Gina Keck

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

5. Kapitel

Eines Morgens zu Beginn des Monats Oktober stand Graf Eberstein auf der Wehrmauer seiner Burg und starrte düster, mit kleinen nahezu schwarzen Augen, die unter buschigen dunkelgrauen Augenbrauen saßen, in den dichten feuchten Nebel, der tief und schwer über den Wäldern hing.

Der riesige Mann seufzte tief, während sich dabei die Nasenflügel seiner aristokratischen Hakennase nach außen wölbten. Seiner stattlichen Erscheinung tat diese Mimik der Melancholie jedoch keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil, wirkte sie doch eher einschüchternd und unnahbar. Die derben Züge seines Kampf gezeichneten Gesichts blieben ansonsten unberührt und schienen wie versteinert.

Er schlug den pelzigen Kragen seines braunen ledernen Umhangs nach oben, um sich die frostige Kälte vom Leib zu halten. Mit Widerwillen gestand er sich die unumstößlichen Vorboten des bevorstehenden Winters ein, dem der Herbst allmählich wich.

«So ist der Herbst nun bald vorbei», sprach er zu sich selbst und seufzte wieder.

«Oh, wie wird mir. Stehen doch nur Kälte und Tristesse ins Haus. Obwohl noch nicht vergangen, wünschte ich mir die liebste Jahreszeit zurück. Ach, du mein Herbst...,

...versetzt die Welt in warmen Ton,

erst grün, dann gelb, am Ende rot,

und fallen die letzten Blätter schon,

fand manch ein Tier des Jägers Tod.»

Es schauderte ihn, nicht nur der Kälte wegen, sondern aufgrund der Schwermut seiner eigenen Worte und der unausbleiblichen Trennung von seiner geliebten Jahreszeit. Eberstein versank in tiefe Gedanken.

So fand ihn sein Hofmagier vor. Wortlos gesellte er sich zu ihm. Ein leichter Wind blies über die Mauern, sodass sein nachtschwarzer Umhang sanft flatterte. Die stahl-grauen Augen des Zauberers blickten tief liegend aus einem Gewirr von langem Haar. Es war nicht leicht auszumachen, wo das Kopfhaar endete und das Barthaar anfing, geschweige denn, welches Gesicht sich dahinter verbarg. Lediglich die Nase zeichnete sich als kleine, runde Knolle zwischen dem strähnigen Weiß ab.

Nach einer andächtigen Pause, ergriff der Zauberer das Wort und sprach mit gemäßigter Stimme: «Ehrwürdiger Herrscher, ihr seit früh auf. Aber sagt, was gibt Euch Anlass zu diesem finsteren Gesicht?»

«Ach, mächtiger Merlin, mein Herz liegt in Trauer.»

«Mein lieber Graf, wie kann das sein? Wessen Tod habt ihr gesehen? Wie kann es sein, dass ihr die Zukunft besser kennt als ich?»

Eberstein blickte verloren in die Ferne.

Leise sprach er: «Kein menschliches Wesen verlässt uns, mein treuer Merlin. Es ist der Herbst. Ich nehme Abschied von den Freuden der Jagd, von der Fülle der Früchte, von den letzten wärmenden Sonnenstrahlen. Ach, Merlin, bald bin ich ein einsamer Mann. Helena ist so gut wie fort und nun verlässt mich auch die dritte Jahreszeit. Mir bleibt nichts außer der Einsamkeit und der Leere in meinem Herzen.»

Der Magier betrachtete ihn lange.

«Ja, er ist alt geworden, unser Graf», dachte er, sprach jedoch: «Der Lauf der Zeit lässt sich nicht aufhalten. Die Geburt ist der Anfang, das Ende der Tod. Das ist unumstößlich. Das Wesentliche jedoch liegt dazwischen, mein guter Herr.»

Er hielt kurz inne und bedachte mit Sorgfalt seine nächsten Worte.

«Graf Eberstein, noch seid ihr jung genug, um Euch eine zweite Gemahlin zu nehmen.»

Eberstein winkte müde ab.

«Nach einem jungen Weibsbild stehen mir die Sinne nicht. Die Aufmerksamkeit und die Höflichkeit mit der man einer feinen, jungen Dame begegnen sollte, kann und will ich nicht mehr bieten. Bei mir wird gefurzt und gerülpst bei Tisch, der Wein wird geschlürft, der fettige Braten mit lautem Schmatzen verschlungen und die dreckigen Hände am Wams abgewischt.»

«Mein geschätzter Graf, Ihr könntet Euch ändern. Die denkbare Zukunft würde Euch Stärke und Willenskraft verleihen», entgegnete der Merlin.

Eberstein schüttelte energisch den Kopf.

Der Zauberer erhob seine Hand und veranlasste den Grafen nicht voreilig zu antworten. «Urteilt mit Bedacht, mein Gebieter. Ich gebe Euch eine Vision, um Eure Entscheidung zu überdenken. Stellt Euch Folgendes vor: eine junge Dame von edlem Geblüt, hübsch und adrett anzusehen. Sie schreitet an Eurer Seite, während ihr sie mit prunkvollen Festen und prächtigen Bällen in die Gesellschaft einführt und ihr eine einzige, wichtige Aufgabe übertragt, die da wäre...»

Eberstein öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, schloss ihn aber sogleich, da ihm der Merlin erneut Einhalt gebot.

«Lasst mich fortfahren, edler Herr. Eure Gemahlin wird Euch mit Freuden gesunde Söhne zur Welt bringen, die wiederum gesunde Söhne zeugen werden. Damit wird Euer ruhmreicher Name von Generation zu Generation weiterleben und Ihr mit ihm.»

Wieder schwieg der Zauberer einen Moment, um seine Worte wirken zu lassen.

Dann sprach er weiter: «Ihr seht also, mein ehrenvoller Graf, Ihr würdet nicht einsam von dieser Welt schreiten und Eure ruhmreichen Taten nicht vergessen werden.»

Eberstein dachte nach. Er ließ sich viel Zeit, bevor er antwortete: «Ich muss schon zugeben, Eure Vision gefällt mir, ehrwürdiger Merlin, besonders der Teil mit den Söhnen. Aber ich will bescheiden sein, ein männlicher Nachfolge würde mir vollends genügen.»

Ein Lächeln zuckte um seine Mundwinkel, bevor er mit einer wegwerfenden Handbewegung weitersprach: «Aber könnten wir den Teil mit der Frau nicht weglassen? Wie stellt Ihr Euch das vor? Ich bin alt und trage mein graues Haar mit Stolz und Würde. Wie könnte ich einer jungen Dame aufwarten, die nicht mehr Lenze zählt, als meine eigene Tochter?»

Der Graf hielt kurz inne, dann schüttelte er resigniert den Kopf: «Nein, das kann und werde ich nicht.»

Der Zauberer nickte zögernd, sprach aber dann: «Ich respektiere Eure Entscheidung und dennoch bedaure ich sie sehr, denn Einsamkeit ist kein schöner Wegbegleiter.»

Beide widmeten sich wieder vollends dem tristen Anblick des Morgens. So schien es jedenfalls, aber in den Gedanken des Grafen spann sich eine absonderliche Idee.

«Merlin, Ihr seid ein mächtiger Zauberer und kennt Euch in der Welt der Magie aus, wie kein Zweiter. Bestimmt ist Euch ein Weg bekannt, um mir meinen Wunsch nach einem männlichen Erben zu erfüllen, ohne dass ein Frauenzimmer von Nöten ist.»

Der Merlin blickte tief in die dunklen Augen und in die Seele des alten Mannes, bevor er mit Milde entgegnete: «Ich sehe, wie sehr dieser Wunsch in Euch brennt, aber um ein neues Leben entstehen zu lassen, bedarf es eines Mannes, einer Frau und dem Willen des allmächtigen Gottes. So sehr ich das für Euch bedaure, mein lieber Graf.»

Wütend funkelte Eberstein den Magier an und mit hoch erhobener Hand rief er: «Ihr habt mir dieses Samenkorn in meine Gedanken gepflanzt. Nun keimt der Wunsch nach einem Sohn in mir. Findet einen Weg, dass es geschehe ohne das Zutun einer Frau. Bestimmt verfügt Ihr über das Wissen eines Zaubertranks oder eines anderen magischen Pulvers, das so etwas vermag.»

Betroffen zwirbelte der Merlin an seinen langen Bart und sagte: «Nun gut. Ich erkenne den Schmerz, den meine Worte bei Euch verursacht haben und es tut mir sehr Leid. Dennoch ist es, wie es ist, einen leiblichen Sohn kann ich Euch nicht schenken, das kann nur...», und sein Blick wanderte gen Himmel.

Wider aller Vernunft focht sein Innerstes einen Kampf aus, denn letztendlich hatte er sich seit Anbeginn seines Lebens dem Mysterium der Zauberkünste gewidmet.

Mit einem tiefen Seufzer sprach er deshalb: «In der Tat gibt es Zauberei, die Euch Eure Herzenswünsche erfüllen können. Aber Ihr müsst wissen, dass Zauberei oftmals seltsame Wege geht und meist anders wirkt, als man es erhofft.»

Mit einer ergebenen Verbeugung machte sich der Merlin auf den Weg und während er ging, rief er mit warnendem Zeigefinger: «Sagt hinterher nicht, ich hätte Euch nicht gewarnt. So sei es! Ich werde Euch einen Trank bereiten, der Euch einen Wunsch gewährt. Wählt Ihn wohl und bereitet Euch gut darauf vor, Graf von Eberstein. Denn in Eurem Herzen darf nur dieser einzige Wunsch bestehen.»

So braute der Merlin dem Grafen einen Trank, wie er es versprochen hatte. Er wies Eberstein an, das Zaubergebräu mit dem ersten Sonnenstrahl eines erwachenden Tages zu trinken. Dabei sollte er sich einzig und allein auf jenes auserwählte Begehren konzentrieren und alles andere aus seinen Gedanken verbannen. Mit aller Inbrunst sollte er seinen Wunsch der aufgehenden Sonne entgegen rufen, sodass er reifen und bei Zeiten in Erfüllung gehen konnte.

Eberstein hatte sich gut auf seine Aufgabe vorbereitet und in seinem Gedächtnis brannte nur ein einziges Anliegen, nämlich das eines Sohnes. Sein Herz jedoch beherbergte einen ebenso starken Wunsch, dessen sich der Graf nicht bewusst war. Dieser keimte genau an jenem Morgen auf, als Eberstein die Sonne anrief und sich die Morgenröte eben durch die fast kahlen Baumkronen emporhob.

Beinah feierlich mit einem Anflug von Ehrfurcht in seiner Stimme bekannte er sein Begehren nach einem Erben, einem heranwachsenden Jüngling, der lernfähig und bereit für all die Aufgaben einer guten Herrschaft wäre. Gleichwohl und unbemerkt schrie sein Herz nach einem anderen Wunsch. Es frohlockte nach den Freuden des Herbstes, nach seinem prächtigen goldenen Antlitz, nach der Fülle der süßen reifen Früchte und nicht zuletzt nach den Hifthörnern, die durch den Wald zur Jagd bliesen.

6. Kapitel

Es waren erst wenige Tage verstrichen, als drei Jäger zur Burg Eberstein ritten und um Einlass baten. Jedoch handelte es sich hierbei nicht um die übliche Sorte von Jägern, die Felle oder Fleisch von Tieren anboten, sondern um solche, die sich auf Menschenhandel spezialisiert hatten. Sie boten dem Grafen eine höchst interessante und dazu einmalige Beute an - die drei Gezeiten - den Herbst, den Winter und den Frühling.

 

Graf Ebersteins Augen leuchteten, als er den jungen Herbst in menschlicher Gestalt vor sich stehen sah. Fasziniert betrachtete er den Jungen, berührte das rot-goldene Haar, das ihm wirr in das, über und über mit Sommersprossen gespickte, Gesicht hing. Dem Grafen gefiel das unbändige Wesen des Knaben, dessen Wangen vor Erregung glühten und dessen haselnussbraunen Augen ihn wütend an blitzten, als er ihn eindringlich musterte.

«Ein Jüngling im besten Alter, fähig das zu lernen, was man ihm beibringt», dachte der alte Eberstein zufrieden.

«Mein Wunsch hat sich somit erfüllt und nicht nur das, ich bekomme weit mehr, als ich erhoffte. Nun wird die schönste Jahreszeit für immer bei mir sein, solange ich im Besitz dieses Jungens bin.»

Die beiden anderen Gefangenen waren ihm einerlei, und er würdigte sie keines Blickes. Er hatte nur Augen für den jungen Herbst und mit einer abwertenden Handbewegung sprach er zu den Jägern: «Die beiden brauche ich nicht! Aber den Herbst, den muss ich haben. Koste es, was es wolle!»

Und während sich die Männer bei ein paar Kelchen schweren, roten Weins auf eine immense Summe Goldes einigten, erfuhr der Graf allerlei wichtige Fakten, von der Gefangennahme der Gezeiten, über den Verbleib von Sommer, bis hin zur einzig bestehenden Fluchtmöglichkeit, nämlich der drei Steinstatuen auf der Lichtung im hiesigen Eichenwald.

Als die Händler dann mit dem Frühling und dem Winter aus dem Burgtor davon ritten, stieg pure Verzweiflung in dem jungen Herbst auf und mit ihr setzte ein Wind ein, der die letzten Blätter von den Bäumen riss.

Mit jedem Meter, der zwischen ihm und seine Geschwister kam, verwandelte sich Herbsts Hoffnungslosigkeit in unbändige Wut und mit ihr schwoll der Wind, der draußen tobte, zu einem gewaltigen Orkan an und ließ das Mauerwerk der alten Burg erzittern.

Nach der Raserei umfing den Knaben tiefe Traurigkeit und während ihm dicke Tränen über das Gesicht rollten, verdunkelte sich der Himmel und kalte Regentropfen fielen zur Erde nieder.

«Die Zeit heilt alle Wunden», sagte sich Eberstein und er schien recht zu behalten. Allmählich versiegten die Tränen des Jungen und immer öfter strahlte die Sonne vom Himmel herab. Bald leuchteten wieder bunte Blätter an den Bäumen und die Äste hingen voller köstlicher Früchte.

Eberstein genoss das Leben in vollen Zügen. Täglich ging er auf die Jagd und ebenso eifrig widmete er sich der Erziehung seines Wunschsohnes. Er lehrte ihn wichtige Dinge, die ein guter Nachfolger des Eberstein'schen Geschlechts wissen und beherrschen musste. Vom ersten Tag an liebte er den Jungen wie einen eigenen Sohn.

Allem Anschein nach fand sich Herbst in seiner neuen Rolle als würdiger Nachfolger des Reichs Autum gut zurecht. Er gab seinem Ziehvater nicht den kleinsten Zweifel an seiner Treue und nahm jede ihm gestellte Aufgabe mit Beflissenheit entgegen, um sie zu erlernen.

In kürzester Zeit gewann er das Vertrauen des alten Grafen und somit sämtliche Freiheiten, die ein Sohn von seinem Vater erlangen konnte.

Allerdings steckte eine ganz andere Sache hinter Herbsts tadellosem Verhalten seinem Ziehvater gegenüber. Zum Einen benötigte er das offenkundige Vertrauen des Grafen, um sich überall frei und unbeobachtet bewegen zu können, zum Anderen brauchte er Zeit. Zeit um seine Flucht vorzubereiten, die ihm schon von Anfang an im Kopf herum spukte.

Eines frühen Morgens war es dann soweit. Alle Vorbereitungen waren getroffen. Herbst nahm sein schlichtes gelb-rotes Laubgewand, von dem der Graf glaubte, es wäre schon längst verbrannt worden, zwischen edlen und teuren Anzügen aus dem Schrank und zog es an.

Dann griff er nach dem kleinen, prall gefüllten Lederbeutel, der auf seinem Bett neben einem langen Seil lag. Sachte pflückte er einige schwarze Ameise herunter, die sich darauf tummelten und steckte sie in den Beutel zurück.

Leise flüsterte er ihnen zu: «Ich werde euch bald frei lassen, aber vorerst noch nicht.»

Der Junge legte sich das Seil um die Schulter und schlich lautlos aus seinem Zimmer.

Flüchtig wie ein Windhauch schlich er die Stufen in den großen Saal hinab und stahl sich an den schlafenden Wachen vorbei, die durch den kalten Luftzug fröstelnd aufmerkten, jedoch sogleich weiter schnarchten.

Als er den Burghof betrat, hing ein schwerer Nebel bis auf den feuchten Boden herab. Herbst hatte ihn bereits vor Stunden mit seinen Gedanken heraufbeschworen, um ungesehen an den wach habenden Posten vorbei schleichen zu können.

Nun ging er vorsichtig die schmale hölzerne Treppe zur Burgmauer hinauf, die unter seinen Schritten leise knarrte. Vermutlich wäre er über den schlafenden Wachposten gestolpert, der vor ihm auf einer Stufe lag und die Beine weit von sich streckte, wenn dieser nicht just in diesem Moment einen grunzenden Schnarchlaut von sich gegeben hätte. So konnte der Junge noch rechtzeitig mit einem großen Schritt über ihn hinweg steigen.

Auf der Burgmauer angelangt, befestigte er das Seil an einer Zinne und glitt geschwind an der Außenmauer hinunter. Als er das nasse kalte Gras unter seinen nackten Füßen spürte, beruhigte sich sein wild pochendes Herz. Er atmetet mehrmals die frische feuchte Luft des erwachenden Morgens ein, bevor er wie ein junger Hirsch davon sprang und geschützt durch den Nebel, den sicheren Wald erreichte.

Die Flucht blieb nicht so lange unentdeckt, wie Herbst es sich erhofft hatte. Schon kurze Zeit später trieben die Männer des Grafen ihre Pferde unerbittlich an, um den Flüchtigen einzuholen und in die Burg zurückzubringen.

«Ich muss es schaffen», ermutigte sich der Jüngling selbst.

«Und wenn nicht, dann werde ich meiner Schwester die Botschaft zukommen lassen, die sie zu mir führt. Und dann wird sie mich befreien.»

Mit einem flüchtigen Griff an seinen Gürtel vergewisserte er sich, dass der Beutel mit dem überaus wichtigen Inhalt noch an seinem Platz war.

Endlich erklomm er die Spitze des Donnerbergs. Sein Blick schweifte über das weite Tal, das sich vor ihm auftat. Die alten hohen Laubbäume wirkten wie winzige rote und gelbe Farbkleckse auf der riesigen grünen Fläche, durch die sich der dunklen Fluss schlängelte, der genau dort in die Tiefe stürzte, wo Herbst gerade stand.

Das laute Grollen, das herauf drang und das leichte Beben unter Herbsts Füßen, ließen ihn erahnen, mit welcher Kraft die Wassermassen dort unten auftrafen. Zurecht nannte ihn der Volksmund 'Donnerberg'.

Die wütenden Flüche seiner Verfolger, die nun deutlich zu hören waren, rissen den Jungen aus seinen Gedanken. Sie hatten ihre Pferde zurück gelassen und näherten sich nun auf dem unwegsamen Gelände zu Fuß. Es trennten sie nur noch ein paar steile Meter von ihrem Flüchtigen.

Herbst stand am Rand des Wasserfalls und richtete seine Hände gen Himmel, als bitte er den Allmächtigen um ein rettendes Wunder. Tatsächlich erhob sich ein starker Wind, der die Wachen daran hinderte, das letzte Stück des Bergs hinaufzuklettern. Ohnmächtig beobachteten sie, wie sich eine kleine Windsäule aus Herbsts Händen erhob. Sie sahen, wie sie wuchs und wuchs und wuchs, bis sie letztendlich mit den schwarzen Wolken des Himmels verschmolz, die mittlerweile heraufgezogen waren. Die enorme Kraft mit der sich die Windsäule im Kreis drehte, sog sämtliche Waffen der Ritter in sich auf, während sich die hilflos ausgelieferten Männer an die nächstmöglichen Felsen klammerten oder dahinter Schutz suchten. Mit zusammengekniffenen Augen starrten sie angestrengt durch den aufwirbelnden Staub und erkannten undeutlich, wie Herbst in das Auge des Wirbelsturms trat und darin verschwand. Sie sahen nicht, wie er in rasender Geschwindigkeit Meter für Meter dem Fuße des Berges entgegen rutschte und durch den feinen Nebel des Wasserfalls verhüllt, sicher auf der Erde landete.

Einige der mutigsten Männer trotzten dem Sturm und folgten wagemutig dem Jungen in das Innere der Windsäule, ohne zu wissen, was dort geschehen würde. Sie rutschten ebenfalls in die Tiefe, doch just in dem Augenblick als der Junge mit seinen Füßen den Boden berührte, löste sich der Wirbelsturm auf. Die Männer stürzten mit den Wassermassen hinab und versanken in den tosenden Fluten.

Herbst war klar, dass ihm nur ein kleiner Vorsprung blieb, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Es musste ihm gelingen, zu den Steinstatuen im Eichenwald zu gelangen, um von dort aus in seine Welt zurückzukehren.

Achtsam, um nicht in die Hände von Ebersteins Mannen zu fallen, hielt er sich abseits der üblichen Wege und huschte leichtfüßig zwischen den schützenden Bäumen hindurch. Nur noch ein paar Schritte trennten ihn von den steinernen Figuren, die sich bereits vor ihm abzeichneten. Zögernd trat er auf die Lichtung und vernahm im selben Moment das Trampeln von Hufen. Herbst wirbelte herum und sah aus den Augenwinkeln den Grafen und einige seiner Männer im wilden Galopp heran preschen.

Geistesgegenwärtig sprintete der Junge auf die Statuen los. Hinter ihm wirbelten braune, welke Blätter vom Boden auf und verbargen ihn kurzweilig. Eberstein sprengte mit seinem schwarzen Ross hindurch und die Blätter wirbelten auseinander. Es entbrannte ein ungleicher Wettlauf. Im wilden Galopp setzte der Hüne auf seinem kräftigen Pferd dem Jungen nach. Der Abstand der Beiden schmolz auf wenige Zentimeter zusammen, ebenso der Abstand zu den Statuen. Herbst streckte bereits seinen Arm nach der Seinigen aus, als Eberstein den Kopf seines Pferdes nach oben riss und mit einem gewaltigen Sprung über den Kopf des Jungen hinwegsetzte. Nun riss er das Tier gewaltsam zurück und kam kurz vor den Statuen zum Stehen. Er positionierte sich quer vor die drei Felsen und griente siegesgewiss.

Als dem Jungen klar wurde, dass der Weg in seine Welt versperrt war und Eberstein für dieses Mal gesiegt hatte, hielt er keineswegs in seinem Schritt inne, sondern verstärkte ihn. Er griff nach dem Beutel an seinem Gürtel und löste ihn, sank auf seine Knie und schlitterte auf dem knisternden Laub unter das Pferd des Grafen, sodass es wiehernd in die Höhe stieg. Dabei löste er den Knoten des Beutels und versteckte ihn am Fuße seiner Statue.

«Ihr wisst, was ihr zu tun habt», flüsterte er leise.

Dann ergab er sich dem Grafen.

Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?