Eine Geschichte des Krieges

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»Unmöglicher Friede – unwahrscheinlicher Krieg«

Mit der Erfindung der Atombombe, die zum ersten und einzigen Mal 1945 von den Vereinigten Staaten in Hiroshima und Nagasaki eingesetzt wurde, treten deutlich die Verantwortlichkeit, die dem Politischen im militärischen Bereich zufällt, sowie die soziale Tragweite der technologischen Rüstungsinnovation hervor.

Zugleich markiert sie einen Bruch in der Geschichte des strategischen Denkens. Die Anfänge der Strategischen Studien im heutigen Sinne reichen zu den großen Denkern der Nuklearstrategie wie Thomas Schelling, Albert Wohlstetter und Bernard Brodie zurück. Letzterer veröffentlichte 1946 ein Werk mit dem vielsagenden Titel The Absolute Weapon. Die Atombombe ist »absolut« in dem Sinne, dass sie ihrem Besitzer den Heiligen Gral jedes Kriegsherrn verschafft, nämlich Unbesiegbarkeit beziehungsweise Siegesgewissheit. Wer über nukleare Bewaffnung verfügt, dem ist ein umfassender und schneller Sieg sicher, wenn er davon Gebrauch macht. Die Atombombe bestätigt auch eine Grundtendenz der beiden Weltkriege, den massiven Einsatz von Technologie, der neben der ideologischen Mobilisierung der Gesellschaft zur Logik des totalen Krieges dazugehört.

Dennoch stand bis zu den beiden Weltkriegen der Kampf im Mittelpunkt der Strategiebildung. Die Schlacht galt, wie Liddell Hart scharf kritisierte, als Höhepunkt des Krieges. Die Atomwaffe gab ihm in gewisser Weise recht: Durch sie wurde die Schlacht zwecklos, weil die Schlagkraft der Bombe ausreichte, das Ziel zu beseitigen. Der Einsatz der Atombombe in Hiroshima und Nagasaki war von keinem Zusammenstoß der Armeen begleitet, sondern erlaubte die Zertrümmerung des Gegners aus der Distanz, von einem Flugzeug aus. Damit beendeten und überwanden die nuklearen Bombardements das Paradigma der Entscheidungsschlacht: Durch den Einsatz der Bombe gegen Japan erreichten die Vereinigten Staaten die Wirkung einer Entscheidungsschlacht, ohne das damit verbundene Risiko eingehen zu müssen. Die Atombombe ermöglichte folglich, was Clausewitz für illusorisch gehalten hatte: den Sieg über den Gegner ohne massiven Truppeneinsatz.

Hiroshima und Nagasaki waren zugleich der Auftakt für den Kalten Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und der UdSSR, da der Rüstungswettlauf eine treibende Kraft in der Auseinandersetzung zwischen den Supermächten bildete. Der Kalte Krieg wurde als Krieg beschrieben, führte aber nicht zu einer direkten Konfrontation der beiden kriegführenden Parteien. Wie bereits Hobbes klarstellte, ist der Krieg nicht in erster Linie durch den Kampf oder die Schlacht charakterisiert, sondern durch die feindliche Absicht, also den anhaltenden Willen, einander zu bekämpfen. Zwischen den beiden Supermächten waren diese Bedingungen erfüllt: Die Abwesenheit von Kampfhandlungen darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass beide Parteien siegen und ihren Willen durchsetzen wollten. Doch die militärischen Auseinandersetzungen nahmen die Form von »peripheren« Konflikten wie dem Koreakrieg oder die von »Stellvertreterkriegen« wie beispielsweise in Nicaragua an. Wenn der Krieg an verschiedenen, über den Erdball verteilten Orten geführt wird, wird über die nukleare Bedrohung der ganze Planet zum erweiterten Schauplatz der Operationen. Die Atombombe lässt eine neue Bedrohung aufkommen, die bis dahin durch die konventionellen Kriege, ihrer ganzen mörderischen Wirkung zum Trotz, nicht gegeben war: die Vernichtung der gesamten oder eines Teils der Menschheit. Ideologisch waren die beiden »Großen« Gegner in einer neuen bipolaren Welt, doch zugleich teilten sie eine gemeinsame Verantwortung für den Schutz der von Auslöschung bedrohten Menschheit.

Diese paradoxe Situation bestimmte in der Zeit des Kalten Krieges das Nachdenken über den Krieg, welches Raymond Aron in seiner Formulierung »unmöglicher Friede – unwahrscheinlicher Krieg« zusammenfasst10. Der Friede war unmöglich, weil sich die beiden Weltanschauungen, die amerikanische und die sowjetische, widersprachen, aber zugleich war der Atomkrieg unwahrscheinlich, weil er zu viel Kollateralschaden mit sich gebracht hätte. Der Kalte Krieg brachte in der Konsequenz eine Strategie der »Nicht-Schlacht« hervor, wie Guy Brossollet es formuliert hat, bei der es darum geht, sich für die Konfrontation zu rüsten, gerade um die Mittel zu ihrer Vermeidung in die Hand zu bekommen. Man droht mit Zerstörung, um den Gegner vom Angreifen abzuschrecken und »das Gleichgewicht des Schreckens« aufrechtzuerhalten. Der Kalte Krieg stellte ein Kräfteverhältnis her, das durch die Ideologie unter noch größere Spannung gesetzt war; zugleich machte er eine minimale Zusammenarbeit notwendig. Die nukleare Abschreckung zielte darauf, die Selbstzerstörung abzuwenden und das Leben zu erhalten, ohne jedoch das Ziel, den Gegner zu besiegen, aufzugeben. In diesem drohenden und doch unmöglichen Krieg spielte die Figur des Spions eine zentrale Rolle: Der Einsatz der Geheimdienste ermöglichte, strategische Vorteile zu erlangen und gleichzeitig die zur Anwendung des Abschreckungsprinzips notwendigen Informationen zu sichern. Der Kalte Krieg verschob im Verhältnis zu den vorangegangenen globalen Konflikten den strategischen Schwerpunkt von der Taktik zur Politik, vom Physischen zum Psychologischen, von der Schlacht zur Abschreckung, vom militärischen Kampf zum sicherheitsrelevanten Einsatz der Nachrichtendienste.

Was die Menschen daraus machen

Die nach Ende des Kalten Krieges und dem Verschwinden des bipolaren internationalen Systems begonnene Diskussion über die Veränderungen der Konfliktsituation muss im Lichte des historischen Verlaufs, den das zeitgenössische Nachdenken über den Krieg genommen hat, neu bedacht werden.

Die Theoretiker*innen der »neuen Kriege« kommen zu der Einschätzung, dass Clausewitz sein Pulver verschossen hat, dass der Krieg heute entstaatlicht ist, was transnationale Akteure miteinschließt, die eine Form von deregulierter, nicht spezifisch militärischer Gewalt ausüben. Damit übersehen sie, dass Clausewitz selbst dieses Szenario, das er »Volksbewaffnung« nannte, berücksichtigt hat: Seit der Französischen Revolution hat der Krieg den engeren Umkreis des Staates verlassen, um »Herz und Verstand« der Zivilbevölkerungen zu gewinnen, welche in allen Bereichen des menschlichen Handelns, den Krieg eingeschlossen, nach Autonomie streben. In dieser Hinsicht fügt sich die Ausweitung des strategischen Spektrums in eine starke Tendenz der Moderne zur Trennung von Staat und Gesellschaft unter gleichzeitiger Verknüpfung beider. Der dschihadistische Terrorismus kann somit als Wandlungsform der »Volksbewaffnung« verstanden werden, nur mit dem Unterschied, dass seit Clausewitz’ Zeit die Einstiegskosten für bewaffnete Gewalt aufgrund technologischen Fortschritts und neuer Informations- und Kommunikationsmittel drastisch gesunken sind.

Schließlich führt das aktuell verbreitete Modell des hybriden Krieges zu einer Neukonfigurierung der Grundunterscheidung zwischen kleinem und großem Krieg. Es beruht auf der Verknüpfung konventioneller Mittel und psychologischer Kriegführung, um das militärische Handeln einer Bedrohung anzupassen, die im Fall des Terrorismus staatlich (oder parastaatlich) verfasst und zugleich globalisiert ist. Diese beiden Formen des Krieges, so unterschiedlich sie auch sind, ergeben sich aus derselben strategischen Logik: Die Gewaltmittel werden immer in Anspruch genommen, um eine beabsichtigte Wirkung zu erzielen und die Gegenseite zu schwächen. Jeder Krieg ist per Definition hybrid. Damit soll nicht gesagt sein, dass der Krieg und das ihm zugehörige Denken keine Entwicklung erfahren. Im Gegenteil, der Krieg ist wahrlich ein Chamäleon, doch seiner Natur nach ist er am Schnittpunkt zwischen Politik und Gesellschaft situiert, zwischen gesetzgebender Gewalt und sozialen Kräften. Wie jede politische und soziale Wirklichkeit ist der Krieg in erster Linie das, was die Menschen daraus machen.

Jean-Vincent Holeindre ist wissenschaftlicher Direktor am Institut de recherche stratégique an der École militaire. Eine seiner wichtigen Veröffentlichungen ist: La ruse et la force. Une autre histoire de la stratégie (Paris 2017).

Literaturhinweise

Das Hauptwerk Clausewitz’, Vom Kriege, liegt in einer unter Federführung Werner Hahlwegs entstandenen Referenzausgabe vor (Bonn 1980). Auf Englisch ziehen wir die Ausgabe von Michael Howard und Peter Paret vor (On War, Princeton 2008). Der Band von Beatrice Heuser, Clausewitz lesen! Eine Einführung (München 2005) bietet eine gute Einführung in sein Denken, ebenso die von Bruno Colson verfasste Clausewitz-Biografie (Paris 2016).

Das ursprünglich zwischen den beiden Weltkriegen erschienene Hauptwerk Basil Liddell Harts, Strategy, the Indirect Approach, wurde bis zu seinem Tod 1970 weitgehend umgearbeitet. Eine deutsche Ausgabe ist verfügbar (Strategie, Wiesbaden 1955). Das bekannteste Werk John F. C. Fullers, The Conduct of War (1961) liegt ebenfalls in deutscher Übersetzung vor (Die entartete Kunst Krieg zu führen, Köln 1964), nicht hingegen Small Wars. Their Principles and Practice von Charles Callwell (Lincoln 1996). Die Quellen, insbesondere die nichtwestlichen, sind leicht zugänglich über die von Gérard Chaliand herausgegebene Anthologie mondiale de la stratégie (Paris 2009) bzw. auf Englisch The Art of War in World History (Berkeley u. a. 1994).

In englischer Sprache mangelt es nicht an synthesenhaften Darstellungen der Geschichte des militärischen Denkens, ebenso wenig wie an wichtigen Autoren: Azar Gat, A History of Military Thought. From the Enlightenment to the Cold War (Oxford 2001), und Michael Handel, Masters of War. Classical Strategic Thought (3. Aufl., London 2005). In jüngerer Zeit sind zwei Werke zur Geschichte der Strategie erschienen: Lawrence Freedman, Strategy. A History (Oxford 2013), und Beatrice Heuser, The Evolution of Strategy. Thinking War from Antiquity to the Present (Cambridge 2010). Ich erlaube mir, auch auf mein eigenes Buch zu verweisen: Jean-Vincent Holeindre, La ruse et la force. Une autre histoire de la stratégie (Paris 2017). Zur Theorie des kleinen Krieges beziehen wir uns auf die Arbeiten Sandrine Picaud-Monnerats, insbesondere auf ihr Buch La Petite Guerre au XVIIIe siècle (Paris 2010). Siehe auch Nicols Cadet, Honneur et violences de guerre au temps de Napoléon. La campagne de Calabre (Paris 2015). Zu den Maori-Kriegen siehe James Belich, The New Zealand Wars and the Victorian Interpretation of Racial Conflict (Auckland 1986).

 

Zum revolutionären Guerillakrieg siehe Mao Zedong, Ausgewählte militärische Schriften (Peking 1969), sowie die militärischen Schriften von Trotzki und Der Partisanenkrieg (Berlin 1981) von Ernesto Guevara (Paris 1967).

Zur nuklearen Abschreckung siehe Thomas Schelling, The Strategy of Conflict (Cambridge, Mass. 2005), Bernard Brodie (Hg.), The Absolute Weapon. Atomic Power and World Order (New York 1946), und Guy Brossollet, Essai sur la non-bataille (Paris 1985), auf Deutsch »Das Ende der Schlacht. Versuch über die Nicht-Schlacht«, in: Verteidigung ohne Schlacht (München / Wien 1976).

Zu den Transformationen des Krieges siehe Mary Kaldor, Neue und alte Kriege (Frankfurt am Main 2007), und Martin Van Creveld, Die Zukunft des Krieges (Hamburg 2004). Schließlich die Arbeiten von Pierre Hassner, insbesondere La Revanche des passions (Paris 2015), das wertvolle Einsichten in die Neuzusammensetzung des Kriegsschauplatzes bietet.

Querverweise

Der Zweck der Schlachten:

Strategen und Strategien59

Die Zeit der Bürgersoldat*innen78

Krieg und Recht103

Technologie ist nichts ohne Strategie132

Die Mythen des britischen Imperialismus216

Guerilla und Aufstandsbekämpfung236

Zeitalter des Terrorismus265

1Carl von Clausewitz, Vom Kriege, Bonn 1980, S. 191.

2Ebd., S. 210.

3Ebd., S. 212.

4Ebd., S. 213.

5Carl v. Clausewitz, Bekenntnisdenkschrift, in: ders., Ausgewählte militärische Schriften, hrsg. v. Gerhard Förster und Dorothea Schmidt, Berlin 1981, S. 215.

6Charles E. Callwell, Small Wars, London 1906, S. 21.

7Vgl. David Galula, Counterinsurgency Warfare. Theory and Practice, Wesport / Connecticut 1964.

8Sunzi, Die Kunst des Krieges, Berlin 2013, S. 12.

9Ebd., S. 17.

10Raymond Aron, Erkenntnis und Verantwortung. Lebenserinnerungen, München / Zürich 1985, S. 216.

Sir Hew Strachan
Der Zweck der Schlachten: Strategen und Strategien

Weil die Schlacht Sieger von Besiegten trennt, stellt sie an sich selbst ein Ziel dar. Doch die Fähigkeit der Nationen, ihre Armeen permanent nachzurüsten, führt zu der Möglichkeit von zeitlich und räumlich entgrenzten Schlachten. Die Epoche der Entscheidungsschlacht scheint der Vergangenheit anzugehören.

Die heutigen Leser*innen von Carl von Clausewitz’ Vom Kriege interessieren sich meist für die ersten und letzten Bücher des Werkes, in denen es direkt um das Verhältnis zwischen Krieg und Politik geht. Frühere Generationen, insbesondere zwischen 1871 und 1914, widmeten dem Mittelteil des Werkes tendenziell größere Aufmerksamkeit, vor allem dem vierten Buch. Mit seiner zentralen Position zwischen den drei ersten Büchern, in denen Krieg und Strategie diskutiert werden, und den vier letzten Büchern, die nach den verschiedenen Formen des Krieges und ihrer Umsetzung fragen, handelt das vierte Buch vom »Gefecht«.

Die erste englische Ausgabe übersetzte dies noch mit »combat«, während sich jüngere Ausgaben für »engagement« entscheiden. Keine Ausgabe optiert für »battle«, weil der deutsche Titel nicht »Die Schlacht« lautet. Gleichwohl geht es in diesem vierten Buch und für viele seiner Leser*innen im 19. Jahrhundert auch in der Abhandlung als Ganzes genau darum. »Das Gefecht ist die eigentliche kriegerische Tätigkeit, alles übrige sind nur die Träger derselben«1, schreibt Clausewitz zu Beginn des dritten Kapitels des vierten Buchs. Der Autor unterscheidet also zwischen Kampf, Gefecht und Schlacht. Schlachten sind Massenoperationen, in denen alle Gefechte zusammenlaufen und in denen der Gegner ausgelöscht wird – nicht notwendig im wörtlichen Sinne, aber doch in dem Sinne, dass die Ordnung und der Zusammenhalt seiner Armee zerfällt. Das neunte Kapitel des vierten Buchs ist übrigens mit »Die Hauptschlacht« überschrieben, womit »ein Kampf der Hauptmacht« bezeichnet wird, »ein Kampf mit ganzer Anstrengung um einen wirklichen Sieg«.2 Der Begriff der Hauptschlacht nimmt eine zentrale Stellung in Clausewitz’ Reflexionen über die Strategie ein. In seinen Augen mündet das Ziel der Strategie nicht allein in der Hauptschlacht, sondern auch darin, alle Konsequenzen zu nutzen.

Clausewitz hatte an der Schlacht bei Jena und Auerstedt und an der Schlacht bei Borodino persönlich teilgenommen und diente in den Feldzügen, die in der Völkerschlacht bei Leipzig und in der Schlacht bei Waterloo gipfelten. Er kannte somit aus eigener Anschauung, was für Napoleon das Suchen der Schlacht und die Logik der Aufeinanderfolge von Schlachten bedeutete: Jeder Sieg brachte Bonaparte dazu, den nächsten zu suchen; die Macht, die der Kaiser besaß, beruhte auf seinem jeweils letzten Erfolg. Allerdings lässt Clausewitz’ Beschreibung dessen, »was […] man jetzt gewöhnlich in einer großen Schlacht [tut]«,3 keine so außerordentlichen Ergebnisse erahnen. So schreibt er im zweiten Kapitel des vierten Buchs: »Auf diese Weise brennt die Schlacht mit gemäßigtem Element wie nasses Pulver langsam ab, und wenn der Schleier der Nacht Ruhe gebietet, weil niemand mehr sehen kann, und sich niemand dem blinden Zufall preisgeben will, so wird geschätzt, was dem einen und dem anderen übrig bleiben mag an Massen […]; es ziehen sich diese Resultate […] in einen einzigen Haupteindruck zusammen, aus welchem dann der Entschluß entspringt.«4

Mit anderen Worten: Clausewitz beurteilt die Entscheidungsschlacht nicht für sich; wenn der Krieg von Staaten geführt wird, die »angefacht [sind] durch große Volksinteressen«, dann setzen sie auf dem Schlachtfeld Armeen ein, die »sich ungefähr auf demselben Punkt der kriegerischen Einrichtungen und der Kriegskunst befinden«.5 Er beschreibt dort, was heute als symmetrischer Krieg bezeichnet wird. Der größte Teil der Napoleonischen Kriege, die er persönlich erlebt hat, waren in der Tat »symmetrisch«, was größtenteils ebenso für die beiden Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gilt. In Friedenszeiten beobachteten die Armeen ihre potenziellen Gegner und versuchten, sich an ihnen auszurichten und vergleichbare Kapazitäten zu entwickeln. Wenn es dann zum Krieg kam, erschwerten diese Ähnlichkeiten zwischen den Armeen die Suche nach einem vorteilhaften Kräfteverhältnis.

Waterloo, die Entscheidungsschlacht

Wenn jedoch die Schlacht für sich nicht entscheidend ist, wie konnte Clausewitz dann auf den Gedanken kommen, dass sie den Ausgang des Krieges bestimmen kann? Für ihn hängt die Antwort damit zusammen, was nach dem Schlachtgeschehen passiert. Die Strategie, erklärt er mehrmals, besteht darin, die Schlacht in den Dienst der Kriegsziele zu stellen. Die Verfolgung des besiegten Gegners beispielsweise zerstört die Einheit und Disziplin seiner Armee, was letztlich bedeutet, ihn »auszulöschen«. Aus dieser Sicht wurde der Ausgang des Feldzugs, der in Waterloo gipfelte, weniger durch die Kämpfe am 18. Juni 1815 besiegelt als dadurch, was in den darauffolgenden Tagen geschah. Beide Armeen waren bei der Auseinandersetzung aufgerieben worden, die Franzosen hatten fast 50 Prozent Verluste erlitten und die Koalition kaum weniger. Am folgenden Morgen erkannte ein Offizier der britischen berittenen Artillerie, der am Vortag auf der rechten Flanke Wellingtons nahe Hougoumont positioniert gewesen war, dass seinen Truppen Pferde, Geschirre und Munition fehlten: Er konnte sie nicht unmittelbar abmarschieren lassen. Und das wurde von ihm auch nicht verlangt. Am 18. Juni hatten sich Wellington und Blücher gegen 10 Uhr abends im Gasthaus »La Belle Alliance« getroffen und entschieden, dass die Preußen, die im Tagesverlauf den Kämpfen weniger ausgesetzt gewesen waren, den besiegten Gegner verfolgen sollten. Am 21. Juni erreichte Napoleon Paris. Er versuchte sogleich, neue Truppen auszuheben, da er hoffte, sich von der gerade erlittenen Niederlage durch den nächsten Sieg erholen zu können. Doch der Senat und das Repräsentantenhaus verweigerten ihm die Unterstützung. Durch die Niederlage bei Waterloo hatte Napoleon sein politisches Kapital in Frankreich verspielt. Auf diese Weise diente die Schlacht bei Waterloo den Kriegszielen: Der Kaiser dankte ab.

Im Laufe des folgenden Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde Waterloo zum Symbol der Entscheidungsschlacht schlechthin. Beispielsweise veröffentlichte der britische Anwalt Edward Creasy 1851 ein Buch mit dem Titel The Fifteen Decisive Battles of the World. Wie zu erwarten, ist die fünfzehnte und letzte dieser Schlachten die von Waterloo. Der Verfasser rechtfertigt den Gegenstand seiner Studie nicht durch die Strategie, wie Clausewitz es getan hatte, sondern über die nationale Identität: »Bestimmte Schlachten […] haben ihren Teil dazu beigetragen, dass wir zu dem wurden, was wir sind.«6 Ob es sich um eine entscheidende Schlacht handele, darüber könne man nur mit Abstand urteilen: »Die Wirkung dieser Zusammenstöße beschränkt sich nicht auf eine Geschichtsperiode allein, sondern kann einen Anstoß geben, der das Los der ganzen Menschheit beeinflusst.«7 Die erste Schlacht, mit der sich Creasy beschäftigt, ist Marathon, der Triumph der Griechen über »die bis dahin unbesiegten Herren von Asien«,8 wie er sie nennt. Als Nächstes diskutiert er Hastings, Saratoga und Valmy, eine Folge von Schlachten, die den Schluss nahelegt, dass der Sieg auf den Triumph des Guten hinausläuft, also letzten Endes auf den der verfassungsmäßigen Regierung über Tyrannei und Despotie. Das ist ein gutes Beispiel für das, was die Briten die whig-Interpretation der Geschichte nennen, also die Idee, dass die Geschichte eine Abfolge von Fortschritten sei und dass mit den Schlachten, so blutig sie auch sein mögen, im Resultat immer eine bessere Welt entsteht. Creasys Darstellung hatte einen immensen Erfolg. 1914 erreichte sein Buch fast die 50. Auflage. Daraus entwickelte sich die übergreifende Idee, dass unabhängig vom allgemeinen Kontext die Schlachten über den Ausgang der Konflikte entschieden.

Dieses Denken prägte auch die Soldaten. Jean Colin, ein französischer General und Spezialist für den Napoleonischen Krieg, konnte, bevor er 1917 im aktiven Dienst den Tod fand, noch 1913 sein Buch mit dem Titel Les Grandes Batailles de l’histoire vollenden (das allerdings erst 1915 auf Französisch und Englisch erschien). In diesem Werk endet die Analyse Waterloos in dem Moment, in dem Napoleon das Schlachtfeld verlässt; die Frage nach den Folgen der Schlacht kommt ebenso wenig auf wie die, in welcher Weise sie den Kriegszielen diente. Die Schlacht wiegt mehr als der Kontext, die Taktik mehr als die Strategie. Sogar nach einem Jahrhundert relativen Friedens in Europa nahmen die Militärexperten Waterloo nicht mehr in derselben Weise wahr wie Creasy, das heißt als Ende einer Epoche und den Beginn einer anderen. Waterloo wurde nicht mehr als Abschluss eines mehr als zwei Jahrzehnte dauernden Krieges angesehen, sondern als Ende eines kurzen Feldzugs. In den Militärakademien lehrte man die Napoleonischen Kriege als eine Abfolge isolierter Ereignisse – beispielsweise die Feldzüge, die in der Schlacht bei Marengo oder in der bei Jena und Auerstedt gipfelten – und nicht als Komponenten eines größeren Ganzen, nämlich die französischen Revolutionskriege und die Napoleonischen Kriege. Wenn man eine Kontinuität suchen sollte, dann ergab sie sich nicht aus dem langen Krieg, der sich zwischen 1792 und 1815 entspann, sondern im Willen, sich als effizient auf dem Schlachtfeld zu erweisen und kurze und entscheidende Schlachten zu schlagen, von denen man sich auf Grundlage einer selektiven Betrachtung der Vergangenheit für die Zukunft inspirieren lassen könne.

 

Das 18. Jahrhundert schuf übrigens einen Präzedenzfall. Während der Napoleonischen Kriege hatte insbesondere Antoine-Henri Jomini versucht, die französischen Revolutionskriege in die Folge der vorangegangenen Kriege, beginnend mit denen Friedrichs des Großen, einzuordnen. Der preußische König hatte erklärt, dass er im Fall, dass er eine Schlacht verlieren sollte, den Preis dafür in Form der Abtretung einer Provinz bezahlen würde. Mit anderen Worten, er besaß die Mittel, die Folgen einer Niederlage zu tragen. Die Monarchen, die sich auf den Krieg einließen, akzeptierten das Risiko, das sie damit eingingen, und stellten die Resultate nicht infrage. Sie agierten im Rahmen eines internationalen Systems, das sie beherrschten; daher lag es in ihrem Interesse, ihre Legitimität gegenseitig anzuerkennen. Die Hohenzollern sahen sich in der Pflicht, innerhalb des Systems der Großmächte zu handeln, statt es zu destabilisieren. Natürlich handelte es sich bei dieser Perspektive um eine idealisierte Version der Ereignisse. Nachdem Friedrich 1740–1742 die österreichische Provinz Schlesien eingenommen hatte, musste er, weil Maria Theresia den Verlust eines Teils ihres Territoriums nicht akzeptierte, trotzdem noch zwei weitere Kriege führen, um seine Zugewinne zu legitimieren. Im zweiten, der nicht enden wollte und als Siebenjähriger Krieg bezeichnet wird, lieferte er sich zahllose Schlachten, von denen sich bestimmte als »entscheidend« erwiesen (vor allem Rossbach und Leuthen), ohne doch zum Ende der Auseinandersetzung zu führen, während andere lediglich Pyrrhussiege waren (insbesondere die Schlacht bei Zorndorf). Außerdem war der Krieg selbst in seinen Möglichkeiten begrenzt. Die Armeen waren durch ihre logistischen Kapazitäten und durch die Jahreszeiten eingeschränkt, und die entscheidenden Schlachten konnten so schwere Verluste verursachen, dass man geneigt war, bis zum darauffolgenden Jahr zu warten, bevor man daran dachte, Profit aus den Resultaten zu schlagen.