Die Ökonomie der Hexerei

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Verwirrung als Erkenntnismittel

„An einem gewissen Punkt angelangt, gibt es kein Zurück mehr.

Das ist der Punkt, der erreicht werden muss.“

Franz Kafka

Im vorhergehenden Kapitel habe ich ein wenig von meinen gedanklichen Assoziationen und emotionalen Reaktionen berichtet, als ich zum ersten Mal afrikanische Heiler in der Rolle des Klienten aufsuchte. Ich behauptete, dass die Introspektion in solchen ungewöhnlichen Situationen uns Aufschluss geben könne über latente Aspekte des Gegenübers, sofern es gelinge, sie (nachträglich) in einen Kontext zu stellen, der über das Persönliche hinausgeht. Ich möchte im Folgenden anhand von einigen weiteren Situationen zeigen, wie ich als Forscher zum Objekt von Übertragungen wurde, die mich dazu brachten, Dinge zu fühlen, zu denken und zu tun, die ich sonst unterlassen hätte. Anhand dieser inneren und äußeren Übertretungen, durch das Erlebnis einer eigenen Andersheit, kann man etwas erfahren über die Andersheit der Andern.

Die drei afrikanischen Begebenheiten sind alle étrange (fremd, befremdend, seltsam), und sie haben alle etwas zu tun mit Übertragungen, von mir auf andere, von anderen auf mich, die etwas anrichten im Inneren und so die Sicht und dann auch das Verhalten verändern. Und insofern führen diese Übertragungen zu Übertretungen (der eigenen Grenzen und derjenigen der andern) und manchmal dann auch zur Einsicht in die Grenzen der Übertragbarkeit.

Auch (oder gerade) als Wissenschaftler und Forscher muss man manchmal den Kopf verlieren, um weiterzukommen. Denn was für viele ethnologischen Themen gilt, gilt ganz besonders in bezug auf Heiler, Hexerei und Magie in Afrika: „Though this be madness, yet there is method in’t“ – ist’s auch Wahnsinn, so hat’s doch System.27 Man muss es bloß finden.

Man findet es jedoch nicht diesseits, sondern jenseits der madness. Oder: Der Sinn ist im „Wahnsinn“ (buchstäblich ein Teil davon), nicht außerhalb. Man muss hineingehen.28

Übertretungen des Bischofs – Stärke

Die erste Begebenheit fand Mitte der Achtzigerjahre in Ifakara statt, einer Kleinstadt in Tansania. Ich saß mit einigen so genannten Entwicklungshelfern und einigen Einheimischen in einem Garten. Jemand zeigte zu einem großzügigen Haus jenseits der gegenüberliegenden Wiese und erklärte, das sei das Haus des Bischofs. Ich bemerkte lachend, für eine einzige Person sei das Haus aber etwas groß.

„Er ist nicht allein“, sagten die Afrikaner.

„Wie das?“

Und sie erzählten mir von der sechzehnjährigen Therese, die er vor einem Jahr als Köchin angestellt hatte und die jetzt seine Geliebte war.

Die so genannten Entwicklungshelfer und ich suchten nach Zeichen von Empörung in den Stimmen und Gesichtern der Afrikaner. Oder wenigstens moralischen Vorbehalten. Keine Spur.

Schließlich fragte einer von uns Europäern: „Und da findet niemand etwas dabei, dass der Bischof eine sechzehnjährige Freundin hat?“

Ich weiß nicht einmal, ob die anwesenden Afrikaner die Anklage, das Moment der Übertretung in dieser Frage wirklich heraushörten. Eher war es so, dass wir, weil es schließlich ein „Bischof“ war, eine Übertragung vornahmen von unseren Bischöfen auf diesen Bischof, uns durch den Gleichklang der Wörter irreführen ließen und automatisch annahmen, die Afrikaner würden alle ethischen Implikationen dieses Wortes mit uns teilen. Auf jeden Fall folgte als Antwort der Afrikaner eine längere Erklärung über power und to share the power, die man etwa folgendermaßen zusammenfassen kann:

„Der Bischof ist stark. Er verfügt über spirituelle, religiöse, in gewisser Hinsicht politische und auch finanzielle Stärke/Kraft/Energie/ Macht.“ (Das Gespräch wurde auf Englisch geführt, der Begriff power war zentral darin mit seinen Bedeutungen, die sich im Deutschen nur auf mehrere Wörter aufgefächert wiedergeben lassen). „Der Bischof ist eine öffentliche Person; er ist für die Gemeinschaft seiner Gläubigen da, er ist wie ihr Vater. Er lässt sie teilhaben an seiner Kraft. Es ist wichtig, dass er stark ist; dadurch ist auch unsere Kirche mit ihren Mitgliedern stark. Dass auch eine Frau etwas von ihm hat, ist nur normal. Sie hat erst Arbeit gefunden bei ihm, ein Einkommen, mit dem sie ihre Familie unterstützen kann, und jetzt hat sie auch teil an seinen anderen Vorteilen. Wenn jemand reich ist, dann kann er auch mehrere Frauen unterstützen, und dann soll er viele Kinder haben. Sie alle können leben durch ihn. Er hat ein großes Haus, das vielen Platz bietet. Und wenn viele da sind, ist es nur richtig, dass er sein Haus vergrößert oder ein zweites baut. Ein weites, schützendes Dach für seine Herde. Indem er verteilt, vermehrt er seine Kraft. Wer gibt, dem wird gegeben werden.“

Wie gesagt, trug sich diese Geschichte vor etwa zwanzig Jahren zu. Ich dachte in dieser Zeit kaum an sie, aber jetzt, während meines Forschungsaufenthaltes in der Elfenbeinküste, kam sie mir wieder in den Sinn und beschäftigt mich seitdem, weil sie mir fast die Quintessenz dessen auszumachen scheint, was die Europäer von den Afrikanern, oder die Christen/Monotheisten von den Heiden/Polytheisten unterscheidet:

In Afrika ist die Moral der power nicht entgegengesetzt, sondern folgt ihr. Der Erfolgreiche ist ein Muster des richtigen Lebens. Infolgedessen gibt es nicht – wie in unserer Kultur – ein Ressentiment des Unterlegenen und ein Schuldgefühl des Überlegenen, gibt es keine Idealisierung – wie bei uns – von Schwäche, Leiden, Armut, Krankheit, Ehelosigkeit, Einsamkeit, Ungebildetheit, Machtlosigkeit, Wahnsinn, Verzweiflung, Trauer, Verkanntheit, Außenseitertum, äußerlicher Unansehnlichkeit (versus innerer Schönheit), sogar des Selbstmordes und des Todes selbst, gibt es keine Verneinung oder Herabsetzung des Lebens zugunsten eines Jenseits‘ oder einer Transzendenz, kurz: keine „Sklavenmoral“ im Sinne Nietzsches. Der Antagonismus von Stärke und Moral dürfte eines der Kennzeichen unserer christlichen Kultur sein, das das eigentliche Christentum überdauert hat und fortwirkt in Leuten wie mir und den so genannten Entwicklungshelfern, die wir uns nicht allzusehr als „Christen“ verstanden und trotzdem in einer typisch abendländischen Art auf den Bischof reagierten. Wir partizipierten nicht, durch ihn, an seiner „Potenz“; wir stellten sie in Frage oder in ein schiefes Licht. In Afrika gibt es diesen moralischen Vorbehalt gegenüber Reichtum, Macht, Stärke, Potenz, Intelligenz, Wissen, Schönheit und Kinderreichtum nicht. Stärke ist gut, und zwar „gut“ in der ganzen Bandbreite seiner Bedeutung. Bei uns hat die Einstellung, dass der, der keine Macht hat, dafür die Moral für sich beanspruchen kann, über die eigentlich christliche Sphäre hinaus unzählige Diskurse geprägt: Die kritischen Diskurse der oppositionellen Politik, der Intellektuellen, des Journalismus, der Revolution, bis zur Psychoanalyse (die daraus ihre „subversive“ Kraft bezieht, aber vielleicht auch diesen etwas melancholisch-fatalistischen Tonfall, wenn sie von kulturell notwendigem Triebverzicht spricht, von Unbehagen, gemeinem Leiden, Todestrieb, Kastration und unvermeidlichem Mangel). Möglicherweise nähert sich diese Epoche dem Ende; der Begriff der Kritik wird heute selber kritisiert, und was man Postmoderne nennt, ist vielleicht tatsächlich das Ende des Monotheismus (der in Form verschiedener Mono-Ideologien den Tod Gottes noch etwas überlebte) und der Anfang eines neuen Polytheismus, mit allen psychischen Implikationen. Die unzählbaren Richtungen, Götter und Geister der Esoterik können als Zeichen dafür gelesen werden.

Damit ist auch bereits die Grenze dieser Gegenüberstellung von afrikanischem Polytheismus mit seiner Wertschätzung der Stärke und abendländischem Monotheismus mit seiner moralischen Idealisierung der Schwäche angezeigt. In der Realität lässt sich die Grenze zwischen diesen Auffassungen nicht geografisch ziehen. Aber als Modell erlaubt es doch, im Umweg über das Andere am Eigenen einiges schärfer zu sehen.

In diesem „heidnischen“ Modell also – um zusammenzufassen – gibt es keine moralische Herabsetzung des geglückten, glücklichen Lebens. Dadurch gibt es aber auch nichts, was den Neid leichter erträglich machen oder abwehren würde. Wenn ich den Erfolg des andern nicht entwerten kann, im abendländischen Sinne von „Seine Trauben, die ich selbst nicht habe, sind sowieso sauer“, dann möchte ich teilhaben am „Gut meines Nächsten.“ In diesem Sinne wäre die christliche Moral und Metaphysik mit ihrer Relativierung des physischen Glücks eine Medizin gegen den unerträglichen Neid, gegen den quälenden Wunsch nach dem, was der andere hat und ich nicht; eine Untersagung der schrankenlosen Übertragungen und Übertretungen. Eine Rezeptur auch gegen das Gespenst der Hexerei, wie noch zu zeigen sein wird; Rezeptur, die vielleicht sogar nebenbei den Kapitalismus mit ermöglicht hat, der nur mit einer gewissen Gier- und Neidkontrolle funktioniert, mit einer Legitimierung des nichtgebenden Habens, mit der Aufrichtung von unpassierbaren psychoökonomischen Schranken zwischen den Individuen. Vielleicht erklärt das auch den Widerspruch, dass es gerade unsere Kultur, in der der weltliche Erfolg so herabgesetzt wurde, zu einem solchen Erfolg gebracht hat; aber das ist eine andere Geschichte.

Um vorerst auf den potenten Bischof zurückzukommen: Warum brauchte es diese Nachträglichkeit von zwölf Jahren, bis diese Geschichte in meiner bewussten Psyche ihre Wirkungen entfaltete? Dazu möchte ich nun die zweite Geschichte erzählen.

Übertretungen des Agronomiestudenten – Sex

Es ist die Geschichte eines Schweizer Agronomiestudenten, der in der Elfenbeinküste ein zweimonatiges Praktikum absolvierte. Zu diesem Zweck lebte er einige Wochen in einem Dorf, wo Jamsknollen angepflanzt wurden, deren Lagerung mit seiner Hilfe verbessert werden sollte. Eines Abends wurde ein Fest gegeben. Und was ihm da widerfuhr, erzählte er mir:

 

Zwei Kollegen aus dem Dorf kamen am frühen Abend mit einem Mädchen zu meinem Haus, stellten es mir vor und sagten: „Willst du sie?“

Ich war verwirrt und fragte: „Was heißt das – willst du sie?“ Sie lachten und sagten: „Wenn sie dir gefällt, kannst du heute abend mit ihr tanzen.“

Ich sagte: „Gut, ich tanze gerne mit ihr, aber mehr nicht. Ich habe eine feste Freundin in der Schweiz, in drei Wochen werde ich zurückkehren, ich habe keine Lust auf ein Abenteuer.“

Sie sagten: „Gut, um zehn Uhr holen wir dich ab.“

Sie kamen, wir gingen zum Fest, ich tanzte mit dem Mädchen, aber es war etwas langweilig, sie sprach kaum Französisch, war auch gar nicht gesprächig und schien mir eher desinteressiert und abwesend. So verabschiedete ich mich gegen Mitternacht und legte mich schlafen.

Am nächsten Morgen wurde ich durch Klopfen an meiner Tür geweckt. Die Delegation vom Vorabend stand wieder vor meinem Zimmer, dieses Mal allerdings ohne das Mädchen.

„Warum hast du das Mädchen einfach stehen lassen?“, fragten sie. „Hat sie dir nicht gefallen?“

Sie waren recht aggressiv und ich war zu verwirrt, um überhaupt richtig zu antworten. Zuerst meinte ich noch, sie scherzten, aber ihre Empörung über mein Benehmen war echt. Ihre Anklagen wurden immer heftiger und gipfelten schließlich in der Aussage:

„Sie hat dir nicht gefallen, weil sie schwarz ist. Deshalb wolltest du nicht mit ihr ins Bett. Du hast ihr nicht einmal etwas gezahlt. Du findest die Afrikanerinnen hässlich. Du bist ein Rassist.“

Es bleibt noch hinzuzufügen, dass meine Forschungsarbeit im Dorf für die verbliebene Zeit fast unmöglich geworden war durch dieses Zerwürfnis mit den Kollegen.

Unser guter Europäer: Er wollte kein Rassist sein; er wollte nicht einer von denen sein, die nach Afrika reisen, mit der Erstbesten ins Bett gehen und ihr dafür ein Goldkettchen schenken. In den Augen seiner afrikanischen Kollegen war er aber unanständig; gerade weil er so anständig sein wollte.

Die Geschichte hätte übrigens noch weitergehen können. Wäre er mit ihr ins Bett gegangen, hätte er dann vielleicht pflichtbewusst rechtzeitig sein Präservativ gezückt, im guten Gefühl, kein rücksichtsloser Macho zu sein, sondern auch an die Frau zu denken. Es hätte ihm passieren können, dass die Frau gesagt hätte: „Ich schlafe nur ohne Pariser mit dir.“

„Warum das?“

„Weil ich ein Kind von dir will.“

„Warum?“

„Weil ich dich liebe.“

„Du kennst mich ja kaum!“

„Ich möchte ein Kind von dir.“

„Ich reise in drei Wochen zurück.“

„Dann bleibt das Kind hier und du kommst es von Zeit zu Zeit besuchen.“

„Wird man nicht auf dich herabschauen? Wird man nicht sagen: Die hat es mit einem durchreisenden Weißen getrieben, er hat sie sitzen lassen – das hat sie nun davon?“

„Nein, man wird stolz sein. Man wird sagen: Sie ist schön, sie ist unwiderstehlich, sie hat ein Kind vom reichen Weißen bekommen. Und vielleicht sogar: Er liebt sie, er schickt ihr viel Geld.“29

Der Agronomiestudent, er hat keine Übertretung begangen. Er hatte sich nichts vorzuwerfen, als er um Mitternacht nach Hause ging. Das hieß aber nicht, dass er einfach aus dem System entschwand. Für sich selber hatte er sich ehrenvoll aus der Affäre gezogen, hatte verzichtet, aber dafür die Moral auf seiner Seite. Für die andern nicht. In ihrer Übertragung, wenn man so will, in dem, was sie von ihrer Welt auf ihn übertrugen, war er einfach ein Mann, der ein Geschenk ausgeschlagen, der einen Affront begangen hatte. So leicht ließen sie ihn nicht davonkommen. Sie ließen es ihn spüren.

Aus ihrer Sicht hatte er sehr wohl eine Übertretung begangen. Er war geizig. Er war stark, reich, weiß, gebildet – aber er hatte nichts von sich gegeben, erst recht hatte er sich selbst nicht gegeben. Er hatte sich nicht zum Objekt machen lassen, er ließ sich nicht verführen. Wir würden sagen: Er blieb er selber und er blieb sich selber treu. Sie würden sagen: Er hat, aber er gibt nicht; das ist die Art Leute, die verhext werden, das ist die Art Stärke, die Neid weckt, weil die andern nichts davon haben. Er ist nicht wie der Bischof.

Sie ließen ihn das spüren, sie machten ihn am Ende doch zu ihrem Objekt. Und in diesem Sinne fand doch noch so etwas wie eine Übertretung in seinem Leben statt. Er hatte zwar keine Grenze übertreten, aber durch die Übertragungen auf ihn änderte sich die Sicht, die er von sich und den andern hatte, die Grenze verschob sich gewissermaßen unter seiner Füßen, ohne dass er sich vom Ort bewegte, und in diesem Sinne kam es doch noch zu einem Übertritt.

Wir sprachen lange über diese und ähnliche Geschichten, die uns verwirrt zurückgelassen hatten, und am Ende unseres Gesprächs hatte sich für uns beide etwas verändert; Grenzen hatten sich verschoben, Werte wurden umgewertet, Realitäten erschienen im Kontrast mit andern Realitäten plötzlich als Konstrukte, die dekonstruiert werden konnten.

Es gibt einen einfachen Grund, warum es zwölf Jahre brauchte, bis ich fühlte, wie wichtig die Geschichte mit dem Bischof war. Ich hatte damals zwar fast ein Jahr in Ostafrika verbracht, aber es war mir gelungen, keine Beziehungen einzugehen, in denen wirklich etwas auf dem Spiel stand. Dieses Mal war es anders. Es waren Freundschaften entstanden, die mir tatsächlich etwas bedeuteten, die ich nicht gefährden wollte, deren Verlust mir weh getan hätte. Angelangt an jenem Punkt, an dem es kein leichtfertiges – „mir nichts, dir nichts“ – Zurück mehr gibt, hatte ich die Kontrolle aufgegeben, die man in unverbindlichen Kontakten behalten kann. Ich hatte mich ausgeliefert, ich ließ mit mir machen. Und das führte dazu, dass die Leute etwas von mir wollten. Ich hatte Geld, Prestige, Bildung, also wollte, wer mit mir verbunden war, daran teilhaben. Lange dachte ich: Wie komme ich aus dieser Rolle des Weißen heraus, immer werde ich als der reiche Weiße angegangen, als Patron, als Geldsack, nicht als Individuum. Ich träumte davon, irgendwann diese Art Beziehungen überwinden zu können und unter Afrikanern als einer der ihren aufgenommen zu werden – und merkte lange nicht, dass ich, gerade als Patron oder als grand-frère, schon lange ihrem System einverleibt worden war. Ich erlebte an mir selbst die Schwierigkeiten – nicht des Touristen, sondern des arrivierten Afrikaners, der es zu etwas gebracht hat, der sich vielleicht in der Metropole Bildung und eine Stellung angeeignet hat und sich nun kaum mehr ins Dorf zurück traut, weil er dort mit all den Erwartungen konfrontiert wird, die man an den grand-frère hat. Und die sich, falls sie nicht befriedigt werden, rächen. Denn jemand, der hat, aber nicht gibt, zieht Neid und Verhexung an.

Der Agronomiestudent hatte das an seinem eigenen Leib erfahren. Er war nicht mehr der Beobachter von außen, sondern er wurde zu einem Element des Systems gemacht und erfuhr so etwas über das System an sich selbst. Eine Art Verhexung, die ihm an seiner Lebenskraft zehrte, seine Arbeit unmöglich machte, ihm weh tat, ihn verwirrte und isolierte. Aber indem er das Erlebte als typisch für die afrikanischen Beziehungen erkannte, erfuhr er vielleicht etwas Zentraleres über Afrika, als wenn er seine Studien über die Jamsknollen ungestört hätte zu Ende führen können.

Übertretungen des Schweizers – Sparen

Ich möchte eine dritte Begebenheit erzählen, die sich auch mit jemandem abspielte, der wichtig, unverzichtbar für mich war; so wie die afrikanischen Kollegen für den Studenten. Denn erst dann spielt sich wahrscheinlich die Übertragung in einer Art ab, die erlebte Erkenntnis produziert. Dann erst ist es nicht mehr nur ein „Spielen“, sondern steht etwas auf dem Spiel.

Coulibaly ist, wie bereits beschrieben, ein Féticheur, das heißt ein traditioneller Heiler, der mit einem Fetisch arbeitet, einer Figur, die einen Geist beherbergt. Coulibaly sorgt für diesen Geist, er gibt ihm Nahrung, in gewisser Hinsicht eine Wohnstatt, er befolgt gewisse Tabus – er vermeidet zum Beispiel den Kontakt mit Wasser, das der Geist nicht mag. Im Gegenzug hilft der Geist Coulibaly bei seinen Wahrsagungen, Diagnosen, Zukunftsvoraussagen, bei der Medikamentenherstellung und in seinem Alltag.

Ich kenne Coulibaly seit einigen Jahren. Paradoxerweise könnte man sagen: Je besser wir uns kennen, umso fremder werden wir uns. Den vorläufigen Höhepunkt dieser Bewegung markierte eine Reise, die wir zusammen in sein Heimatdorf in Mali unternahmen. Wir besuchten dort seinen Vater, von dem er seine Begabung geerbt und andere Heiler in der Umgebung, bei denen er seine Kenntnisse erweitert hat. Die Region dort nennt sich Bélédougou und ist über die Landesgrenzen hinaus berühmt-berüchtigt. „Ils sont trop forts là-bas, les féticheurs“, sagt man; und Coulibaly bemerkte mit einem gewissen Stolz: „Il n’y a ni de musulmans ni de chrétiens là-bas.“ Er sagte das im selben selbstbewussten Tonfall, wie wenn er jemandem erklärte, dass er nie eine Schule von innen gesehen hat, keinen Tag.

Dass die Reise zu diesen seinen Ursprüngen ein bisschen anstrengend für mich war, lag jedoch nicht primär an der Kirchen- und Schullosigkeit dieser Region. Die Gründe waren mehr ökonomischer Natur, und zwar ökonomisch im weitesten Sinn als das, was die Grenzziehung und den Austausch zwischen dem Eigenen und dem Nicht-Eigenen betrifft. Coulibaly war einem Erwartungsdruck ausgesetzt: Der Migrant, der aus der Fremde zurückkommt, muss zuhause zeigen, dass er es zu etwas gebracht hat. Er nimmt Statussymbole mit: So lief er beispielsweise die ganze Zeit mit meinem Walkman durch die Dörfer, aber auch ich selbst als weißer Freund war in gewisser Hinsicht ein prestigeträchtiges Accessoire oder Mitbringsel. Daneben waren natürlich Geschenke zu machen: Reis, Kaffee, Seife, Mayonnaise und Batterien für die Familie und die Verwandten, Kolanüsse und Alkohol für die Dorfältesten, Geld für die diversen Féticheurs. Ich wusste von Coulibaly und von andern, wie kostspielig, ja ruinös diese Besuche im Dorf waren, und ich bekam das am eigenen Leib zu spüren, indem ich als eine Art Überdruckventil für Coulibaly fungierte. Jeden Abend musste ich feststellen, dass wir abermals die Budgetgrenzen überschritten, übertreten hatten, entgegen allen eisernen Vorsätzen. Es schien da Kräfte zu geben, denen kaum zu widerstehen war, ein Sog von Erwartungen, Verführung, Vampirismus ... Es war wie verhext.

Gegen Ende unseres Aufenthaltes, das Geld war schon bedenklich knapp geworden und wir waren noch tausend Kilometer von zu Hause entfernt, besuchten wir einen mit Coulibaly befreundeten Féticheur in seinem Dorf. Normalerweise ließen wir uns in so einem Fall die Kaurimuscheln werfen oder ließen uns die Zukunft durch Zeichnungen im Sand voraussagen. Neben Erfreulichem zeigte sich dann meist auch Beunruhigendes am Horizont, das allerdings durch das Opfern eines Huhns oder auch mal eines Schafes abgewendet werden konnte. Sich solchermaßen gleich als Klient bei einem Heiler einzuführen hatte sich als adäquat und spannend erwiesen. An diesem Tag jedoch sagte ich zu Coulibaly, bevor wir das Haus des Heilers betraten:

„Dieses Mal werden wir uns keine Konsultation geben lassen. Wir haben zu wenig Geld. Wir werden bloß ein wenig plaudern. C’est bien compris?“

„Kein Problem.“

Wir begrüßten den Mann, setzten uns, Coulibaly wechselte ein paar Worte in Bambara mit ihm, dann holte der Wahrsager die Kauris aus seinem Zaubersack.

Ich sagte laut und entschieden:

„Wir machen keine Konsultation!“

Wieder ein Wortwechsel in Bambara, dann begann der Mann die Kauris zu werfen.

Ich packte Coulibaly am Arm.

„Hör mal, ich habe gesagt: keine Konsulation. Ich werde nichts zahlen. Nichts!“

„Kein Problem.»

Der Féticheur begutachtete den Orakelwurf und sagte zu Coulibaly:

„Am Tag, als David bei dir angekommen ist, ging es dir nicht gut. Du warst auf dem Polizeirevier. Du wärst fast im Gefängnis gelandet, wegen einer Frau, die eines Tages im Morgengrauen zu dir kam. Sie gab dir Geld, du hast gedacht, das ist das Glück, aber es kam ganz anders.

Nur dank eines alten Mannes, der für dich bürgte, bist du freigekommen.“

 

Ich schaute zu Coulibaly, ich war immer noch wütend, aber jetzt konnte ich nichts mehr sagen. Denn Coulibaly hatte zu weinen begonnen. Er sagte zu mir:

„Es ist unglaublich. Er hat alles gesehen. Erinnerst du dich, als du angekommen bist? Ich sagte dir, ich habe noch ein Problem zu regeln. Dann wurde es Abend, ich kam nicht. Schließlich bekamst du den Anruf von der Polizei. Ich konnte dir nicht sagen, was passiert war. Aber genau so, wie der Féticheur sagt, hat es sich zugetragen.“

Am Ende mussten wir ein Zicklein opfern, um diese unerfreuliche Geschichte wieder auf die richtige Bahn zu bringen. Ich winkte ab. Aber Coulibaly war so gerührt von dieser Wahrheit. Ein Hin und Her, peinlich, denn man kann nicht A sagen ohne B, die Vorhersage bekommen ohne nachher die Opfer zu machen. Aber wenn wir dieses Zicklein kauften, würde das Geld nicht reichen für die Heimreise. Was machten wir dann, pleite, irgendwo im Busch? Schließlich gab ich dem Mann 10 Franken Abfindung und wir machten uns – beschämt – aus dem Staub.

Die Heimreise wurde schwierig. Am Zoll wurde gestreikt, wir konnten die Grenze nicht passieren. Es hieß, der Streik könne noch zwei Tage dauern. So lange würde das Geld nicht reichen.

Ich sagte: „Siehst du? Ich habe dir gesagt, wir haben fast kein Geld mehr – aber du warst ja so sorglos. Du wolltest noch ein Zicklein opfern! Du bist sehr großzügig – mit meinem Geld. Wer bringt uns nach Hause, wenn uns das Geld ausgeht – dein Fetisch?“

Er entgegnete: „Alle diese Schwierigkeiten rühren nur daher, dass wir nicht alle vorgeschriebenen Opfer gemacht haben. Man kann nicht eine Konsultation machen und dann die Opfer weglassen. Man hat uns gesagt, es würde Schwierigkeiten geben. Voilà.“

„Du hättest also mit dem letzten Geld das Opfer bezahlt, im Vertrauen, dass das Geld dann schon vom Himmel fällt?“

„Es ist das Geld, das Geld bringt. Gegebenes Geld ruft Geld.“

Schließlich brachten uns zwei Jungen gegen eine kleine Entschädigung mit ihren Mopeds über die grüne Grenze, und wir erwischten einen Bus nach Abidjan, den wir mit dem letzten Sou gerade noch bezahlen konnten.

Erst im Nachhinein fällt mir auf, dass wir keine einzige Nacht in Coulibalys Dorf verbracht haben. Wie zufällig ergab es sich immer, dass wir am Abend gerade irgendwo anders waren und keine Gelegenheit mehr hatten zurückzukehren. Die Nacht ist die Zeit der Hexen. Die Hexen, von denen man sagt, dass sie dein Fleisch und deine Seele essen. Nun, ich verstehe Coulibaly. Ich weiß nicht, ob ich diese Reise noch einmal machen würde. Die Enteignung, das Ausnehmen, Aussaugen. Wie leer, ausgelaugt, ausgeraubt fühlte ich mich oft. Genau so, wie die Effekte der Hexerei beschrieben werden.

Aber auf der anderen Seite: Coulibalys Vertrauen in die Kraft dieser seltsamen Ökonomie. Geld geben bringt Geld. Exzess, Verausgabung, Potlatch. Das Opfer, das dich an den Rand des Ruins bringt, wird dich reich machen.30 Auf dieser Reise habe ich die Frustration dessen erlebt, der es zu etwas gebracht hat, und den man zu Hause bis aufs Hemd auszieht; aber auch, dass es jemandem wie Coulibaly ernst ist. Wer gibt, bekommt. Der Geizige wird am Ende verhext und verliert alles. Man muss ein Risiko eingehen, man muss mit hohen Einsätzen spielen – und nicht nur so tun als ob – um zu gewinnen. Das gilt für die „heidnische Ökonomie“, aber auch für eine Feldforschung.

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