’ hängt mit einer Faszination für die Beziehungen zwischen Krieg, Gesellschaft und Politik zusammen, die der preußische Denker herstellt. Der bewaffnete Kampf bildet im revolutionären Denken ein wesentliches Element in der Übernahme und dann auch Ausübung der Macht. In dieser Perspektive fügen sich die Methoden des kleinen Krieges zur revolutionären Aktion, die inmitten der Bevölkerung stattfindet und auf die Moral sowie die Psychologie der Akteur*innen einwirkt. Mao ist zweifellos der Autor, und auch Akteur, der mit seiner Auffassung, der Partisan solle sich im Volk bewegen wie »ein Fisch im Wasser«, diesen Gedanken in seinen Schriften am weitesten getrieben hat. Kleinem Krieg und revolutionärer Aktion ist die Idee gemeinsam, dass es in den Ursprüngen jeder Aufstandsbewegung ein asymmetrisches Machtverhältnis zwischen Herrschenden und Beherrschten gibt. Legitime Revolutionär*innen bedienen sich bestimmter militärischer Techniken, um einem Staat zu trotzen, der per Definition über Zwangsmittel verfügt, die den Aufständischen fehlen. Im Allgemeinen lassen sich die Revolutionär*innen von einem strategischen Denken leiten, das mit der politischen Aktion verschmilzt: Unter der Voraussetzung, dass es keine klare Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden gibt, bildet die materielle und psychologische Macht ein Mittel, um eine permanente Spannung und Mobilisierung hervorzubringen, die dem Aufbau und der Konsolidierung des revolutionären Projekts förderlich sind. Zur Zeit des Kalten Krieges entwickelten die Sowjets daher die Doktrin der »Kräftekorrelation«, die die Logik des Krieges auf die Gesamtheit der politischen, ökonomischen und sozialen Prozesse ausdehnt, wie ihre Konzeption der Industriespionage bezeugt. Die militärische Auseinandersetzung bildet nur einen Aspekt eines größeren »Krieges«, während dem Politischen die Funktion zukommt, das strategische Feld in seiner Gesamtheit abzudecken.

Heute werden die Mittel des kleinen Krieges von terroristischen Gruppen wie al-Qaida oder dem Islamischen Staat eingesetzt und aktualisiert, um die konventionelle Schlacht zu vermeiden und um die Demokratien moralisch zu destabilisieren. Die Kraftprobe findet sowohl in Raqqa als auch in den Zentren der Weltstädte statt, dabei bildet das Selbstmordattentat die radikalste Version dieser Art von Gewaltakten. Um diese Bedrohungen zu bekämpfen, entdecken die Staaten, insbesondere die Westmächte, das Wissen über Aufstandsbekämpfung wieder, das zur Zeit der Kolonialeroberungen und später während der Dekolonisationskriege erarbeitet wurde. So ließen sich die Vereinigten Staaten unter General Petraeus von den Arbeiten des französischen Offiziers David Galula inspirieren, der im Algerienkrieg gekämpft hatte.7

»Große Strategie« für einen begrenzten Krieg

Kleine und große Kriege haben sich also gemeinsam entwickelt, doch Letztere sind es, die die aktuellen strategischen Doktrinen und politischen Diskurse im Westen strukturieren. Der Erste Weltkrieg, der die Matrix für die Konflikte des 20. Jahrhunderts bildete, ist aus dieser Perspektive der größte der Kriege. Er läutete das Ende der Doktrinen des begrenzten Krieges ein, die aus dem westfälischen System hervorgegangen waren, welches zu diesem Zeitpunkt bereits durch die Kriege der Revolutions- und Kaiserzeit sowie später durch den Krimkrieg (1853–1856) und den Amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865) brüchig geworden war. Er nahm in Europa seinen Ausgang, weitete sich aber über die Kolonialreiche und durch Kriegseintritt der Vereinigten Staaten 1917 zunehmend auf den Rest der Welt aus. Er markiert gemeinhin den Eintritt ins 20. Jahrhundert und den Beginn des Zeitalters der »totalen« Kriege.

Dieser Begriff des »totalen Krieges«, der zum ersten Mal 1918 von Léon Daudet verwendet und 1935 von General Ludendorff wieder aufgegriffen wurde, ist durchaus umstritten, erfasst aber eine bestimmte Wirklichkeit auf politischer, strategischer und normativer Ebene: Zunächst einmal drückt er den Willen zur Vernichtung des Feindes aus, was die Beseitigung der moralischen, rechtlichen und politischen Beschränkungen der Waffengewalt unterstellt; des Weiteren impliziert er die »totale Mobilisierung« der Gesellschaft, die Einheit von »Front« und »Heimatfront« und damit die Militarisierung der Gesellschaft; schließlich setzt er eine beispiellose Feuerkraft voraus, die durch den technischen Fortschritt ermöglicht wurde.

In diesem Zusammenhang kam der britische Denker Basil Liddell Hart (1895–1970) zu der Einschätzung, dass sich das strategische Denken nach Clausewitz im Dogma des Zusammenstoßes von Armeen und der Entscheidungsschlacht verirrte. Mit seiner Theorie des »indirekten Ansatzes«, die das Wissen des Strategen für die Ära der Massenschlachten rehabilitierte, sah er es als möglich an, Krieg zu führen, ohne sinnlos Zehntausende Menschenleben auf dem Schlachtfeld zu opfern: Statt den Zusammenstoß zu provozieren, müssten im Vorfeld die nichtmilitärischen Mittel zum Einsatz gebracht werden, also Blockaden oder Machtdemonstrationen, um den Gegner zu schwächen oder ihn sogar davon abzubringen, sich auf die Schlacht einzulassen.

Mit der Rehabilitierung der Idee des begrenzten Krieges verteidigte Liddell Hart auch die Idee der »großen Strategie«, da er zu der Einschätzung gelangte, dass der Krieg nicht allein auf dem Schlachtfeld gewonnen wird, sondern in der strategischen Planung und psychologischen Kriegführung, in die sich das Manöver einfügt. Während er Clausewitz, den er als »Mahdi der Massen« bezeichnet, schematisch abqualifiziert, äußert er sich lobend über den Chinesen Sunzi, zu dessen Kunst des Krieges er das Vorwort für die englische Ausgabe beigesteuert hat. Für Liddell Hart hätten die Strategen des Ersten Weltkrieges den Grundsätzen des chinesischen Denkers folgen sollen, für den »die Kriegführung […] dem Prinzip der Täuschung [gehorcht]«8, statt Clausewitz’ Lehren zu folgen, die sich um die Konzentration der Kräfte und die Suche nach dem Schwerpunkt des Gegners in der Schlacht drehen. Fragwürdige Interpretationen dieser Prinzipien haben ihren schädlichen Teil zur Entstehung des totalen Krieges beigetragen. Nach Liddell Harts Vorstellung ist der Krieg nicht ausschließlich dem Imperativ von Effizienz und Sieg unterworfen; er muss auch legitim sein. Für ihn geht es darum, den Kampf wieder ökonomisch zu gestalten, den Gegner zur Aufgabe zu drängen und zur Unterzeichnung eines dauerhaften Friedensabkommens zu bewegen. Der wahrhafte militärische Sieg hat nur Bedeutung, wenn der Frieden mit dem Gegner möglich ist.

 

Dennoch sollte der Gegensatz zwischen einer von Sunzi ererbten »orientalischen« Strategietradition, die die List und die nichtmilitärischen Formen der Auseinandersetzung in den Vordergrund stellt, und einer »Clausewitz’schen« Militärkultur, die rohe Gewalt und Angriffsdoktrinen aufwertete, nuancierter gesehen werden. Ihre Entgegensetzung gibt nur einer Form von »militärischem Orientalismus« Nahrung. Sicher verlegte Clausewitz die List auf die taktische Ebene, während Sunzi sie zu einer wesentlichen strategischen Waffe machte, doch dieser Unterschied beruht mehr auf theoretischen und politischen Entscheidungen als auf kulturellen Elementen. Sunzis China war auch nicht in höherem Maße eine Zivilisation der List, als Clausewitz’ Europa eine Zivilisation der Gewalt war, denn in Wahrheit bilden List und Gewalt zwei wesentliche Elemente einer strategischen Grammatik, die allen Kulturen gemein ist. Diese Mittel können je nach Kampfform und strategischer Konfiguration in Gegensatz zueinander stehen oder kombiniert werden.

Liddell Hart überbetont den Gegensatz zwischen Sunzi und Clausewitz ein wenig, doch er steht Ersterem näher, insofern er ebenfalls nach den Mitteln fragt, mit denen der Krieg gewonnen werden kann, indem man »sich die Truppen des Gegners ohne Kampf unterwirft«9. Seine Problemstellung ist zugleich strategisch und normativ: Wie können Kriege gewonnen werden, ohne das »Schlachten« des Ersten Weltkrieges zu wiederholen? Der britische Denker gelangt zu einer Antwort, die von Clausewitz’ Antwort gar nicht weit entfernt liegt, nämlich in der Ablehnung einer rein militärischen Betrachtungsweise des Krieges zugunsten einer »großen Strategie«, die die politischen, ökonomischen und psychologischen Parameter mit einbezieht. Das Prinzip der »Dislokation« wird der Zerstörung vorgezogen, welche den Ansporn für die Angriffsstrategien im Krieg von 1914–1918 gab. Der Sieg wird nicht durch Zermürbung mittels Bombardements und wiederholten Angriffen erlangt, sondern indem der Gegner mit Panzertruppen überrannt wird.

Neben John F. C. Fuller (1878–1966) war Liddell Hart einer der großen Verteidiger der Mechanisierung des Krieges. In diesem Punkt folgte ihm übrigens Charles de Gaulle, der diese Optionen unterstützte, bevor Frankreich den Blitzkrieg und die Niederlage von 1940 erlitt. Für diese Autoren war der Panzerkrieg ein Mittel, um einen schnellen Sieg ohne lang anhaltende Kampfhandlungen und ohne hohe Kosten an Material und Menschenleben zu erringen. Die Wirkung auf den Gegner beruht folglich auf einem Spiel mit den Wahrnehmungen, wie auch Sunzi und Machiavelli betonen: Das Ziel ist es, den Gegner davon zu überzeugen, dass er in der Falle sitzt, um ihn psychologisch auf die Niederlage einzustimmen und dazu zu bringen, die Waffen zu strecken.

Die Militärgeschichte, wie Liddell Hart sie darstellt, löst noch heute Vorbehalte und Kontroversen aus. Doch sein Einfluss ist größer und nachhaltiger, als die strategischen Doktrinen vermuten lassen. Mit Clausewitz in der Überzeugung einig, dass das militärische Mittel in seinen politischen und sozialen Kontext gestellt werden muss, war er einer der ersten Denker des 20. Jahrhunderts, die die Ausweitung des Krieges und der Strategie auf größere Bereiche ernst nahmen – eine Verschiebung, die sich dann im Kalten Krieg bestätigt hat.