Paulus und die Anfänge der Kirche

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1.2
|17| Erfahrungen, die alles verändern

Als Auslöser für und treibende Kraft hinter dieser neuen und unerhörten Botschaft werden seit den ältesten neutestamentlichen Texten «Erscheinungen» des Auferstandenen vor einzelnen oder Gruppen seiner Anhängerinnen und Anhänger genannt. Schon das vermutlich älteste Glaubensbekenntnis des Neuen Testaments hält als Kern des christlichen Glaubens fest:

«Christus ist für unsere Sünden gestorben, gemäss der Schrift, und ist begraben worden.

Er ist am dritten Tag auferweckt worden, gemäss der Schrift, und erschien dem Kephas, dann den Zwölf.» (1 Kor 15,3b–5)

Das Bekenntnis ist zweigeteilt, signalisiert durch das zweimalige «gemäss der Schrift». Auf diese Weise wird einer Aussage über den Tod Jesu eine Aussage über seine Auferweckung an die Seite gestellt, und beides, Jesu Tod wie auch seine Auferweckung, wird als schriftgemäss qualifiziert. Jede der beiden Aussagen wird jeweils in einem zweiten Schritt nochmals bekräftigt: der Tod Jesu durch das Begräbnis, seine Auferweckung durch das Erscheinen.

Letzteres ist bemerkenswert; denn es wird nicht auf eine mögliche Bestätigung der Auferweckung durch ein leeres Grab verwiesen, sondern auf Begegnungen verschiedener Personen mit dem von Gott Auferweckten, und das heisst: auf Erfahrungen dieser Menschen. Die Liste derer, denen eine solche Erscheinung des Auferstandenen zuteilwurde, wird im Anschluss an den wiedergegebenen Text noch fortgesetzt. Nach Petrus und dem Zwölferkreis wird eine Gruppe von 500 Glaubensgeschwistern genannt, sodann Jakobus sowie die Apostelinnen und Apostel. Schliesslich reiht sich Paulus selbst in die Liste dieser Auferstehungszeuginnen und -zeugen ein (1 Kor 15,6–8).

Leider wird nicht konkretisiert, was sich genau hinter der Ausdrucksweise «er erschien» (wörtlich: «er liess sich sehen», «er zeigte sich») verbirgt. Darüber, was hier geschehen ist und welcher Art diese Erfahrungen waren, ist viel gerätselt und auch gestritten worden. Vorausgesetzt scheint eine visuelle |18| Erfahrung, eine wie auch immer zu fassende Vision und/oder Audition, die die Genannten als auf sie zukommend erfuhren und durch die sie zur Überzeugung kamen, dem auferweckten Jesus begegnet zu sein.

1.3
Die Verkündigung des von Gott rehabilitierten Gekreuzigten

Grundlage und theologischer Interpretationsrahmen dieser Überzeugung ist die jüdische Hoffnung auf die Auferweckung der Toten durch Gott, die sich, wie ausserbiblische und biblische jüdische Texte zeigen, im Ringen um Gottes Gerechtigkeit und Treue auf der Grundlage vielfältiger früherer Bilder und Aussagen der Hebräischen Bibel seit etwa 300 v. Chr. entwickelt hatte.2 Diese Hoffnung wurde zwar nicht von allen jüdischen Gruppierungen des ersten Jahrhunderts geteilt – so standen nach Ausweis der Quellen vor allem die Sadduzäer und die Samaritaner dieser theologischen Entwicklung ablehnend gegenüber –, doch hatte sie eine wichtige Basis bei den Pharisäern sowie bei den Qumran-Essenern.

Im Horizont dieser Hoffnung, dass Gott seine Gerechten nicht im Grab lässt, sondern ihnen Gerechtigkeit schafft, konnte Jesus als ein solcher von Gott auferweckter Gerechter verstanden werden. Dies zeigt sich besonders deutlich in den ältesten Formeln, die den Osterglauben ins Wort brachten. Diese versprachlichen das Geschehen fast ausschliesslich als ein Handeln Gottes an Jesus in der Grundform: «Gott hat Jesus auferweckt» (z. B. Röm 10,9). Sprachlich kann dies auf verschiedene Weise variiert werden, zum Beispiel als partizipiale Gottesprädikation («der Jesus erweckende Gott», z. B. Röm 4,24) oder als passivische Formulierung («Jesus wurde [d. h. von Gott] erweckt», z. B. 1 Kor 15,4).

Bemerkenswert ist nun, dass einige dieser alten Auferweckungsformeln behaupten, Gott habe Jesus «aus [den] Toten» – also aus einem Kollektiv – auferweckt (Röm 10,9), oder auch, Jesus sei der «Erstling der Entschlafenen» (1 Kor 15,20) |19| bzw. der «Erstgeborene aus den Toten» (Kol 1,18), dem – so die Logik dieser Aussagen – die anderen Toten folgen würden. Solche Aussagen deuten darauf hin, dass die neutestamentlichen Texte die Auferweckung Jesu im Horizont der frühjüdischen Hoffnungen als ein endzeitliches Geschehen interpretieren.3 Denn die Mehrheit der jüdischen Zeugnisse versteht die Totenauferweckung als ein Geschehen im Kontext des «Jüngsten Tages». Wenn die Freundinnen und Freunde Jesu nun behaupten, Jesus sei bereits auferweckt worden, deuten sie die Auferweckung Jesu als Teil dieser erwarteten und ersehnten endzeitlichen Ereignisse. Dies konnten sie gut mit der Reich-Gottes-Botschaft in Einklang bringen, die sie mit Jesus teilten. Jesus war davon überzeugt, dass Gott seine Herrschaft endgültig angetreten hatte und dass die Zeit erfüllt und qualifiziert war von Gottes Gegenwart. Dies hatte Jesus nicht nur in seinen Worten, sondern vor allem in immer neuen symbolischen Handlungen sichtbar und erfahrbar gemacht. Im Lichte dieser Reich-Gottes-Botschaft konnte nun die Auferweckung Jesu als entscheidende Etappe des grossen Umwälzungsprozesses der endgültigen Durchsetzung der Gottesherrschaft verstanden werden. Mit Jesu Tod war diese Reich-Gottes-Botschaft also keineswegs falsifiziert, sondern seine Auferweckung musste als eine Bestätigung dieser Botschaft und damit auch als eine Bestätigung und Rehabilitierung der Person Jesu selbst gesehen werden.

Wenn sich auf diese Weise die Reich-Gottes-Botschaft verifizierte, erhielt damit auch die gesamte vorösterliche Reich-Gottes-Praxis, die aus dieser Kraft der Gegenwart der Gottesherrschaft lebte, eine Bestätigung. Das heisst wiederum: Sicherlich sind – neben dem Glauben an die Leben schaffende Macht Gottes – auch die ermutigenden, bewegenden und lebensvollen Erfahrungen, die die Jesusgruppe zu Lebzeiten Jesu gemacht hatte, eine nicht zu unterschätzende Basis für die Formulierung des Osterglaubens. Damit hat der Osterglaube eine bedeutende Wurzel in der überzeugenden Praxis Jesu selbst. Und es ist klar: Auf diesem von Jesus begonnenen Weg sollten seine Jüngerinnen und Freunde weitergehen.

|20| Der Osterglaube, so wie er zuerst in der paulinischen Briefliteratur bezeugt ist, wird in den späteren neutestamentlichen Schriften auf vielfältige Weise ausgestaltet. In den Evangelien findet er seinen Niederschlag in den Erzähltraditionen über die Auffindung des leeren Grabes sowie über die Erscheinungen des Auferstandenen. In diesen Erzählungen spielen, dies sei wenigstens kurz erwähnt, die Frauen aus der Nachfolgegemeinschaft Jesu eine prominente Rolle. Bemerkenswerterweise verweist die markinische Erzählung von der Auffindung des leeren Grabes die Jüngerinnen und Jünger nach Galiläa (Mk 16,7). Damit kommt auch in dieser Traditionslinie die Reich-Gottes-Praxis Jesu, die in Galiläa begonnen hatte, wieder ins Spiel, und die Erzählung lädt (auch) dazu ein, auf dem von Jesus begonnenen Weg der Reich-Gottes-Praxis weiterzugehen.4

Die frühe Überlieferung zeigt zum einen, dass die Nachfolgerinnen und Jünger Jesu – entsprechend der engen Verknüpfung der Auferweckungsbotschaft mit der Reich-Gottes-Praxis Jesu – die Sache Jesu weitertrugen und seine Botschaft weiter verkündigten. Dazu sind vor allem die Traditionen der Spruchquelle Q zu nennen (vgl. Lk 10,9). Zum anderen ist eine bedeutsame inhaltliche Verschiebung zu beobachten: Ins Zentrum der Verkündigung rückt die Person Jesu selbst sowie die Tat Gottes an ihm. Verkündigt wird nun der Gekreuzigte und von Gott Auferweckte, und das heisst: die Rehabilitation des als König der Juden Hingerichteten durch Gott selbst.5 Verbunden damit sind beginnende bekenntnishafte Aussagen zur Einsetzung Jesu in himmlische Herrschaftspositionen: als «Sohn Gottes» und «Herr» (vgl. Röm 1,3–4), als «Menschensohn», der zur Rechten Gottes seinen Platz erhält (vgl. Dan 7,13; Mk 14,62) und natürlich als «Christus» bzw. «Messias», womit Jesus in die messianische Tradition Israels gestellt wurde.6

1.4
|21| Frühe Jesusboten in Galiläa

Ein Teil der frühen nachösterlichen Verkündigung ist dabei zunächst in Galiläa angesiedelt. Vor allem die Trägergruppen der Spruchquelle Q müssen schon relativ bald nach dem Tod Jesu in Galiläa und in angrenzenden Gebieten Palästinas und Syriens zu wirken begonnen haben.

Exkurs

Als Spruch- oder Redequelle Q bezeichnet man eine frühe Sammlung von Reden und Aussprüchen Jesu. Nach der Zweiquellentheorie, die die Entstehung der Evangelien erklärt, schöpften das Matthäus- und das Lukasevangelium unabhängig voneinander einerseits aus dem Markusevangelium und anderseits aus dieser Spruchquelle Q. Daneben hatten sie noch je eigene Traditionen, das Sondergut, zur Verfügung.

Die Spruchquelle Q ist nicht als Dokument erhalten. Aber man kann ihren Inhalt aus denjenigen Partien des Matthäus- und des Lukasevangeliums rekonstruieren, in denen diese beiden Evangelien übereinstimmen, aber für die es keine Vorlage im Markusevangelium gibt.7

Es waren wohl zunächst Wanderprediger, die die Jesusbotschaft von Ort zu Ort trugen und dabei dem radikalen jesuanischen Ethos noch sehr nahestanden, das durch Heimatlosigkeit (Q/Lk 9,58), Familiendistanz (Q/Lk 9,60 f.), Besitzkritik (Q/Lk 6,20 f.) und Gewaltlosigkeit bzw. Feindesliebe (Q/Lk 6,27 f.35c–d) geprägt war. Im Zentrum dieser Verkündigung stand bei ihnen allerdings weniger der von Gott Auferweckte. Dies zeigt sich auch darin, dass die Spruchquelle Q völlig ohne eine Passions- und Auferstehungserzählung auskommt. Im Zentrum standen vielmehr die Worte Jesu, der vor allem mit prophetischen, aber auch mit weisheitlichen Zügen gezeichnet ist und der eines gewaltsamen Todes gestorben war wie zahlreiche Propheten vor ihm. Dabei wusste sich die Q-Trägergruppe mit ihrer Botschaft zwar zu Israel gesandt, stiess damit jedoch keineswegs überall auf offene Ohren und reagierte im Gegenzug mit heftiger Polemik gegen «diese Generation» (vgl. Q/Lk 11,47–51). Auch gegen Jerusalem werden harte Worte gesprochen:

 

|22| «Jerusalem, Jerusalem, die die Propheten tötet und die zu ihr Gesandten steinigt! Wie oft wollte ich deine Kinder sammeln, wie eine Henne ihre Küken unter die Flügel sammelt, und ihr habt nicht gewollt. Siehe, euer Haus wird euch verlassen [werden].. Ich sage euch, ihr werdet mich nicht mehr sehen, bis [‹der Tag› kommen wird, da] ihr sagt: Gesegnet, der im Namen des Herrn kommt!» (Q 13,34 f.)8

In diesen Worten klingt das gewaltsame Prophetenschicksal Jesu an. Sie sind aber auch ein Echo darauf, dass die Verkündigung der Q-Leute unter den Jüdinnen und Juden weitgehend nicht von Erfolg gekrönt war. Dabei deutet die Formulierung «siehe, euer Haus wird euch verlassen (werden)» bereits auf eine spätere Redaktionsphase des Spruchevangeliums Q während des jüdischen Krieges, als entweder das Ende des Jerusalemer Tempels unmittelbar bevorstand oder als bereits auf die Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Jahr 70 n. Chr. zurück geblickt wurde.9

Auch wenn sich einige Q-Sprüche also äusserst kritisch mit Israel auseinandersetzen, sind diese Sprüche doch keinesfalls antijüdisch zu lesen, sondern als Zeugnisse innerjüdischer Auseinandersetzungen um die Bedeutung des Propheten Jesus und den Ernst der Entscheidungssituation. Wohl soll Israel mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zur Umkehr gerufen werden; doch dürfen diese Texte noch nicht als Hinweise auf eine bereits erfolgte Trennung der in Q vertretenen Jesus-Nachfolger vom Judentum verstanden werden. Noch ist diese Jesusgruppe in die vielfältigen jüdischen Richtungen des ersten Jahrhunderts einzuordnen, auch wenn die Texte zeigen, dass sich eine eigene Identität der Jesusbewegung – zum Teil in Abgrenzung von anderen jüdischen Gruppierungen – herauszubilden beginnt.10

1.5
|23| Anfänge in Jerusalem

Eine etwas andere Perspektive auf die nachösterlichen Aufbrüche bietet die Apostelgeschichte des Lukas (Apg). Dieses Werk ist zwar erst um das Jahr 90 n. Chr. entstanden, doch stellt es als einziges uns zur Verfügung stehendes Werk einen erzählerischen Zusammenhang zwischen dem Wirken Jesu und der Zeit nach Ostern her.

Wie andere historische Quellen muss dabei auch das lukanische Doppelwerk kritisch auf die historischen Ereignisse hin befragt werden. Denn der Verfasser des lukanischen Doppelwerkes – der hier mit der kirchlichen Tradition und exegetischen Konvention Lukas genannt wird – tritt nach seiner eigenen Selbstdarstellung als ein akribisch arbeitender Forscher auf, der vorliegende Quellen auswertet, um auf deren Grundlage eine eigene Darstellung der Jesusgeschichte und der Geschichte seiner «Apostel» zu schreiben (vgl. Lk 1,1–4; Apg 1,1 f.). Geschichte zu schreiben heisst nach den Konventionen der griechischen Antike, «die Kräfte zum Vorschein [zu] bringen, die geschichtliche Abläufe vorantreiben.»11 Diese bewegende Kraft ist nach Überzeugung des Lukas der Heilige Geist. Die Kraft dieses Heiligen Geistes war nach Lk 24,49 den in Jerusalem versammelten Jüngerinnen und Jüngern vom Auferstandenen zugesagt worden, und bereits von Beginn der Apostelgeschichte an wird die Bedeutung des Heiligen Geistes als die hinter all den Ereignissen stehende Kraft kenntlich gemacht (Apg 1,2). Der Auferstandene wiederholt nach Apg 1,8 gegenüber der Jüngergruppe die Verheissung der Geistausgiessung. Zugleich wird hier das erzählerische Programm der Apostelgeschichte deutlich:

«Aber ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch herabkommen wird; und ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an die Grenzen der Erde.» (Apg 1,8)

In seinem zweiten Band will Lukas demnach erzählen, wie sich das Evangelium von Jerusalem über Judäa und Samaria «bis an die Grenzen der Erde» ausbreitet und wie dies von der |24| Kraft des Heiligen Geistes bewirkt und unterstützt wird. Dieses Programm ist zu bedenken, wenn wir uns im Folgenden der Darstellung der «Anfänge der Kirche» in der Apostelgeschichte zuwenden. Es gilt also, die Darstellung der Apostelgeschichte auf die Intentionen des Verfassers hin zu befragen und mit Hinweisen aus (den spärlichen) anderen Quellen kritisch zu kombinieren.

1.5.1
Die Rückkehr nach Jerusalem

Nach der Darstellung der Apostelgeschichte (und schon des Lukasevangeliums) bleiben die Jüngerinnen und Jünger – gemäss der Anweisung des Auferstandenen in Lk 24,49 – während der Passions- und Osterereignisse in Jerusalem. Dem entsprechend werden nicht nur im Lukasevangelium, sondern auch in der Apostelgeschichte die Erscheinungen des Auferstandenen in und um Jerusalem angesiedelt, und auch die so genannte Himmelfahrt, die endgültige Aufnahme des auferstandenen Jesus in den Himmel, wird in Betanien bzw. auf dem Ölberg nahe der Stadt Jerusalem lokalisiert (Lk 24, 50–53; Apg 1,9–12). So entsteht das Bild einer ununterbrochenen Präsenz der Jesusgruppe in Jerusalem über Karfreitag und Ostern hinweg.

Doch ist es demgegenüber historisch durchaus wahrscheinlich, dass viele der massgeblichen Jesusanhängerinnen und -anhänger nach der Verhaftung und Kreuzigung Jesu zunächst aus Jerusalem geflohen und nach Galiläa zurückgekehrt sind (vgl. Mk 14,50 f.).12 Auch einige der Erscheinungstraditionen deuten, wie bereits erwähnt, nach Galiläa als Ort visionärer Jesusbegegnungen nach Ostern (Mk 16,7; Mt 28, 16–20; Joh 21).

Allerdings muss ein Teil der Jesusanhängerschaft – darunter Mitglieder des Zwölferkreises und andere Repräsentanten, nicht jedoch die Q-Gruppe – aus Galiläa dann doch wieder nach Jerusalem zurückgekommen sein. Vielleicht gründet deren Motivation darauf, dass sie die Auferweckung Jesu als Teil des endzeitlichen Umwälzungsprozesses interpretierten, der zur endgültigen Durchsetzung der Gottesherrschaft führen |25| würde.13 Denn nach jüdischen Traditionen wurden die Ereignisse der Endzeit in Jerusalem erwartet, so dass es nachvollziehbar wird, dass die Jesusanhänger mit ihren hohen Erwartungen dort sein wollten, um «selbst den Platz der Parusie besetzt zu halten, gleichsam als eschatologische Vorposten, als die Wächter auf den Zinnen der Stadt, die der Welt und insbesondere den Zerstreuten das Kommen des himmlischen Königs künden sollten, wenn es soweit war (Jes 52,8)»14.

1.5.2
Eine aussergewöhnliche Erfahrung am Anfang

In seiner Pfingstgeschichte (Apg 2,1–13) erzählt Lukas, wie die von Jesus verheissene Geistausgiessung (Apg 1,8) sich realisierte: Die in Jerusalem versammelte Jesusgruppe wird am Pfingsttag von dieser Geistkraft erfüllt und verändert. Damit steht auch nach der Darstellung der Apostelgeschichte eine aussergewöhnliche Erfahrung am Anfang der Ausbreitung der Jesusbotschaft. Das Geschehen wird zunächst als ein hörbares Phänomen beschrieben, indem von einem Brausen wie von einem Sturm die Rede ist (Apg 2,2), es ist aber auch visuell erfahrbar: Es wird von Zungen wie von Feuer gesprochen, die sich auf alle verteilen (Apg 2,3). Und schliesslich ist die Wirkung auf die Anwesenden mehr als erstaunlich, denn alle reden nun in fremden Sprachen (Apg 2,4). Vielleicht hat Lukas in Apg 2,1–4 eine ältere Tradition verarbeitet, die von ekstatischen Erfahrungen erzählte, die zu einem geistgewirkten Zungenreden führten.15 Auch die Erscheinungstraditionen in 1 Kor 15,3–7 sprechen von aussergewöhnlichen Erfahrungen, von denen sich eine vor einer Gruppe von 500 Glaubensgeschwistern ereignet habe. Die johanneische Tradition spricht ebenfalls von einer Geistübermittlung durch den Auferstandenen am Ostertag (Joh 20,21–23). Zwar sind diese durchaus unterschiedlichen Traditionen keinesfalls in eins zu setzen; doch weisen sie auf aussergewöhnliche Erfahrungen der Jesusanhängerinnen und -anhänger bald nach |26| dem Tod Jesu hin, die sie als endzeitliche Ereignisse deuteten und in deren Folge sie sich, von neuer Kraft erfüllt, zur Verkündigung des Gekreuzigten und von Gott Auferweckten gesandt wussten.

Bei der erzählerischen Ausgestaltung jener Erfahrungen stehen prophetische Texte im Hintergrund, die für die Endzeit die Ausgiessung des Geistes erwarten und an die in der Pfingsterzählung angeknüpft wird (Joël 3,1–5; Jes 59,21; Ez 36,23–28; 39,29). Damit werden auch diese Jerusalemer Anfangsereignisse in den Horizont eschatologischer Erwartungen gestellt. Möglicherweise klingen auch Motive der Sinaioffenbarung an, wie eine Schrift des jüdischen Theologen und Philosophen Philo von Alexandria (geboren ca. 15/10 v. Chr.) über den Dekalog und speziell zu Ex 19,16 ff. nahelegen könnte:

«Eine Stimme ertönte darauf mitten aus dem vom Himmel herabkommenden Feuer […], indem die Flamme sich zu artikulierenden Lauten wandelte, die den Hörenden vertraut waren, wobei das Gesprochene so deutlich klang, dass man es eher zu sehen als zu hören glaubte.»16

Auch wenn bei den Augenzeugen des von Lukas gestalteten Sprachenwunders in der Pfingsterzählung an Jüdinnen und Juden aus der Diaspora gedacht ist, so klingt in den verschiedenen Sprachen, von denen hier die Rede ist, bereits die Ausbreitung der Christusbotschaft «bis an die Enden der Erde» (Apg 1,8) an, wie es die Apostelgeschichte im Anschluss erzählen und dabei auf Schritt und Tritt deutlich machen wird, wie sehr dieser Weg von eben dieser Geistkraft bewirkt und begleitet wird.

1.5.3
Christusgläubige Gemeinden in Jerusalem

Aus den Traditionen, die Lukas in seiner Apostelgeschichte verarbeitet hat, lassen sich einige bemerkenswerte Aspekte aus dem Leben der ersten Jesusgemeinschaft in Jerusalem gewinnen, sowohl was das Gemeindeleben angeht als auch was ihre Aktivitäten im Kontext der Stadt Jerusalem betrifft. So gehen die Texte wie selbstverständlich davon aus, dass sich |27| die Zwölf und die anderen Mitglieder der Gemeinde im Jerusalemer Tempel aufhalten. Bereits das Lukasevangelium hatte damit geendet, dass die Jüngerinnen und Jünger, nachdem der Auferstandene in der Nähe von Betanien unweit von Jerusalem von ihnen geschieden war, nach Jerusalem und speziell in den Tempel zurückkehrten:

«Dann führte er sie hinaus in die Nähe von Betanien. Dort erhob er seine Hände und segnete sie. Und während er sie segnete, verliess er sie und wurde zum Himmel emporgehoben; sie aber fielen vor ihm nieder. Dann kehrten sie in grosser Freude nach Jerusalem zurück. Und sie waren immer im Tempel und priesen Gott.» (Lk 24,50–53)

Ähnlich geht auch die Apostelgeschichte von Anfang an davon aus, dass sich die Jesusanhängerschaft regelmässig im Tempel aufhält (Apg 2,46 u. ö.). Explizit wird erwähnt, dass man sich «zum Gebet» in den Tempel begibt (Apg 3,1; 21, 26 ff.), dass die Apostel auf dem Tempelareal verkündigten (Apg 3,11–26; 5,20 f.42 u. ö.) und Heilungen vollbrachten (Apg 3,2–10). Das Tempelareal ist aber auch Ort von Konflikten mit jüdischen Behörden (Apg 4). Einerseits ist in diesem Erzählzug ein spezifisch lukanisches Darstellungsinteresse zu beobachten, der dem Tempel in seinen Schriften insgesamt eine besondere Bedeutung zuweist.17 Anderseits sind darin auch historische Erinnerungen enthalten. Ob sich die Jesusgruppe auch mit eigenen Opfern am Tempelkult beteiligte, ist den Texten nicht eindeutig zu entnehmen; doch könnte die kleine Szene in Apg 21,26, die selbstverständlich davon ausgeht, dass für Paulus und seine Begleiter nach der vorgeschriebenen Reinigung Opfer dargebracht werden, auf eine solche anfängliche Opferpraxis der Jerusalemer Jesusgemeinschaft hindeuten.18

Zunehmende Bedeutung als Versammlungsorte der entstehenden Gemeinschaften gewannen private Häuser, in denen man sich zum «Gebet» (Apg 1,14 u. ö.) sowie zum «Brotbrechen» traf (Apg 2,42 u. ö.). Gemeinsame Mähler gehörten von Anfang an zur Praxis in der Jesusnachfolge und |28| bildeten den Ausgangspunkt auf dem Weg zur Herausbildung der spezifischen urchristlichen Gottesdienstpraxis.19

 

Die von Lukas so betonte Gemeinschaft und die gemeinsamen Mähler haben auch einen konkreten sozialen Hintergrund: Die ersten Jesusanhängerinnen und -anhänger entstammten nicht den wohlhabenden Schichten, sondern gehörten zu den relativ und absolut Armen.20 Paulus spricht in Röm 15,26 explizit von den «Bettelarmen» (ptochoi) in der Gemeinde von Jerusalem, denen sein umfangreiches Kollektenprojekt zugutekommen sollte.21 In einem solchen Kontext sind gemeinschaftliche Mähler von kaum zu überschätzender lebenspraktischer Bedeutung, ganz ähnlich wie dies bereits in der ersten Jesusbewegung der Fall gewesen war. In jenen Mählern Jesu, die ihm die Beschimpfung als «Fresser und Weinsäufer» (Lk 7,34) eingebracht hatten, war die Wirklichkeit des Reiches Gottes konkret zu erleben, und zwar sowohl was die Fülle der für alle zur Verfügung stehenden Speisen betraf als auch im Blick auf die alle menschengemachten Grenzen überschreitende Gemeinschaft.

Das Überleben und Zusammenleben der Jerusalemer Jesusgemeinschaft wurde nach dem Bild, das die Apostelgeschichte zeichnet, ganz konkret durch Gütergemeinschaft ermöglicht (Apg 2,45; 4,32–37). Gewiss entwirft Lukas dadurch ein idealisierendes Bild von den Anfängen der Jerusalemer Gemeinde. Nicht zuletzt zeigen gerade die positive Hervorhebung von vorbildhaften Einzelfiguren wie Barnabas (Apg 4,36 f.) auf der einen Seite sowie Negativerzählungen wie diejenige über den Betrug von Hananias und Sapphira (Apg 5,1–11) auf der anderen, dass es wohl nicht immer so ideal zugegangen ist. Dennoch: Historisch gesehen lässt gerade das Beispiel des Barnabas, der als ein aus der Diaspora zugewanderter Jude charakterisiert wird, auf einen innergemeindlichen Güteraustausch schliessen, bei dem wohlhabendere Gemeindemitglieder vornehmlich aus der Diaspora die |29| ärmeren aus Galiläa stammenden Jesusnachfolger sowie Witwen und andere Mittellose materiell unterstützten.22

Wenn Lukas also von der Gütergemeinschaft der Jerusalemer Jesusgemeinschaft spricht, greift er damit zwar auch jüdische und griechische Sozialutopien auf und stellt seiner Leserschaft ein idealisiertes Bild der Anfänge vorbildhaft vor Augen, um sie zu einer ähnlichen Praxis zu motivieren. Doch können wir seiner idealisierenden Darstellung durchaus einen historischen Kern entnehmen, wonach «das gemeinsame Leben der Ekklesia nicht nur durch religiösen, sondern auch durch einen gewissen ökonomischen Austausch bestimmt war.»23