Einführung in die Philosophie

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Teil I – Philosophische Lektüre

»Ich aber habe mich dahin gehend unterwiesen, auf die Worte keines Meisters der Philosophie zu schwören, sondern meine Aufmerksamkeit auf alle auszudehnen, sämtliche Schriften zu durchforschen, alle Schulen kennenzulernen. Über sie alle hatte ich zu sprechen, um nicht als Verfechter einer einzelnen Lehre die übrigen hintanzusetzen und so den Anschein zu erwecken, auf die eine festgelegt zu sein.«1

Wer über Philosophie nachdenken, sprechen, schreiben möchte, der kommt um das Lesen philosophischer Texte nicht herum. Das klingt wie eine Binsenweisheit. Aber die Erfahrung lehrt, dass selbst in einem philosophischen Seminar ein großer Teil der Studenten, die über einen Text sprechen sollen, diesen Text gar nicht oder nicht ausreichend gründlich gelesen hat. Wer dieses Versäumnis der Faulheit von Studenten zuschieben will, macht sich die Sache allerdings zu einfach. Oft hat mangelhafte Textkenntnis weder mit mangelndem Eifer, noch mit fehlender Motivation zu tun. Sicher, es gibt auch solche, die in einem Fach, das auf dem Lesen von Texten beruht, einfach keine Texte lesen. Aber in vielen Fällen hat die schlechte Textkenntnis mit einer schamhaft verschwiegenen, daher nicht selten stummen Not der Studenten zu tun – der Not des fehlenden Zugangs zum Text. Diese Not soll im Folgenden etwas genauer unter die Lupe genommen werden.2

Philosophiestudenten geht es darin oft nicht anders als Lesern und Leserinnen, die sich privat mit philosophischen Texten auseinandersetzen. Das erscheint auf den ersten Blick widersinnig. Außerakademische Leser können sich immerhin auf den fehlenden akademischen Kontext berufen. Sie sind von vornherein auf sich gestellt, was die Lektüre angeht, oder müssen sich mit Einführungsliteratur wie der vorliegenden behelfen. Studierenden der Philosophie steht dagegen ein ganzer Lehrapparat der Philosophie zur Verfügung. Sie können aus einer Vielzahl von Veranstaltungen auswählen, in Seminaren das Debattieren und Schreiben einüben, sich in Vorlesungen über den neuesten Stand der Forschung informieren. Ihnen steht die Bibliothek des Philosophischen Instituts oder Seminars ebenso offen wie die Möglichkeit, sich jederzeit mit Kommilitonen zu treffen und über das gemeinsame Fach oder gemeinsame Themen zu diskutieren.

Im Idealfall funktioniert das alles auch genauso. Es gibt philosophische Seminare, in denen die gemeinsame Lektüre im Vordergrund steht. Mehrere Semesterstufen, von ahnungslos bis wohlinformiert, sitzen in einer Veranstaltung und lernen voneinander. Wer vorne sitzt, debattiert, wer hinten sitzt, hört zu. Nachmittags oder abends trifft man sich in einer Kneipe, um stundenlang über Hegels Wissenschaft der Logik oder Heideggers Sein und Zeit zu diskutieren. In der ständigen Auseinandersetzung mit den Texten entsteht Erkenntnisinteresse, daraus ein Projekt und daraus schließlich ein Text, den man als Hausarbeit abgibt. Das Studium findet zuhause statt und wird in den Veranstaltungen an der Universität erprobt. Nach einigen Semestern kann man sich ein solches Studium ohne Lesekreis und Gesprächsrunde gar nicht mehr vorstellen.

Die erste Voraussetzung für all das ist Zeit. Gar nicht so sehr als reales Langzeitstudium, sondern eher als Horizont von Möglichkeit. Wer weiß, dass er nicht nach dem Takt einer Stechuhr studieren muss, kann sich in sein Thema vertiefen. Wer im Semester nicht das Studium fünf verschiedener großer Philosophen und ihrer Hauptwerke abdecken muss, kann sich Zeit für einen oder zwei nehmen und nebenher vielleicht eine gute Philosophiegeschichte lesen. Und wer nicht laufend den Wasserstand in alle Richtungen melden muss, kann sich ausreichend auf das eigene Studium konzentrieren.

Die zweite Voraussetzung ist thematische und methodische Vielfalt. Schon 1486 hatte der Renaissancephilosoph Giovanni Pico della Mirandola festgestellt, dass »es von Engstirnigkeit [zeugt], wenn man sich immer nur innerhalb der Grenzen einer einzigen Säulenhalle oder Akademie aufgehalten hat«. Denn man »kann […] sich nicht aus ihnen allen die eigene richtig auswählen, wenn man sich nicht vorher mit allen genau vertraut gemacht hat«.3 Auch hier liegt der Punkt nicht darin, möglichst viele Philosophen in möglichst kurzer Zeit kennenzulernen. Er liegt vielmehr darin, von Seiten der Fakultät eine möglichst große Bandbreite philosophischer Positionen zur Auswahl gestellt zu bekommen. Wo, ähnlich wie in der mittelalterlichen Scholastik, an einer Fakultät faktisch nur eine oder zwei Hauptströmungen der Philosophie vertreten sind, werden zwar Anhänger dieser Hauptströmungen geschaffen – aber keine eigenständigen Philosophen.

Zeitdiagnostischer Exkurs: Die produktive Universität

Beide Voraussetzungen, Zeit und Vielfalt, befinden sich an deutschen Universitäten seit längerem schon in einer prekären Lage. Mit den im Bologna-Prozess eingeführten Zeit- und Punktekonten wird auch in der Philosophie akademische Leistung quantitativ kontrollierbar und damit ökonomisch bewertbar gemacht. Dass Professoren dabei zu Wissenschaftsmanagern werden, die für ihre Drittmittelprojekte umfangreiche Leistungsnachweise bei ihren Geldgebern vorlegen müssen, wirkt sich irgendwann auch auf die Lehre aus. Nachdem der Bildungssektor in vielen, vor allem institutionellen und administrativen Bereichen einem ökonomischen Kalkül unterworfen wurde, erzwingt diese Voraussetzung irgendwann auch die Anpassung des akademischen Inhalts an diese Voraussetzung.

Eine Folge dieser Entwicklung ist ein standardisiertes Philosophiestudium mit fest vorgeschriebenen Lehrinhalten. Diese werden dann vor allem von denen aggressiv verteidigt, die sich damit durchgesetzt haben, sie als geltende Norm philosophischer Forschung anderen vorschreiben zu können. Solche Positionen erkennt man im Studium immer daran, dass sie respektlos, ignorant oder sogar verächtlich mit anderen Positionen umgehen. Das ist keine moralische Klage, vielmehr selbst ein philosophisches Problem: Wer die eigene philosophische Position von vornherein als Maßstab für alles andere setzt, wird alles, was diesem Maßstab nicht entspricht, für ungenügend halten oder es gewaltsam dem eigenen Maßstab anzupassen versuchen.

Der Ökonomisierung der administrativen Abläufe an der Universität entspricht die Verwissenschaftlichung ihrer Fächer. Hier reibt man sich die Augen: Sind nicht alle Fächer an der Universität Wissenschaften? Wie kann man dann aber sinnvoll eine »Verwissenschaftlichung« kritisieren?

Gemeint ist damit nicht die Aufgabe der Kriterien, die ein Fach zu dem Fach machen, was es ist, gerade nicht. Jedes Fach an einer Universität hat eine eigene Geschichte, eigene Methodendebatten und einen eigenen pluralistischen Forschungsdiskurs. Mit »Verwissenschaftlichung« ist vielmehr die Ersetzung dieser Kriterien, die den Fächern eigen sind, durch Kriterien verwertbarer Wissenschaften gemeint, also die tendenzielle methodische Vereinheitlichung des vielstimmigen Fachgesprächs an einer Universität.

Wo Wissenschaften nach ihrer ökonomischen Verwertbarkeit beurteilt werden, werden jene Wissenschaften Vorbilder, bei denen diese Auswertbarkeit augenfällig ist. Unmittelbar nutzbares, effizient anwendbares Wissen produzieren vor allem die MINT-Fächer, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technikwissenschaften. Das führt zu einer Anpassung von Gesellschafts- und Geisteswissenschaften an die methodische Perspektive der MINT-Fächer. In der Philosophie führt es insbesondere dazu, dass die – nicht selten als metaphysische Spekulation und Eitelkeit diffamierte – Sonderstellung philosophischer Reflexion aufgegeben wird. Philosophie wird dann zu einer Wissenschaft unter anderen Wissenschaften, die sich allgemeinen methodischen Standards ebenso zu unterwerfen hat wie dem pragmatischen Zwang ergebnisorientierten Forschens.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass für die Studierenden an der modernen Bologna-Universität ganze Textbestände der Philosophie quasi in Vergessenheit geraten. Sie gelten dann im Extremfall nur noch als literarische oder – bestenfalls – historische Vorstufen des gegenwärtigen und d. h. vorläufig besten Wissens. Die Geschichte der Philosophie wird der (natur)wissenschaftlichen Geschichtsschreibung angepasst: eine Fortschrittsgeschichte, in der zeitliche Vorläufer auch immer gedankliche Vorläufer sind und das Ziel der Geschichte stets der gegenwärtige Stand der Forschung ist.

Das Angebot an Alternativen zur zeitraubenden, anstrengenden, entmutigenden und oft sehr einsamen Auseinandersetzung mit dem philosophischen Text ist also beträchtlich. Die Anpassung an einen bestimmten Konsens lässt diese Alternativen für die Studierenden oft verlockender erscheinen als eine selbstständige Auseinandersetzung mit philosophischen Texten.

Denn die Studierenden stehen unter einem immensen Druck: Unsicherheiten im Umgang mit dem eigenen Fach, die Konkurrenzsituation im Seminar, zu der die Jagd nach Punkten und nach Noten und d. h. Aufmerksamkeit des Dozenten gerinnen kann, und der ständig drohende Horizont des Zeit- und Punktekontos versetzen sie in eine Situation ständiger Leistungskontrolle. Noch während man um Termine für die eigene Bachelor-Prüfung ringt, wird man in den Medien von düsteren Prognosen bezüglich des eigenen Studienfachs und der Wertlosigkeit des angestrebten Abschlusses umstellt. Wer dann nebenbei noch für den eigenen Unterhalt jobben muss, kann über wohlmeinende Ratschläge zur Lektüre philosophischer Texte nur traurig lächeln.

Auf der anderen Seite steht das Angebot der eigenen Fakultät, die auf ihre Weise mit den Sachzwängen umgehen muss. Wo das Wissen standardisiert ist, behält man den Überblick. Man kann sich damit beruhigen, dass man selbst an der Universität nicht übermäßig dazu aufgefordert wird, über den eigenen Tellerrand zu blicken. Der Konkurrenzkampf ist nicht nur anstrengend, sondern auch verführerisch – diejenigen, die sich den Umständen gut angepasst haben, bekommen große Forschungsvorhaben und damit viel Geld bewilligt. Und wo viel Geld ist, da gibt es viele Stellen und Chancen, in der akademischen Karriereleiter nach oben zu klettern.

 

Wer von Studierenden mehr Lektüre fordert, darf über diese Rahmenbedingungen nicht schweigen. Und wer Philosophie studiert, muss sich im Klaren darüber sein, dass ein Großteil der Zeit dafür eingesetzt werden muss, sich dem vorgegebenen System anzupassen. Insofern kommt die private Auseinandersetzung mit philosophischen Texten dem Ideal eines Philosophiestudiums vielleicht sogar näher als die akademische.

Die folgende Einführung in die Lektüre philosophischer Texte ist ausdrücklich an beide Gruppen adressiert: Studierende der Philosophie und interessierte außerakademische Leser philosophischer Texte. Dennoch hoffe ich, dass die zuletzt Genannten Verständnis dafür haben, dass die oben skizzierte Situation der Studierenden hier immer im Hinterkopf behalten wird. Die Alternative, die in der vorliegenden Einführung zu dieser prekären Situation geboten wird, sollte sich aber für beide Lesergruppen als fruchtbar erweisen.

Lesenlernen – noch einmal

Abgesehen von den schwierigen und besonderen Verhältnissen an der Universität gibt es auch allgemeinere Ursachen für die mangelhafte Auseinandersetzung mit Texten. In der Schule dient das Lesen von Texten oft ausschließlich der Information über ein bestimmtes Thema, der Aneignung vorgegebenen Wissens. Die keineswegs unproblematische Vorstellung der Sinnübertragung eines bestimmten Inhalts vom Kopf des Autors in den Kopf des Schülers dominiert dabei oft jede andere Herangehensweise an den Text. Wo doch einmal Machart, Aufbau, Struktur und Vollzugsweise eines Textes thematisch werden – im Rhetorik- oder Deutschunterricht –, wirkt diese Perspektive seltsam exotisch. Wer von einem Text vor allem instrumentell, d. h. als Medium der Sinnübertragung von Inhalt ausgeht, für den sind solche zusätzlichen Perspektiven nur formale Spielerei.

An der Universität wird man wiederum mit Dozenten konfrontiert, die oft starke Geltungsansprüche formulieren. Wer Dozent ist, so eine weitverbreitete Vorstellung, der ist eine Autorität in seinem Fach. Viele Dozenten, gerade in der Philosophie, würden sich diese Vorstellung nicht zu Eigen machen. Dennoch werden sie oft von Studierenden so betrachtet, als sei ihre Sichtweise auf einen philosophischen Text die maßgebliche. Wo Dozenten und Professoren diesen Anspruch tatsächlich vertreten, verstärken sie diese (nicht sehr eigenständige) Haltung ihrer Studierenden nur noch weiter. Die professorale Distanz lässt sie zu Lehrautoritäten werden, deren Sichtweisen und Haltungen die Studierenden dann übernehmen. Eine eigenständige Auseinandersetzung mit dem Text kann nicht mehr stattfinden, wo Professoren ihre Studierenden mit Kollegen verwechseln. Als Studierender findet man sich dann oft in der absurden Situation wieder, gegen die Textlektüre des eigenen Professors anlesen zu müssen.

Hinzu kommt eine veränderte Rezeptionshaltung derjenigen, die mit dem Internet als Hauptmedium der Welt- und Selbstvermittlung aufwachsen. Schneller Zugriff auf Informationen bedeutet auch weniger Zeit für die Auseinandersetzung mit der Art und Weise der Übertragung dieser Informationen. Der ständige Wechsel von Kontexten und das oft undurchsichtige Nebeneinander von faktenbasiertem Wissen und bloßen Behauptungen im Netz lassen wesentliche, auch philosophisch relevante Differenzierungen verblassen. Aufmerksamkeitsspannen werden kürzer – nicht etwa aufgrund von Hirnerweichung, sondern weil sich die Rezeptionshaltung der Konsumenten den Besonderheiten des Mediums anpasst. Text wird dann vor allem in Form von Zusammenfassungen, Kommentaren oder kurzen Formen wahrgenommen und bevorzugt. Die Kriterien, denen er zu genügen hat, sind sehr oft nur noch subjektiv, der Aufmerksamkeitsökonomie des Netzes angepasst: was langweilig ist oder bekannt vorkommt, wird weggeklickt. Too long? Didn’t read.

Wer das Glück hatte, in einer von Lektüreerfahrungen geprägten Welt aufzuwachsen, dem erscheint diese spätmoderne Medienkompetenz jüngerer Generationen eher als Fluch denn als Segen. Die digitale Revolution hat zu einer beispiellosen Überforderung des Einzelnen mit unzähligen Inhalten geführt. Diese Überforderung kann sich dann als Nachfrage nach Auswahl-, Ordnungs- und Bewertungskriterien äußern, auf die alle möglichen, seriösen und unseriösen Angebote antworten.

Eigentlich kommt in dieser konkreten Situation aber nur ein viel allgemeineres Problem zum Ausdruck, das die Philosophie seit ihren Anfängen beschäftigt: Der Mensch hängt an Inhalten. Er sucht nach Zusammenhang und Sicherheit. Lücken und Unsicherheit kann er schwer ertragen. Die kritische Reflexion auf stille Voraussetzungen aber schafft Lücken, stellt Selbstverständlichkeiten in Frage, arbeitet mit methodischem Zweifel und der Unsicherheit des Wissens. Sie setzt etwas außer Kraft, um es noch einmal und besser zu beantworten, wie der Philosoph Georg W. F. Hegel es ausdrückt: »Erkennen heilt die Wunde, die es selber ist.«4 Der Wissensdrang des Menschen hat immer dazu geführt, dass mehr Sinnangebote zur Verfügung standen, als gebraucht wurden. So war es stets einfacher, sich aus dem vorhandenen Angebot etwas auszusuchen, als sich auf den langen und steinigen Weg der kritischen Reflexion zu begeben.

Entsprechend mächtig zeigt sich der Widerstand derjenigen, die von dieser Reflexion nichts wissen wollen. Sie beharren auf dem Eigenen, der eigenen inhaltlichen Auffassung, und ignorieren das Gemeinsame, die gemeinsam geteilten stillen Voraussetzungen. In diesem Sinne formuliert der vorsokratische Philosoph Heraklit das Problem: »Drum ist es Pflicht, dem Gemeinsamen zu folgen. Aber obschon der Logos gemeinsam ist, leben die Vielen, als hätten sie eine eigene Einsicht.«5 Auch die Menschen, die so tun, als hätten sie eine eigene Einsicht, haben ja schon eine. Sie sind nicht unwissend, sondern wissend – so aber, dass sie das, was sie wissen, für selbstverständlich, nicht hinterfragbar, nicht hintergehbar halten.

Zu viel, nicht zu wenig Wissen ist das Problem!

Vor diesem Hintergrund kann man die überraschende und vielleicht auch etwas paradox anmutende These vertreten, dass ein wesentliches Problem mit der Lektüre philosophischer Texte nicht etwa zu wenig, sondern zu viel Wissen ist. Dieses Problem kann man mit einer Diskrepanz erklären, die zwischen dem Selbstverständnis des Lesers oder der Leserin, seinem oder ihrem tatsächlichen Wissenshorizont und dem zu lesenden Text besteht. Sie kann an zwei idealtypischen Lesern deutlich gemacht werden.

Der erste idealtypische Leser hält sich selbst für unwissend. Er erwartet vom Text, dass er ihn wissend – oder zumindest wissender – macht. Der Wissenszuwachs wird dabei freilich bemessen an dem Wissen, das der Leser bereits hat oder zu haben glaubt. Was bekannt ist, ist der Maßstab für das, was dazukommt. Der zweite idealtypische Leser weiß dagegen um sein eigenes Wissen. Er ist darin selbstbewusster als der erste idealtypische Leser. Ihm dient der Text nicht von vornherein zur Erweiterung seines schon vorhandenen Wissens. Dieses Wissen dient ihm, umgekehrt, vielmehr als Maßstab dafür, ob der Text ihm etwas Neues, Relevantes, Interessantes zu sagen hat oder nicht.

Der erste Leser ist bescheidener, der zweite selbstbewusster. Sie unterscheiden sich darin, wie sie ihren eigenen Wissenshorizont einschätzen. Zugleich machen aber beide die gleiche Voraussetzung: das eigene, bereits bestehende Wissen ist Maßstab für das, was der Text zu bieten hat. Das Problem steckt nicht in der unterschiedlichen Selbstwahrnehmung der beiden idealtypischen Leser. Es steckt in der Voraussetzung, dass der zu lesende Text vor allem als Erweiterung des bisherigen Wissenshorizontes gelesen werden muss. Warum?

Wer den eigenen Wissenshorizont als Maßstab nimmt, setzt damit dieses Wissen als maßgeblich voraus. Da Wissenshorizonte verschiedene Formen annehmen können, breit oder eng, tief oder oberflächlich sein können, ist es durchaus möglich, dass verschiedene Leser ganz verschiedene Voraussetzungen mitbringen. Ein und derselbe Text soll also gegebenenfalls eine Erweiterung für ganz verschiedene Horizonte sein, die sich – da ihr Verhältnis untereinander nicht geklärt ist – auch noch jederzeit widersprechen könnten. Außerdem bringt der Leser, mit seinem Wissenshorizont, auch ganz bestimmte Überzeugungen mit. Diese Überzeugungen können sich auf jeden beliebigen Themenbereich erstrecken, weshalb jederzeit auch gegenteilige Auffassungen über dasselbe Thema vorausgesetzt werden können. Ein und derselbe Text soll also über dieselbe Sache und ihr Gegenteil sprechen können.

Das kann nicht funktionieren. Wer sämtliche Texte bloß als Erweiterungen des eigenen Wissenshorizontes liest, zwingt ihnen die Kategorien dieses Wissenshorizontes als Maßstab auf. Der Eigenwert des Textes, den man liest, kann in dieser Reduktion auf die Funktion als Wissenslieferant vollständig verschwinden. Die eigenständige Perspektive des Textes erscheint nur als Negativ der eigenen Voraussetzungen. Und dann ist es abhängig von der Gunst des Lesers oder der Leserin, ob die Irritationen, die dabei entstehen, als fruchtbare Einladung oder als abzulehnende Abweichung von der eigenen Norm verstanden werden.

Lesenlernen bedeutet hier also nicht gleich: so oder so lesen lernen. Es bedeutet zunächst einmal, dass man lernt, sich kritisch und eigenständig auf die eigene Leseperspektive zu beziehen. Wer das Lesen philosophischer Texte lernen will, muss sich diese Unbefangenheit erst einmal antrainieren. Wir bringen nicht zu wenig, sondern eher zu viel zur Lektüre mit. Wir machen etliche Voraussetzungen, die wir als solche gar nicht reflektieren. Und jede dieser Voraussetzungen kann dazu führen, dass unsere Lektüre sich nach ihnen und nicht nach dem Text ausrichtet, den wir lesen wollen. Sie können den Text verzerren, wie eine Bleikugel ein Gummituch verzerrt, auf das sie geworfen wird. Und dann finden wir nur das im Text wieder, was wir schon kennen – und verkennen das, was für uns unsichtbar wird oder nur noch dunkel und unverständlich erscheint.

Einklammern von Voraussetzungen

Was also tun? Man kann doch niemals ohne Voraussetzungen an einen Text herangehen. Jeder Versuch, sämtliche Voraussetzungen zu eliminieren, ist zum Scheitern verurteilt. Würde uns das gelingen, wir könnten den Text, den wir lesen wollen, nicht mehr verstehen. Wir könnten auch nicht mehr verstehen, was es heißt, einen Text zu lesen. All das bringt ja bereits Voraussetzungen mit – ohne sie bleiben wir dem Text gegenüber blind und taub.

Aber die Tatsache, dass wir Voraussetzungen machen müssen, bedeutet nicht, dass es unbedingt diese oder jene sein müssen. Anstatt also sämtliche Voraussetzungen zu eliminieren, können wir einfach reflektieren, dass wir sie machen, aber nicht jede davon machen müssen. Wir können den Geltungsanspruch in Klammern setzen, der mit ihnen verbunden ist. Und wenn sie dann beginnen, den Text zu verzerren, können wir sie dem Text anpassen, anstatt den Text unseren Voraussetzungen anzupassen. Das bedeutet nicht gleich: den Text immer so lesen, dass er unsere Voraussetzungen bestätigt. Es bedeutet: unsere Voraussetzungen nicht so einzusetzen, dass sie von vornherein zum Maßstab für den Text werden.

Erst wenn wir damit aufhören, den Text unseren mitgebrachten Voraussetzungen unterwerfen zu wollen, ist es möglich, ihn unbefangen zu verstehen. Es gibt mannigfaltige Gründe, warum man einen Text den eigenen Voraussetzungen unterwirft – Unsicherheit, weltanschauliche Überzeugungen, philosophische Glaubensbekenntnisse, fehlende Gewohnheit der Methodenreflexion. Aber immer wird es dazu führen, dass der Text genau in dem Licht erscheint, in das man ihn stellt. Geltungsvoraussetzungen bezüglich Rationalität, Geschichtlichkeit, Logik, aber auch angeeignete Perspektiven auf Sprachlichkeit, Kommunikation oder Gesellschaft, bis hin zu impliziten Überzeugungen davon, was der Mensch eigentlich ist, tut oder soll, können zu solchen Verzerrungen führen.

Sie führen dazu, dass ein philosophischer Text dann – aber immer nur teilweise – das bestätigt, was man schon weiß, während man in anderen Hinsichten nicht mit ihm übereinstimmt. Wer Texte so liest, reduziert sie von vornherein auf Meinungen, die man mit der eigenen Meinung abgleicht und entweder diese um jene bereichert oder jene für die Schärfung des Profils der eigenen Meinung benutzt.

 

Der Dialog von Leser und Text

Diesem Modus des Meinungsstreits steht das Modell des Dialogs von Leser und Text entgegen. In ihm klammert man die eigenen Geltungsansprüche gegenüber dem Text fürs Erste ein. Dann liest man den Text und versucht zu begreifen, worum es geht. Um dieses dialogische Modell zu verstehen, ist es hilfreich, sich anderer Lektüreerfahrungen zu erinnern: Wer Romane liest, hält auch nicht nach jedem Satz inne, um sich die Frage zu stellen, ob er überzeugend ist. Er akzeptiert, dass der Autor irgendwo beginnen muss, um seine Geschichte zu entfalten. Wer Romane liest, gleicht sie auch nicht ständig mit der eigenen Vorstellung von Wirklichkeit ab. Denn er weiß, dass der Roman keinen Anspruch auf Geltung in dieser Hinsicht erhebt. Schließlich schaut man auch nicht ständig unter dem Bett nach, ob die Fantasiewesen, von denen man liest, dort leben. Wir können jederzeit die Ebenen auseinanderhalten: Was im Text passiert, passiert erst einmal im Text – und zwingt mir nicht gleich eine Sichtweise auf.

Nun sind philosophische Texte natürlich keine (oder eher selten) Romane. Dennoch kann man einige Einsichten aus der eigenen Romanlektüre auf die Lektüre philosophischer Texte übertragen. Auch hier muss der Autor irgendwo anfangen, um seinen Gedanken zu entfalten. Oft handelt es sich dabei um eine Problemstellung, die von ihm in der philosophischen Tradition aufgefunden wird. Manchmal handelt es sich aber auch um ein eigenes Problem, mit dem der Text sich auseinandersetzt. Manche Texte machen sich die Mühe, den Leser bis an die Problemstellung langsam, Schritt für Schritt heranzuführen. Wer dann zu Beginn sofort eine klare Darstellung von Problem und Lösungsweg erwartet, wird enttäuscht werden. Andere Texte beginnen mit ihrer Problemstellung, aber stellen sie in Vortexten wie Einführungen oder Vorworten dar. Wer dann diese Texte für zweitrangig oder unwichtig hält, dem entgeht gegebenenfalls ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis des Haupttextes.

Schwieriger ist die Übertragung der Romanlektüre hinsichtlich des Abgleichs mit der Wirklichkeit. Denn philosophische Texte zeigen sich ja durchaus als Texte, in denen etwas über die Wirklichkeit behauptet wird. Oder? Wer genau hinsieht, kann erkennen, dass das bei weitem nicht für alle philosophischen Texte gilt. In vielen Fällen treffen philosophische Texte keine Aussagen über die Wirklichkeit, sondern – eine Ebene darüber – über Aussagen über die Wirklichkeit. Nicht Aussagen, sondern Aussagen über Aussagen, nicht das Begreifen von Wirklichkeit, sondern die Diskussion von begrifflichen Zugängen zur Wirklichkeit prägen die philosophische Auseinandersetzung.

Hat man es mit einem Text zu tun, der nicht über die Wirklichkeit, sondern über Begriffe und begriffliche Strukturen, Aussagen und Aussageformen, Argumente und Prinzipien handelt, ist der Abgleich mit der eigenen, empirischen Wirklichkeitsauffassung fehl am Platz. Sie führt schnurstracks in die – etwas billige – Täuschung, dass philosophische Texte von irgendwelchen (nichtempirischen oder unsichtbaren) metaphysischen Sachen sprechen. Ändert man aber diese Voraussetzung dahingehend, dass der Text nicht über metaphysische Sachen, sondern über Begriffsverhältnisse spricht, kann sich der Lektüreeindruck sofort ändern. Was vorher als wilde Spekulation über metaphysische Sachen erschien, erscheint nun als Explikation von Verhältnissen an Begriffen, die im Text zum Problem geworden sind.

Oft wird gefordert, man solle philosophische Texte von Anfang an kritisch lesen. Das leuchtet auf den ersten Blick ein, denn eine unkritische Lektüre könnte jederzeit dazu führen, dass man die gelesenen Inhalte ebenso unkritisch einfach übernimmt. Aber auch hier sollte man differenzieren. Der Begriff »Kritik« kommt von griech. »krínein«, d. h. »unterscheiden«, »prüfen«. Wer Texte prüft, der braucht einen Maßstab für seine Prüfung. Und wenn dieser Maßstab von außen an den Text herangetragen wird, dann hat man es sich denkbar einfach gemacht: denn überall dort, wo der Text diesem Maßstab nicht entspricht, kann man sein Verfehlen feststellen. Der Kritiker hat damit ein bequemes Instrument gefunden, um auch gegenüber den Texten sogenannter großer Philosophen überlegen zu bleiben.

Wenn hier der Vorschlag gemacht wird, einen Text stattdessen an seinen eigenen Ansprüchen zu messen, bedeutet das nicht gleich, diese Ansprüche zu akzeptieren. Es bedeutet vielmehr, darauf zu achten, den Text nicht durch eigene Erwartungen zu überformen. Wenn ein Text über die Rechtfertigung einer Rede zu sprechen beansprucht, sollte ich ihn nicht als Darstellung eines Ablaufs oder eines Prozesses nehmen. Wenn er Ironie als Stilmittel gebraucht, sollte ich ihn nicht in jeder Hinsicht wie eine technische Anleitung lesen. Wenn er in Dialogform vor mir liegt, sollte ich das, was in diesen Dialogen besprochen wird, nicht so lesen, als handle es sich um einen Traktat. Wer den Text so nimmt, wie er gegeben ist, der kann ihn allererst verstehen. Kritik, auch als Anmessen an von außen angelegte Maßstäbe, ist danach immer noch möglich. Aber dann kennt man den Unterschied zwischen dem Text und diesen Maßstäben.

Genauso wenig, wie Trolle unter unserem Bett wohnen, weil wir von ihnen lesen, überwältigt uns ein philosophischer Text, weil wir ihn nicht in jedem Satz an einem sicheren, aber außer ihm liegenden Maßstab messen. Es ist jederzeit möglich, die Konstruktion eines philosophischen Textes zu studieren, sogar zu bewundern, ohne alles, was er sagt, für überzeugend zu halten. Dafür muss man aber das Augenmerk auf diese Konstruktion legen. Entsprechend passieren Fehllektüren vor allem dann, wenn wir so tun, als würden philosophische Texte über genau dieselbe Wirklichkeit mit genau demselben Verständnis davon sprechen, wie wir es annehmen. Denn dann tritt ein philosophischer Text automatisch in eine Auslegungskonkurrenz mit uns und auch mit jedem wissenschaftlichen Text ein. Wer alles auf eine Ebene zieht, darf sich dann nicht mehr wundern, wenn sich die Perspektiven vervielfältigen. Daraus kann dann die Täuschung entstehen, Philosophie sei nur ein Relativismus der Weltanschauungen. Am Anfang dieser Täuschung steht aber eine kleine, unscheinbare Voraussetzung: Dass der Text schon dieselben Voraussetzungen machen muss, die ich auch mache.

Wer sich einem Text dialogisch nähern will, sollte zunächst einmal auch philosophische Sekundärtexte wie alternative Sichtweisen behandeln. Und alternative Sichtweisen sind es erst dann, wenn man schon eine eigene Sichtweise auf den Text entwickelt hat. Vor der Lektüre von Sekundär- oder Einführungsliteratur zu einem Text steht also grundsätzlich die Lektüre des Textes. Wer gar keinen Zugang zum Text findet, kann sich aus der Sekundärliteratur eine Sichtweise »ausborgen«. Oft hilft so eine geborgte Sichtweise dabei, für sich selbst einen Anfang zu machen. Doch sie ist nur eine, nämlich die erste Stufe der Leiter, an deren Ende ein eigenes und eigenständiges Textverständnis stehen sollte.

Aller Anfang ist schwer

Bereits in der Einleitung war von der frustrierenden Erfahrung die Rede, die man machen kann, wenn man einen philosophischen Text aufschlägt. Doch man sollte sich durch diese Erfahrung nicht entmutigen lassen. Philosophische Texte sind über viele Jahre – oder sogar Jahrzehnte – entwickelte Gedankengänge, die ihren Werdegang und die damit verbundenen Schwierigkeiten oft nicht verbergen können. Wer von sich selbst verlangt, alles beim ersten Lesen auf Anhieb zu verstehen, wird mit einiger Sicherheit daran scheitern.

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