Die Ökonomie der Hexerei

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In „Wahn-, Warn- und Wahrträume“ geht es vor allem um die Reisen, die ich mit Coulibaly zu Heilern in Guinea unternommen habe (ein Land, das oft als Hochburg der Féticheure bezeichnet wird, insbesondere auch, wenn es darum geht, sich gegen jemanden zu schützen, wie der Klient sagen würde; jemandem Schaden zuzufügen, wie das betroffene Opfer sagen würde). Viel Platz nehmen dabei die Schilderungen und Deutungen von Träumen ein, denen die Féticheure eine große Wichtigkeit beimessen (weil sie auch Einblicke in jene „andere Welt“ geben, in das verschlossene Studio gewissermaßen, wo der Film gedreht wird, den wir dann am Tag zu sehen bekommen und für real halten).

Das Kapitel „Initiation in die Kunst des Heilens und Krankmachens“ schildert schließlich, wie ich von Coulibaly eingeweiht wurde. Aus dieser „Innenperspektive“ werfe ich nochmals einen Blick auf die Funktion des Féticheurs als Heilers, beziehungsweise auf die Frage: Wie kann eine Therapie, die auf für uns extrem unwahrscheinlichen Annahmen basiert, Erfolg haben? Die Verfolgung dieser Frage geschieht mit Seitenblicken auf die Klinik „Fann“ in Dakar, wo mit modernen psychiatrischen Methoden gearbeitet wird, aber unter Berücksichtigung des traditionellen Krankheitsverständnisses. Möglicherweise ist ein Féticheur von der Art Coulibalys, der nie eine Schule besucht hat und den Kugelschreiber nur für seine Geheimschrift braucht, angesehener beim Durchschnittsafrikaner als der Psychiatrieprofessor mit seinen Diplomen und der Krawatte – und infolge dessen erfolgreicher, nicht nur was den Kundenandrang betrifft, sondern auch die (subjektiven) Heilresultate. Aber mit jedem Heilerfolg hat er die Vorstellungen von Hexerei und Geisterunwesen auch wieder bestätigt und perpetuiert.

Das Kapitel „Tropischer Hyperhumanismus“ schließlich kreist um das, was man den kulturellen „Humus“ des Hexereikonzepts nennen könnte: die extreme Ausrichtung auf den andern als Quelle des Glücks wie des Unglücks, die Personalisierung des Universums; man könnte auch sagen „Humanisierung“, sofern man berücksichtigt, dass damit das Leben der Afrikaner im Vergleich zu den „Weißen“ nicht nur ein Mehr an Nähe und Kommunikation aufweist, sondern auch an Personifizierung von Üblem, das „wir“ nicht unbedingt einer konkreten Einzelperson zuschreiben würden.

Seltsame Zugänge

Natürlich könnte man sich fragen, ob mit dem hier propagierten und praktizierten Zugang (der Forscher als Klient und damit zugleich Forschungssubjekt und -objekt) noch Distanz und Objektivität möglich seien. Nun, um es kurz zu machen: Man hat meist gar keine andere Wahl. Denn über das System, um das es hier geht, redet der Heiler im Allgemeinen nicht. Man redet im System – oder gar nicht. Natürlich kann man immer über irgendwelche Praktiken reden („muss man vier oder fünf Kaurischnecken vergraben“ usw.), und das war ja auch die Hauptbeschäftigung der konventionellen Ethnologie. Bloß: Ist das wichtig? Was Favret-Saada über das Hainland sagt, gilt auch für Afrika: Entzauberungsrituale zeichnen sich durch ihre Dürftigkeit und Zufälligkeit aus. „Ob dieses oder jenes Ritual angewandt wird, tut wenig zur Sache.“1 Dass der Heiler so tut, als sei es wichtig, gehört zur Funktionsweise des Systems. Hingegen haben die ausgesprochenen Worte ihre genau definierte Funktion. Das Wort im Zusammenhang der Zauberei ist Macht, nicht Information. Und deshalb kann ein Heiler auch nicht „Informant“ sein.

„Wenn in der Zauberei gesprochen wird, dann niemals, um zu informieren. Und wenn man informiert, dann nur, damit derjenige, der töten soll (der Zauberbanner), weiß, wo er zuschlagen muss. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes undenkbar, einen Ethnographen zu informieren, das heißt jemanden, der versichert, von diesen Informationen keinen Gebrauch machen zu wollen, der ganz naiv etwas wissen will, nur um es zu wissen.“2

Schlussfolgerung: Der Hexenglaube lässt sich nicht untersuchen, „wenn man nicht bereit ist, in den Situationen, in denen er sich äußert, und in der Rede, die ihn zum Ausdruck bringt, mit eingeschlossen zu werden.“3

Das heißt, es gibt also eigentlich nur zwei fruchtbare Positionen für den Ethnologen: Man beginnt als Kunde und endet als Lehrling oder Assistent (sowohl Coulibaly wie Clémentine drängten mich erst in die eine und dann in die andere Rolle).

Nochmals Favret-Saada (die ebenfalls als „Assistentin“ ihrer Informantin endete): „Wenn man einen Wahrsager hören will, gibt es also keine andere Lösung, als sein Kunde zu werden, das heißt, ihm den eigenen Wunsch zur Deutung vorzulegen. (Eine Konsultation ohne Bitte um Wahrsagung ist sinnlos, denn die Hellseherin sieht nichts, und für den Ethnographen gibt es nichts zu verstehen). Es kann bei dieser Gelegenheit nicht ausbleiben, dass der Forscher, wie jeder Einheimische – oder wie jedes wünschende Subjekt – selbst von der Verkennung betroffen wird ...“4

Diese involvierte Position impliziert ein paar Abweichungen vom ethnologischen Methodenhandbuch:

Die Verifizierung des Gesagten durch Dritte (durch unparteiische Zeugen) ist absurd, weil das Geschehen per definitionem außerhalb der Interaktion zwischen Kunde und Heiler (und „Hexer“) keine „objektive“ Realität besitzt, respektive sich erst im Behandlungszimmer konstituiert. Noch absurder wäre es, die Rede des „Verhexten“ mit jener der „Hexe“ vergleichen zu wollen. Im Prinzip ist überhaupt „Beobachtung“ (Distanz, Position der Exteriorität) von allem, was mit Hexerei und Antihexerei zu tun hat, ein Widerspruch in sich selbst. Man kommt nicht um „Partizipation“ (auch innere Partizipation, und das heißt zumindest vorübergehende Identifizierung mit dem System) und Subjektivierung (wo, wenn nicht an sich selber, erkennt man, „wie es geht“?) herum. Das schließt Theoretisierung nicht aus. Die wesentliche Rolle von Verteilen-Müssen, Verhext-Werden und Opfern ist mir erst klar geworden, als ich sie am eigenen Leib (will sagen als Klient) erfahren habe. (Ich begab mich damit den Heilern gegenüber in eine Position, die derjenigen der Heiler gegenüber ihren Verwandten auf dem Dorf glich).

„Man sieht“, schreibt Favret-Saada5, „dass es sich nicht genau um die klassische Situation eines Informationsaustauschs handelt, in der der Ethnograph hoffen könnte, dass ihm ein unschuldiges Wissen über die Vorstellungen und Praktiken des Hexenglaubens mitgeteilt wird. Denn wem es gelingt, sie kennen zu lernen, erwirbt eine Macht und hat die Folgen dieser Macht zu tragen: je mehr er weiß, desto bedrohlicher ist er und desto stärker ist er magisch bedroht.“

Das heißt, man geht durchaus eine Art von faustischem Pakt ein. Man verkauft seine Seele (lässt sich bis ins Innerste affizieren) und hofft dafür auf Wissen und vor allem, dass man irgendwann, im letzten Moment, den Kopf aus der Schlinge ziehen und ungeschoren zurück ins Studierzimmer flüchten kann.

Ich konnte in der Elfenbeinküste so sehr „klarstellen“ wie ich wollte; sobald sich irgendwo herumgesprochen hatte, worüber ich forschte, wurde ich als sorcier blanc bezeichnet, und am Ende meiner Initiation gab mir Coulibaly ein Papier, eine Art „Diplom“, das wir beide unterschreiben mussten und in dem festgehalten war, was der Ethnologe alles getan hatte „pour apprendre la sorcellerie et le fétiche, pour se libérer toute la vie et pour aider à ses enfants et ses proches“ – „Um die Hexerei und den Fetischismus zu erlernen und den Kindern und seinen Nächsten zu helfen.“

Was steckt dahinter? Die Frage der Hexerei

Ein großer Teil der Literatur über Hexerei in Afrika, insbesondere der Sechziger- und Siebzigerjahre, behandelt vor allem die Frage, unter welchen Umständen Hexerei auftaucht und wie soziale Faktoren ihre spezifische Ausprägung determinieren. Diese Werke6 sind funktionalistisch in einem doppelten Sinn: Sie untersuchen die Funktion der Hexerei im gesellschaftlichen Ganzen einer spezifischen Kultur, sie fragen aber auch danach, inwiefern die Hexerei Funktion (im mathematischen Sinne) von andern Größen ist (insbesondere solchen, die als grundlegender betrachtet werden, wie die Produktionsweise oder die Verwandschaftsorganisation).7

Diese Befunde scheiterten jedoch häufig daran, dass sich das Phänomen Hexerei als ziemlich immun (oder eigensinnig) gegen äußere Einflüsse erweist. Das wurde insbesondere in Modernisierungs- und Urbanisierungsprozessen deutlich.

Heute lässt sich einerseits feststellen, dass Hexerei – zumindest in Afrika – ein Phänomen ist, das relativ ubiquitär, unabhängig von spezifischen Konstellationen, auftaucht8, dass es andererseits aber sehr wohl über gewisse gemeinsame Charakteristika verfügt und sich mit andern Kulturelementen verbindet und so ein System bildet, das man mit dem Begriff „Hexereikomplex“ umreißen könnte (um anzudeuten, dass sich die einzelne Teile gegenseitig stützen, ohne dass man in diesem Ganzen die Hexerei als bloßen Effekt etwa von ökonomischen Gegebenheiten beschreiben könnte).

Das Ziel der vorliegenden Studie besteht also darin, das Phänomen Hexerei in der Elfenbeinküste (und Nachbarländern) mit all seinen psychischen, sozialen, religiösen, politischen und ökonomischen Implikationen auszuleuchten und herauszuarbeiten, inwiefern sich aufgrund dieser Befunde ein „harter Kern“ von Vorstellungen und sozialen Praktiken umreißen lässt, dessen Vorkommen sich mehr oder weniger über die ganze Region erstreckt.

Wenn die Verbreitung dieser spezifisch afrikanischen Hexereivorstellungen relativ unabhängig von sozialen, kulturellen, ökologischen und politischen Unterschieden ist9, stellt sich die Frage, ob und wie sich ein solches Phänomen erklären oder verstehen lässt – ein Phänomen, das uns in vieler Hinsicht als irrational, dysfunktional, anachronistisch oder entwicklungshemmend erscheint.

 

Die Hypothese lautet, dass sich nicht nur ein solcher formulierbarer kleinster gemeinsamer Nenner finden lässt, sondern dass die Hexerei das Kernstück eines ganzen Ensembles von Vorstellungen und Praktiken ausmacht, die zusammengehören und jenes System bilden, das Marc Augé den „Geist des Heidentums“10 nennt.

Das Theorie-Kapitel „Die Ökonomie der Hexerei“ interpretiert den Hexereiglauben in diesem Kontext vor allem als Angst vor lebensgefährlichen Neidern. Wie schon angetönt, geht es um folgende Überlegung: Wenn man, um es einmal etwas salopp auszudrücken, jedes hungrige Maul in der Familie stopfen muss (und die afrikanischen Familien dehnen sich tendenziell ins Unendliche aus, also findet sich immer irgendwo ein „Cousin“ mit Hungerbauch), weil man sonst fürchten muss, vom Zukurzgekommenen verhext zu werden, kommt man eigentlich nie dazu, etwas auf die hohe Kante zu legen. (Wer anhäuft, macht sich geradezu verdächtig.) Wie soll man so akkumulieren, investieren, längerfristig anlegen, planen, aufbauen? Was bedeutet so ein Sozial- und Ökonomiesystem – die Hexerei ist aus dieser Perspektive vor allem ein wirtschaftlicher Mechanismus – für eine kapitalistische Entwicklung, für die Modernisierung, für den Einzelnen, der es „zu etwas bringen will“? Das scheinen mir ganz nahe liegende Fragen zu sein. Sie wurden mir jedoch zum Teil übel genommen, bezeichnenderweise vor allem von gebildeten, linken Weißen. Sie witterten Neokolonialismus oder eine Art kulturellen Neorassismus. Die Afrikaner haben weniger Mühe damit. Die meisten, vor allem die Jungen, möchten sowieso bloß weg. Für sie steht es außer Frage, dass man es in Afrika auf keinen grünen Zweig bringt (wenn man nicht schon drauf sitzt). „On te laisse pas grandir“ – „Man lässt dich nicht wachsen.“

Im Kapitel „Opfer und Gewalt“ geht um es die Frage, warum eigentlich ausgerechnet eine Opfergabe gegen Verhexung wirksam sein soll. Hält man sich vor Augen, dass das (potenzielle) Hexereiopfer vor allem jemand ist, der Neid auf sich zieht (weil er – relativ – viel hat und wenig gibt), so ist es nur logisch, dass sich die Situation beruhigt, wenn er gibt (das Opfer ist die Gabe par excellence, für niemanden und alle). Das Opfer hat daneben aber auch noch einen aggressiveren Aspekt, beispielsweise wenn einer Ziege alles Böse aufgeladen wird, bevor man ihr den Hals durchschneidet. Auch die Hexe hat diesen Aspekt des Sündenbocks, der für alles Übel stellvertretend den Kopf hinhalten muss. Anhand eines Hexereiverdachts in einem Dorf an der liberianischen Grenze wird gezeigt, wie infolge der Allgegenwart des Neides (der geradezu die Normalform des Wunsches zu sein scheint) sehr rasch praktisch jeder in den Ruf einer Hexe oder eines Hexers kommen kann. Tatsächlich zeichnen die Schilderungen von Eingeweihten (also von Leuten, die die Fähigkeit erworben haben, Hexen oder Geister zu „sehen“) das Bild einer gewissermaßen kannibalischen Gesellschaft, in der sich die Menschen unaufhörlich gegenseitig verletzen, krank machen, töten, verkaufen und „auffressen“. Der Sündenbock (als Opfer oder als Hexe) dient dazu, diese omnipräsente Gewalt zumindest einzugrenzen.

„Hexerei als Teil der afrikanischen Kultur“ folgt in den Grundzügen dem Werk L’Afrique a-t-elle besoin d’un programme d’ajustement culturel?, in dem der kamerunische Ökonom Etounga Manguelle die These vertritt, der wirtschaftliche und technische Entwicklungsrückstand des subsaharischen Afrikas hänge mit einem Gefüge von kulturellen Eigenheiten zusammen, das, wenn man es der vielleicht etwas polemisch und essentialistisch anmutenden Verwendung des Wortes „Afrika“ entkleidet und mehr als Idealtypus fasst, einiges gemeinsam hat mit Augés „heidnischer Logik“ und dem, was ich hier als Hexereikomplex bezeichne. Durch eine solche Einbettung in ein modellhaftes kulturelles System („modellhaft“ heißt: in der Realität werden kaum je alle diese sich gegenseitig stützenden Elemente in toto auftreten), versuche ich zu zeigen, dass Hexerei ein fait social total ist, das in alle Aspekte der Gesellschaft hineinreicht und kaum von heute auf morgen verschwinden dürfte, eher im Gegenteil in der Konfrontation von konservativ-traditionellen und modern-kapitalistischen Ausrichtungen sich noch verschärfen wird.

Diese Sichtweise steht etwas quer zur gegenwärtigen ethnologischen Diskurslandschaft.

Erstens sind Verallgemeinerungen, die über zwei oder drei Ethnien hinausgehen, verpönt (man kommt dann leicht in den Ruch eines Essentialisten), zweitens macht man sich bei Mutmaßungen über das Verhältnis von Kultur und Entwicklung sowohl bei den Entwicklungssoziologen verdächtig (nämlich als Kulturalist), als auch bei den Ethnologen (Religionsethnologen wollen normalerweise nichts mit so profanen Themen wie ökonomischer Entwicklung zu tun zu haben, schon gar nicht in Zusammenhang mit ihrer eigenen Domäne). Auch ist drittens das Betonen von Unterschieden heikel geworden (man macht sich verdächtig, othering zu praktizieren). Schließlich gilt das Kennzeichnen von kulturellen Praktiken als dysfunktional und entwicklungshemmend durch kulturell Außenstehende prinzipiell als politisch unkorrekt.

Nun, ich kann diese Einwände niemandem übel nehmen.

Ich selber war nämlich auch schockiert, als ich bei meinem ersten Aufenthalt im Agniland den von mir verehrten Ethnologen Jean-Paul Eschlimann kennen lernte, der von so tiefem Verständnis für die Agni zeugende Bücher geschrieben hatte, und er mir, als ich irgendwas von faszinierenden, fremden Denkformen redete, ziemlich barsch zu verstehen gab, dass die meisten Agni ihren Hexenglauben liebend gerne los würden, wenn sie nur könnten, weil er ihnen mehr Angst und kollektive Lähmung bereite als irgendwelche Einsichten in „andere Welten“. Und als ich etwas von „Entzauberung der Welt“ sagte, meinte er bloß: „Exotismus eines Neulings.“

Inzwischen gebe ich ihm völlig Recht. Man kann die magischen Denkformen faszinierend finden und soll versuchen, sie aus ihrer eigenen Sinnwelt heraus zu beschreiben, aber warum soll man, was ihre Konsequenzen beispielsweise für das ökonomische oder wissenschaftliche Leben betrifft, nicht genau so klar und kompromisslos sein, wie man es bei einer Analyse von gewissen Elementen der eigenen Gesellschaft wäre?

Wenn man mit Gellner11 davon ausgeht, dass sich soziale und logische Kohärenz umgekehrt proportional verhalten (was uns zugleich eine Möglichkeit zur Hand gibt, „soziale“ und „kognitive“ Herangehensweisen zu verknüpfen), dann sind Gesellschaften mit einem ausgeprägten Hexereikomplex solche, in denen soziale Kohärenz fast alles und logische Kohärenz fast nichts gilt. Jeder Ethnologe würde eine solche Gesellschaft in seinem Erdteil ohne Zögern als totalitär bezeichnen. Wer hingegen in bezug auf das traditionelle Afrika solche Ausdrücke verwendet, wird selber als totalitär gebrandmarkt. Das ist, gelinde gesagt, inkonsequent.

Wenn man nun versucht, gewissermaßen einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu formulieren, so könnte man folgendes Phantombild der Hexe zeichnen, das vermutlich (das bleibt noch genauer zu überprüfen) mehr oder weniger für das ganze subsaharische Afrika gelten könnte12:

Die Hexe kann beiderlei Geschlechts sein; häufiger ist sie eine Frau. Sie verlässt nachts ihren Körper (oft in Form eines Vogels oder eines andern Tieres) und trifft sich mit andern Hexen. Die Hexen wählen ein Opfer aus der Familie einer der Hexen; diese Hexe „holt“ das betreffende Opfer, das anschließend verteilt wird. Ihr Blut wird getrunken oder ihr Fleisch gegessen (bzw. das unsichtbare „Doppel“ des Blutes oder des Fleisches); das schwächt die Person, macht sie krank und tötet sie am Ende. Jede Krankheit kann so auf Hexerei zurückgeführt werden.13

Wenn das solcherart skizzierte Phänomen der Verhexung und ihrer Gegenmaßnahmen tatsächlich eine frappante Verbreitung und Ähnlichkeit in ganz Schwarzafrika aufweist (wie erwähnte Autoren nahe legen), es sich aber andererseits nicht einfach auf gewisse spezifische soziale, ökonomische oder politische Faktoren zurückführen lässt, stellt sich die Frage, ob es denn ein allgemeineres Denk- und Wahrnehmungsmuster, eine idéo-logie im Sinne Marc Augés14 gibt, in das es eingebettet ist, und das, wenn es nicht ein Reflex der Sozialbeziehungen ist, diese vielleicht sogar im Gegenteil strukturiert. Nach Augé ist das „Heidentum“ oder die „heidnische Logik“ (womit primär einmal alle polytheistischen Glaubenssysteme zu verstehen sind, aber auch durchaus eine „heidnische“ Schicht in monotheistischen Gesellschaften und sogar Individuen15) durch folgende Merkmale charakterisiert, beziehungsweise vom Christentum und andern Monotheismen abgegrenzt:

1 „Es ist niemals dualistisch und stellt weder den Geist dem Körper noch den Glauben dem Wissen entgegen.“16

2 „Gleichsetzung der Sinnbezüge mit den Machtbeziehungen und dieser mit jenen, die keinen Platz für einen dritten Begriff lässt, die Moral, die ihnen äußerlich wäre.“17

3 „Es postuliert eine Kontinuität zwischen biologischer und sozialer Ordnung, die einerseits die Opposition zwischen dem individuellen Leben und der Kollektivität, innerhalb derer es sich abspielt, relativiert und andererseits dazu tendiert, aus jedem individuellen oder gesellschaftlichen Problem ein Lektüreproblem zu machen: Es postuliert, dass alle Ereignisse zeichenhaft und alle Zeichen bedeutungsvoll sind. Das Heil, die Transzendenz und das Mysterium sind ihm wesensmäßig fremd. Folglich nimmt es das Neue interessiert und tolerant auf; stets bereit, die Liste der Götter zu verlängern, denkt es additiv und alternativ, nicht synthetisch.“18„Für bestimmte Kulturen, die ich vorschlage «heidnisch» zu nennen, ist die Definition der Person untrennbar verbunden mit der Beziehung zum Andern, in Bezug auf Erblichkeit, Einfluss, Zusammensetzung und Schicksal.“19

Etwas zugespitzt könnte man also zusammenfassen: weder eine scharfe Trennung von Geistigem (Ideellem, Seelischem, Spirituellem, Glauben) und Körperlichem (Materiellem, Wissen), noch von Moral (Sinn) und Macht, noch von Subjekt (eigenem) und anderem.20

Diese Skizzierung einer heidnischen Logik scheint mir nun einen interessanten Weg zu eröffnen, das Phänomen der Hexerei in einen größeren Kontext von kulturellen Vorstellungen und sozialen Strukturen zu stellen und es in einer nichtreduktionistischen Art in Bezug zu setzen zu Fragen der Ökonomie und der Politik.

Folgende Zusammenhänge scheinen mir in diesem Zusammenhang wichtig (und werden sich anhand des gesammelten Materials veranschaulichen lassen):

Politischer Aspekt: Während bei uns die Macht in gewisser Hinsicht immer suspekt ist und unter Legitimationsdruck steht, ist das Machtstreben, die Aufstiegsmentalität bzw. die soziale Mobilität selbst nicht erklärungsbedürftig und nicht infrage gestellt, im Gegenteil. In Afrika stellt sich das Verhältnis genau umgekehrt dar: Ein Machtträger ist im Prinzip schon dadurch legitimiert, dass er die Macht besitzt. Macht legitimiert sich gewissermaßen durch sich selbst, durch ihre Präsenz und Realität. Demgegenüber sind Statusveränderungen suspekt und werden mit Hexerei in Verbindung gebracht: Dem Aufsteiger wird magische Bereicherung unterstellt, während dem Absteiger missglückte Magie nachgesagt wird, oder aber er wird gerade wegen seines Unglücks und des damit verbundenen Ressentiments als potenzieller frustrierter Rächer und Hexer gefürchtet. Plötzlicher Misserfolg, aber noch mehr plötzlicher Erfolg werden als erklärungsbedürftig (als „Lektüreproblem“ in der Begrifflichkeit Augés) betrachtet. Der Begriff der puissance oder force ist in den emischen Theorien über Hexerei und Heilung zentral. Das wurde schon von den frühen Afrikaforschern und Missionaren erkannt, jedoch nur unter philosophisch-religiösem Gesichtspunkt („Lebenskraft“) und nicht unter seinem politischen („Macht“). Unter diesem Blickwinkel hat das System der Hexerei eine konservative, normative Funktion, die die Asozialen am oberen und unteren Rand der gesellschaftlichen Hierarchie „zurückpfeift“ (Status quo erhaltend, „kalt“ im Sinne Lévi-Strauss’): Einerseits werden Aufstieg und Kompetition verhindert (der allzu Ambitionierte oder Erfolgreiche wird der Hexerei verdächtigt oder aber ist der Angst ausgesetzt, von einem Neider verhext zu werden), andererseits werden die „Asozialen“ am unteren Rand der Gesellschaft einem integrativen, oft aber auch endgültig marginalisierenden Druck ausgesetzt (dem Erfolg- und Machtlosen wird die Schädigung des Starken aus Neidmotiven vorgeworfen – z. B. Kindstod in einer angesehenen Familie, der auf die Hexerei einer alten, kinderlosen Witwe zurückgeführt wird). Der etablierte Mächtige kann demgegenüber aus dem Ruch, über besondere, magische Kräfte zu verfügen, zusätzlich einschüchternde Legitimität beziehen (so wurden manche charismatischen Politiker wie etwa Houphouët-Boigny gelegentlich in einer bewundernd-furchtsamen Art auch als sorciers bezeichnet: man nahm an, dass Gewehrkugeln an ihm abprallen würden).

 

Ökonomischer Aspekt: Hexerei hat immer eine ökonomische Dimension – sie wird als pervertiertes Verhältnis von Eigen und Nicht-Eigen betrachtet. Analog zum politischen Aspekt könnte man sagen: In Afrika wird Reichtum – im Gegensatz zu unserer christlichen Kultur – nicht moralisch infrage gestellt, aber ähnlich wie bei der Macht versucht man, an ihm zu partizipieren. Wie Augé sagt: Die Moral steht weder der Macht noch dem Besitz entgegen; der „Starke“ hat das Recht auf seiner Seite. Dafür lastet der Imperativ des Teilens umso schwerer auf ihm (Position des grand-frère, Patron-Klient-Verhältnis). Kommt er dieser egalisierenden Forderung nicht nach, zieht er den Neid auf sich, und das heißt, eine drohende Verhexung. Vielleicht gerade weil der Reichtum nicht moralisch entwertet werden kann, ist der Neid umso größer, und weil die kapitalistischen psycho-ökonomischen Schranken zwischen Mein und Dein (noch) nicht wirklich aufgerichtet sind (auch als Eigenlegitimation), prallt der Neid nicht an der Indifferenz des Beneideten ab, sondern richtet dort psychisch etwas an, was in Afrika eben „Verhexung“ genannt wird.

Psychologischer Aspekt: Nun partizipiert heute in Afrika natürlich ein großer Teil der Bevölkerung sowohl an einem traditional-egalitären Wertesystem (wer sich über die Gemeinschaft bzw. seine zugeschriebene Position zu erheben versucht, wird bestraft, geächtet, beneidet, „verhext“) als auch an städtisch-kapitalistischen Erwartungen (Bildungserwerb, sozialer Aufstieg, politische Partizipation, Konkurrenz, Kapitalakkumulation). Nicht umsonst ist der häufigste Anlass einer Verhexung der Besuch eines „Aufsteigers“ in seinem Heimatdorf. Pointiert formuliert: In der Stadt wird erwartet, dass er spart, akkumuliert und langfristig investiert, auf dem Dorf wird jeder Franc, der nicht geteilt wird, als vorenthalten und asozial betrachtet und geächtet.21 Psychologisch müsste man von einer Doublebind-Situation sprechen: „Du sollst es einmal weiter bringen als dein Vater“ versus „Du darfst deinen Vater nicht überholen“; „Je weniger du (aus-)gibst, umso mehr hast du“ versus „Je mehr du gibst, umso mehr wirst du bekommen“ usw. Es fällt nicht schwer, diese paradoxen kommunikativen Prädispositionen der Verhexung aus psychologischer Sicht als pathogen oder zumindest als eminent Stress auslösend zu erkennen. Der Heiler schafft durch die Interpretation dieser Probleme als „Verhexung“ zwar individuelle Erleichterung, aber er tritt gewissermaßen als Retter von etwas auf, dessen Hauptproduzent er zugleich ist. Durch den angebotenen Schutz vor Verhexung perpetuiert er zugleich dieses System.

Hexerei ist gruppenpsychologisch nur verständlich, wenn man diesen radikalen Bezug zum andern in Rechnung stellt, wie er sich in der Neidproblematik manifestiert („das Übel kommt immer von außen“), aber auch in den traditionellen afrikanischen Vorstellungen über die Psyche als Konglomerat zwischen individuellen und kollektiven Anteilen, das die Grenzen von Ich/Nicht-Ich, Körper/Psyche, Biologie/Psychologie/Soziologie überscheitet (Problem der Ahnenseele, des „Gruppen-Ich“, der „(In-)Dividualität“, der Anwesenheit der Toten, des „Double“, des „Seelenfressers“, des Fetischs). In diesem Sinne greift es psychologisch zu kurz, Hexerei nur individualistisch als Projektion, Phantasie, Paranoia oder Regression zu interpretieren. Hexerei mag aus „materialistischer“ Sicht inexistent sein, aber sie deswegen einfach als phantasmatisch abzutun und gewissermaßen als „sozialwissenschaftlich“ nicht faßbar zu erklären, würde der afrikanischen gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht gerecht und wäre mithin ethnozentrisch. Hexerei ist eine Realität – keine „materielle“, aber eine soziale. Als Praxis tendiert sie dazu, das zu produzieren, was sie voraussetzt, eine Wirklichkeit zu schaffen, die ihre eigenen Prämissen bestätigt, im Sinne einer zirkulären self-fulfilling prophecy. „Hexerei“ (als Befund, als verbaler performativer Akt von Wahrsagern, Féticheuren, Marabouts u. a.) ist eine nachträgliche Interpretation eines Übels, „Semiologie“, wie Augé sagt. Diese deutenden Aussagen (als eigentliches Medium, in dem „Hexerei“ soziale, d. h. kommunikative Realität besitzt) können ihr Gewicht aber nur aus der Tatsache beziehen, dass für viele AfrikanerInnen (oder für die „heidnische Logik“) die Welt an sich primär durch ihre Uneindeutigkeit, ihre Interpretationsbedürftigkeit charakterisiert ist. In gewisser Hinsicht ist die „heidnische Logik“ konstruktivistisch: Das Wirkliche ist nie gegeben, evident, sondern muss immer erschlossen, gelesen, rekonstruiert werden, und zwar im Umweg über das Abwesende, „Surreale“, Geheime, Unsichtbare. Dieses Andere ist aber nicht ein Transzendentes, Metaphysisches im abendländischen Sinne, sondern primär sozial bestimmt: So wie der andere als Patron, grand-frère oder allgemein Mächtiger/Reicher über mein Wohlergehen entscheidet, so ist es auch die Interpretationsfigur des „anderen“ in Form des Hexers, der für mein Unglück, mein Misslingen, meine Krankheit verantwortlich ist. Es handelt sich also um eine eher heteronome als autonome Auffassung der Persönlichkeit; entsprechend arbeiten die Heilerinnen gewissermassen eher mit einem systemischen bzw. gruppenpsychologischen (synchrone Analyse der Relationen und Kommunikationen) als individualpsychologischen (diachrone Analyse des Innerpsychischen) Ansatz. In diesen Zusammenhang gehört auch das „additive“ (im Gegensatz zum synthetisierenden) Denken: Die afrikanische Religion ist auch ohne die Versatzstücke von Christentum und Islam, „per se“, synkretistisch (und in diesem Sinne nie ethnisch-kulturell „rein“), sie rechnet immer mit dem „anderen“ (dem anderen Menschen, Geist, Gott, der anderen Wahrheit) und fügt ihn der eigenen Liste hinzu. In diesem Sinne ist vielleicht auch die Unterscheidung wahr/unwahr oder wirklich/unwirklich ungeeignet, sich dem Weltbild der afrikanischen Heilerinnen zu nähern. („Kein Antagonismus von Glauben und Wissen“, nach Augé.) „Wer heilt, hat Recht“, sagen sie in einer pragmatischen Wirklichkeits- und Wahrheitsauffassung.

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