Seewölfe Paket 13

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Selim war von dem Gelingen seines Planes völlig überzeugt. Er mußte es sein, denn er war über zwei Begebenheiten, die das Geschehen grundlegend ändern sollten, nicht im Bilde.

8.

Lagios war von den Männern des Dorfes zum Anführer des starken Trupps gewählt worden, der sich von den Olivenhainen aus in Richtung Pigadia in Bewegung gesetzt hatte. Iris, Melania, Kanos und seine Schwestern sowie alle anderen Frauen und Kinder waren unter der Bewachung von vier mit Flinten bewaffneten Männern im sicheren Schutz der Berghütten zurückgeblieben.

Zwei Männer hatten sich vom Trupp entfernt und eilten über einen Schleichpfad, den nur sie, nicht aber Selims Piraten, kannten, zur Bucht hinunter. Ungesehen und unbehelligt gelangten sie in die Grotten, wo ihre Fischerboote vertäut lagen.

Es gab eine Strömung, die bei ablaufendem Wasser von den Grotten zur Mitte der Bucht verlief. Diese Drift wurde von den Fischern benutzt, wenn sie zum Fang ausliefen. Auf dem Rückweg nutzten sie bei Flut eine in entgegengesetzter Richtung verlaufende Wasserbewegung, um in die Grotten zurückzukehren.

Es war Ebbe, der Zeitpunkt für das Vorhaben also günstig.

Lagios’ Freunde drapierten Segel, Netze und andere Utensilien, die in den Booten lagen, so, daß es im Dunkeln aussehen mußte, als säßen Gestalten auf den Duchten. Dann lösten sie die Leinen der Boote und sahen zu, wie die Fahrzeuge langsam, wie von Geisterhand gelenkt, in die Bucht hinausliefen.

Dobran war gerade an Bord der „Grinta“ gegangen, um die für den Angriff auf die Galeone erforderlichen Befehle zu geben.

Die acht Frauen führten die Gruppe an. Hasard schritt als erster hinter ihnen her, dann folgten die anderen Männer der „Isabella“ im Gänsemarsch. Es ging über einen Trampelpfad bergauf, zwischen Sträuchern und Bäumen auf ein paar wenige glitzernde Lichtpunkte zu, die jetzt in den Felsen über ihnen zu erkennen waren.

„Ein sicherer Platz“, sagte Ferris Tucker zu seinem Kapitän. „Nach da oben verirrt sich wohl kaum jemand. Und wer sollte auch kommen?“

„Piraten vielleicht“, meinte Shane.

„Ach wo, für die gibt es in diesem Nest doch nichts zu holen“, sagte Carberry.

„Ich weiß nicht, ich weiß nicht“, murmelte Old O’Flynn. „Die Sache will mir nicht gefallen. Sir, denk mal nach. Hier stimmt was nicht.“

„Aber was?“ fragte ihn der Seewolf.

„Das ist es ja“, zischte der Alte aufgebracht. „Ich grüble darüber herum, ich spür’s in allen Knochen, daß etwas höllisch am Stinken ist, aber mir fällt verdammt nicht ein, wo der Wurm steckt.“

„Mann, Donegal“, sagte Blacky. „Und wenn schon. Falls die Männer dieser Ladys hier mit Messern und Knüppeln über uns herfallen, erleben sie ihr blaues Wunder.“

„Ich glaube, sie meinen es ehrlich“, sagte Dan. „Und wir sind ganz üble Halunken, daß wir so argwöhnisch sind und ihre guten Absichten verkennen.“

Auch Jella und die anderen Frauen sprachen leise miteinander – in ihrer Muttersprache. Jella war zwar selbst nicht aus der Türkei, sprach aber fehlerfrei Türkisch und hatte sich den anderen angepaßt, die alle aus Anatolien und den Siedlungen des Taurus’ stammten.

Eine der Türkinnen, die mit Jella in der Mitte der Frauengruppe ging, fragte: „Verstehst du, was sie sagen, Jella?“

„Nein, sie sprechen jetzt wieder Englisch. Aber das soll uns nicht stören. Sie verstehen ja auch nichts von dem, was wir reden.“

„Selim wird mit uns zufrieden sein, nicht wahr?“

„Ganz bestimmt wird er das sein.“

„Aber glaubst du, daß diese Engländer tatsächlich Schätze an Bord haben?“

„Ich weiß nicht“, erwiderte Jella. „Vielleicht sind sie auch arme Hunde, aber das spielt keine Rolle. Wenn Selim ihnen allein ihr Schiff mit den vielen Kanonen und der Munition abnehmen kann, die sie garantiert an Bord haben, hat er schon genug gewonnen. Er ist seit langem darauf aus, eine große Galeone wie diese zu kapern. Mit drei Schiffen kann er noch kühnere Raubzüge unternehmen und sogar größere Häfen überfallen.“

„Ja. Aber mir würde es irgendwie leid tun, wenn Selim, Dobran und die anderen diese Männer hier allesamt töten würden“, sagte die Türkin. „Ich hätte lieber, daß sie sie gefangennehmen.“

Jella lächelte anzüglich. „Ich weiß schon, auf was du hinauswillst. Du würdest dich gern an den einen oder anderen dieser starken Burschen heranpirschen.“

„Du etwa nicht?“

„Der Schwarzhaarige mit den blauen Augen gefällt mir. Bestimmt ist er auch gut bewaffnet.“ Sie lachte leise. „Ja, ich würde ihn schon gern ausprobieren. Ich werde es Selim vorschlagen, die Engländer gefangenzunehmen und ebenfalls als Sklaven zu verkaufen.“

„Aber er soll sie nicht zu den Mädchen von Pigadia stecken, die wir in dem einen Haus eingesperrt haben.“

„So dumm wird er nicht sein. Keine Angst, ich passe schon auf. Diese Prachtkerle hier lassen wir uns doch von den schmutzigen kleinen Dorfweibern nicht wegnehmen.“

„Noch etwas“, flüsterte die Türkin ihr zu. „Der Goldschmuck, den Selim in den Häusern gefunden hat – ob er ihn wohl auch mit uns teilt?“

„Wahrscheinlich“, erwiderte Jella mit einer Grimasse. „Aber erwartet keine Wunderdinge. Er wird uns mit der üblichen Großzügigkeit behandeln – die Hälfte für ihn allein, zwei Drittel vom Rest für die Männer, und wir können uns um das raufen, was übrigbleibt.“

„Das ist nicht gerecht. Wir haben so manches Mal zum Gelingen seiner Überfälle beigetragen.“

„Ja. Aber für ihn sind Frauen nur halbe Menschen.“

„Auch, wenn sie bei ihm in der Koje liegen?“ fragte eine dritte hinter ihrem Rücken.

„Auch dann.“

„Er ist eine rohe Bestie“, murmelte eine vierte. „Ich hasse ihn.“

Jella senkte ihre Stimme. „Eines Tages reißen wir alles, was ihm gehört, an uns. Wir müssen uns nur einig sein.“

„Wir sind uns einig“, murmelten die anderen.

„Dann ist der Tag seines Unterganges nicht fern“, sagte Jella. „Wir können auch ohne ihn leben. Uns wird man überall mit offenen Armen aufnehmen.“

Weder sie noch die anderen sieben Frauen hatten bemerkt, daß die Zwillinge beim Klang ihrer Worte zu ihrem Vater aufgeschlossen hatten. Aufmerksam hatten Philip junior und Hasard junior die ganze Zeit über gelauscht.

Jetzt zupfte Philip junior seinen Vater am Ärmel.

„Junge“, sagte der Seewolf. „Ich habe dir schon mal erklärt, daß dies nicht die richtige Art ist, den Kapitän der ‚Isabella‘ anzusprechen.“

„Dad, Sir“, hauchte Philip. „Um Gottes willen, Verzeihung, aber wir haben dir was Wichtiges zu sagen – ohne daß diese – diese Frauenzimmer es merken.“

„Was furchtbar Wichtiges“, fügte Hasard junior hinzu. „Kannst du nicht mal ein Stück zurückbleiben?“

„Schießt los“, sagte ihr Vater. „Habt ihr verstanden, was sie gesprochen haben?“

„Ja“, erwiderten die beiden wie aus der Pistole geschossen.

„Also benutzen sie keinen Dialekt?“

„Sie sprechen Türkisch“, flüsterte Hasard junior. „Aber – Hölle und Teufel, Dad, vielleicht verstehen sie auch Englisch.“

„Nicht die Spur.“

„Ganz bestimmt nicht?“ fragte Philip junior zweifelnd. „Vielleicht hat diese Jella dich angelogen.“

„Moment mal“, sagte der Seewolf, in dessen blauen Augen jetzt die berüchtigten tausend Teufel zu tanzen begannen. „Das haben wir gleich.“ Er beugte sich leicht vor und sagte zu den Frauen, die ihm ihre Rücken zuwandten: „So, hereinlegen wolltet ihr uns also? In welche Falle lockt ihr uns denn? Soll ich euch kräftig den Hintern versohlen, oder rückt ihr freiwillig mit der Sprache heraus?“

Sie antwortete nicht und drehten sich nicht zu ihm um. Sie nahmen nach wie vor an, daß er sich mit seinen Männern unterhielt und seine Worte nicht für sie bestimmt waren.

Hasard grinste verwegen. „So, das war der Beweis. Und jetzt los, Jungs, spannt uns nicht länger auf die Folter. Über was haben sie sich unterhalten? Darüber, daß sie uns allen die Gurgel durchschneiden werden?“

„So ungefähr“, entgegnete Philip junior, dann begann er auf einen Wink seines Bruders hin Wort für Wort zu berichten, was Jella und die anderen getuschelt hatten.

Weder Jella noch die Türkinnen noch Selim selbst oder sonst jemand aus der Piratenbande, die Pigadia überfallen hatte, hätte auch nur im entferntesten geahnt, daß ausgerechnet die Zwillinge der türkischen Sprache perfekt mächtig waren. Was wußten sie denn auch von dem Schicksal, das den beiden schon kurz nach ihrer Geburt widerfahren war?

Lord Henry war in den Großmars seiner Galeone „Cruel Jane“ aufgeentert, zu Codfish, dem hageren Mann, der des öfteren als Ausguck fungierte. Im Osten krochen die ersten blassen Schleier des neuen Tages herauf, die Dämmerung kündigte sich an.

„Ich kann aber trotzdem noch nichts sehen“, sagte Codfish. „Weder die ‚Isabella‘ noch die Insel Rhodos.“

„Von der Insel sind wir nicht mehr weit entfernt“, sagte Henry und fuhr sich mit der Hand durch die zerzausten Haare. „Die Entfernung von Karpathos nach Rhodos beträgt etwa vierzig Meilen, jedenfalls steht es so auf meiner Karte eingezeichnet. Diese Entfernung haben wir inzwischen fast zurückgelegt.“

„Bei dem Wind schon“, meinte Codfish. „Aber die Frage ist nun, ob Killigrew im Nachlassen des Sturmes es nicht doch vorgezogen hat, Rhodos zu meiden. Nur der Teufel weiß, wohin er überhaupt will.“

„Ich kriege ihn schon noch“, sagte Lord Henry voll Grimm. „Die Rechnung, die wir zu begleichen haben, ist zu groß.“

„Allerdings. Wir haben ja alle ein Hühnchen mit ihm zu rupfen.“

„Den Schatz der Medici holen wir uns wieder, Codfish, verlaß dich drauf.“

 

Codfish schwieg, er war in diesem Punkt nicht so sicher. Henry verließ den Hauptmars und kehrte auf die Kuhl zurück, wo er Mechmed, den Berber, in finsterem Schweigen vorfand.

„Was hast du?“ fragte er ihn. „Gibt es für dich nichts zu tun? Ich habe dich nicht wieder an Bord genommen, damit du Maulaffen feilhältst.“

Mechmed richtete den düsteren Blick seiner jettschwarzen Augen auf Henrys Gesicht. „Ich habe von Dalida gehört, daß wir uns wieder mit diesem Engländer schlagen werden – diesem Seewolf. Ich sehe nicht ein, warum wir unser Leben riskieren sollen, nur damit du deine Rachepläne in die Tat umsetzen kannst.“

Henry reagierte gedankenschnell und für Mechmed völlig unerwartet. Er packte den Berber an seinemschwarzen Burnus, riß ihn zu sich heran und drückte ihn mit dem Rükken gegen den Großmast. „Mit anderen Worten, du willst dich vor einem Kampf drücken? Und deine vier Kumpane, diese Schakale, stehen ganz auf deiner Seite, was?“

In Mechmeds Augen flackerte Angst auf. „Das habe ich nicht gesagt.“

„Aber ich kann es mir denken. Weißt du, was das ist, du Hund? Das ist Meuterei. Und weißt du auch, was ich mit Meuterern tue?“

„Du knüpfst sie an der Rahnock auf“, antwortete Tim Scoby, der zu ihnen getreten war, an Mechmeds Stelle. „Mit solchen Kerlen fackeln wir nicht lange.“

„Nein!“ stieß Mechmed hervor. „Ich will nicht meutern. Ich wollte nur – meine Bedenken anmelden.“

„Wenn du Bedenken hast, hättest du nicht in Neapel zurück an Bord kommen sollen. Aber du warst ja so scharf darauf, mit uns zusammen den Schatz der Medici zurückzuerobern und daran beteiligt zu werden, nicht wahr?“

„Ich – wir gehören doch zusammen. Wir sind vollwertige Mitglieder deiner Mannschaft“, stammelte der Berber.

„Hör dir das an“, sagte Scoby zu Dark Joe, der jetzt mit zwei anderen Piraten ebenfalls interessiert näherrückte. „Mir kommen gleich die Tränen.“

„Seid still!“ fuhr Lord Henry sie an. Er blickte wieder Mechmed an, den er immer noch gegen den Mast gepreßt hielt. „Wage es nicht, so was noch mal zu sagen, du Wanze. Das nächste Mal lasse ich dich vor versammelter Mannschaft auspeitschen.“

„Jawohl, Sir.“

„Du wirst in jedem Gefecht voll deinen Mann stehen. Es war dir ja auch recht, den Levantiner zu überfallen. Da hattest du keinen Rückzieher vorgehabt.“

Mechmed schluckte. „Ich bereue meine Worte. Ich werde mich bessern. Zur Einsicht ist es nie zu spät.“

Wütend trat nun auch Scoby vor ihn hin. „Henry, laß mich nur eine Frage an diesen aalglatten Kerl stellen, nur eine.“

„Na los, Tim“, sagte Henry.

„Wer hat Reagan vor der toskanischen Küste in die See gestoßen, als wir mit dem Verband aus Livorno im Gefecht lagen? Wer war das?“

Mechmed sah ihn verblüfft an. „Ich weiß es nicht. Ich denke, Reagan wurde von der fallenden Rah erschlagen und außenbords gerissen.“

„Das denkst du? Aber befand sich Reagan später, bei der Schlacht in der Bucht von Elba, nicht plötzlich an Bord der ‚Isabella‘?“

„Nein, nein“, flüsterte der Berber. „Das ist doch gar nicht erwiesen.“

„Ich behaupte noch immer, Reagans Todesschrei gehört zu haben“, sagte Scoby. „Unsere eigenen Kugeln haben ihn getötet, glaube ich. Es will mir nicht aus dem Kopf. Schwöre, daß du an seinem Verschwinden keine Schuld hast, Mechmed.“

„Ich schwöre es“, sagte Mechmed hastig. „Bei allem, was mir heilig ist.“

„Dir ist nichts heilig“, brummte Scoby. „Dir glaube ich kein Wort. Ich bin immer noch nicht überzeugt, verstehst du? Halte dir das stets vor Augen. Ich beobachte dich, verlaß dich darauf.“

Über ihren Häuptern stieß Codfish plötzlich einen Ruf aus. „Ich sehe Land! Backbord voraus! Das kann nur Rhodos sein!“

„Ausgezeichnet.“ Lord Henry stieß den Berber von sich. „Los, hau ab nach vorn auf die Back, da müssen noch ein paar Fallen dringend klariert werden.“

Mechmed lief davon, froh, dem Griff des Piratenführers entwichen zu sein. Henry drehte sich zu Tim Scoby, Dark Joe und den beiden anderen Männern um. „Wegen der Sache mit Reagan unterhalten wir uns später noch, ich will endlich Klarheit haben. Jetzt sehen wir nach, ob sich Killigrew irgendwo am Ufer der Insel verkrochen hat. Wir runden sie im Westen und gehen dabei dicht unter Land, so daß uns keine Einzelheit entgehen kann.“

Er malte sich aus, wie es sein würde, wenn sie wieder mit den Männern der „Isabella“ zusammentrafen. Philip Hasard Killigrew ahnte ja nicht, daß es ihm, Henry, in Neapel gelungen war, sich aus der Affäre zu ziehen.

Don Gennaro hatte die Männer der „Cruel Jane“, zur Rechenschaft ziehen wollen, denn Henry hatte ihm eine dicke Lüge aufgetischt: Er hatte behauptet, der Seewolf und dessen Mannschaft wären spanische Spione. Gennaro hatte folglich einen Erzhaß auf die Seewölfe entwickelt und sich nur zu gern mit Henry gegen die vermeintlichen Feinde verbündet.

Dann aber hatte Killigrews Bootsmann den Piratenkönig von Neapel gefangengenommen und ihn über seinen Irrtum aufgeklärt. Gennaro, kaum wieder an Land gelassen, hatte sich auf Henry stürzen wollen, doch Henry und den anderen war es inzwischen gelungen, ein Boot zu besetzen und an Bord der „Cruel Jane“ zurückzukehren. Schleunigst hatte man den Anker gelichtet und war von der Reede des Hafens verschwunden.

Überall hatte Henry nach dem Seewolf gesucht – auf Sizilien, in Piräus und auf Kreta, weil er annahm, daß die „Isabella“ weiterhin östlichen Kurs segeln würde. Nun hatte er durch den dicken Levantiner die Bestätigung erhalten, daß seine Annahme richtig gewesen war.

Wenn auf Rhodos eine Begegnung stattfinden sollte, würden dem Seewolf die Augen übergehen! sicherlich rechnete er nicht damit, daß die „Cruel Jane“ jemals wieder seinen Kurs kreuzen würde.

Killigrew, dachte Lord Henry, ich töte dich und hole mir den Schatz der Medici-Familie zurück. Diesmal siege ich, diesmal bringe ich dich um und lasse dich für die Schmach bezahlen, die du mir zugefügt hast.

„Vier Strich Backbord!“ rief er über Deck. „Wir fallen vom Wind ab und gehen auf Kurs Nord-Nord-West!“

9.

Selim saß auf der Estrade in Lagios’ und Iris’ Haus und wartete. Er würde hören, wenn Jella und die anderen Frauen mit den Fremden das Dorf betraten. Dann brauchte er seinen Männern, die sich überall in den übrigen Gebäuden verschanzt hatten, nur ein Zeichen zu geben, und sie würden diese Narren zusammenschießen.

Die drei Frauen, die mit den sieben anderen von Jella und Ali von den Schiffen geholten Frauen nach Pigadia heraufgekommen waren, hatte er außerhalb des Ortes postiert, damit sie als zusätzliche Lockvögel mit Weinkrügen bereitstanden. Die Männer der Galeone sollten die Augen aufreißen, der Wein und der Anblick der weiblichen Formen sollte sie trunken stimmen und ihren Verstand soweit verblenden, daß sie bereitwillig in die Falle gingen.

Dobran erblickte genau zu diesem Zeitpunkt von Bord der „Grinta“ aus, daß sich Boote der Schebecke und der Ghanja näherten – Boote, die aus dem Nichts aufgetaucht zu sein schienen.

Männer saßen auf den Duchten der Boote, jedenfalls sah es in der nur zögernd verblassenden Dunkelheit so aus.

Die Schebecke und die Ghanja hatten die Anker gelichtet und schickten sich an, zu wenden und mit dem Ebbstrom die Bucht zu verlassen, doch es war vorauszusehen, daß die Boote sie noch vorher erreichen würden.

„Zurück!“ schrie Dobran ihren vermeintlichen Insassen von der Back der „Grinta“ aus zu. „Zurück, oder wir schießen!“

Die Boote glitten mit unverändertem Kurs auf die Piratenschiffe zu. Dobran dachte an die jungen Männer des Dorfes Pigadia, die angeblich zum Fischen ausgelaufen und dann vom Sturm überrascht worden waren. Jetzt schienen sie zurückgekehrt zu sein und wußten offenbar schon über das, was sich im Ort ereignet hatte, Bescheid. Hatten die Frauen und Kinder, denen die Flucht gelungen war, es ihnen gesagt?

Wie waren die Boote jedoch in die Bucht gelangt, ohne vom Ausguck der Schebecke und der Ghanja bemerkt zu werden? Gab es etwa noch eine zweite, geheime Zufahrt?

„Zurück!“ rief Dobran noch einmal, aber wieder erhielt er weder eine Antwort, noch trafen die gedrungenen Gestalten auf den Duchten irgendwelche Anstalten, den Befehl zu befolgen.

„Sie wollen entern!“ schrie einer der Piraten auf der Kuhl der Schebecke.

„Vielleicht haben sie Pulver, mit dem sie uns in die Luft jagen!“ rief ein anderer.

Dobran tat genau das, was er nicht hätte tun sollen. Er griff nach einer Muskete und legte auf die Boote an.

„Eröffnet das Feuer!“ befahl er den anderen.

Musketen- und Arkebusenläufe schoben sich reihenweise über das Schanzkleid der „Grinta“, und auch drüben auf der Ghanja bereitete man sich in aller Eile auf die augenscheinlich bevorstehende Auseinandersetzung vor.

Dobran drückte als erster ab. Sein Schuß peitschte auf, eine weißliche Qualmwolke puffte hoch. Er traf eine der „Gestalten“, und jetzt feuerten auch die anderen. Ein Stakkato von Schüssen entlud sich in die Boote. Auf den Duchten sanken die von Lagios’ Freunden präparierten Attrappen zusammen. Einige fielen mit dumpfem Klatschen ins Wasser.

Plötzlich erkannte Dobran, daß sie getäuscht worden waren.

„Beim Scheitan!“ stieß er zornig hervor. „Das sind ja gar keine Männer! Wir sind einem faulen Trick aufgesessen!“

Das erste Boot stieß mit dem Bug gegen die Bordwand der „Grinta“ und legte sich längsseits.

„Wir müssen Selim benachrichtigen, was geschehen ist“, sagte einer der Piraten.

„Keine Zeit!“ rief Dobran. „Wir laufen sofort aus und segeln zu der anderen Bucht! Hoffen wir, daß unsere Schüsse dort nicht gehört worden sind, sonst sind die Männer der Galeone gewarnt!“

Er ahnte nicht, daß sich seine Befürchtungen bereits bewahrheitet hatten. In der Ankerbucht der „Isabella“ ließ Ben Brighton, aufgeschreckt durch die knallenden Gewehrschüsse, Klarschiff zum Gefecht rüsten. Die Stückpforten der „Isabella“ wurden in aller Eile hochgezogen, die Siebzehnpfünder ausgerannt. Vorsorglich ließ Ben den Anker lichten, um beweglich zu sein.

Mit sorgenvoller Miene blickte er zum Ufer. Hasard hatte ihm die Anweisung gegeben, nur dann mit Verstärkung an Land zu gehen, wenn er ein bestimmtes, vorher vereinbartes Zeichen mit seinem Radschloß-Drehling gab. Aus der Art, wie die Schüsse gefallen waren, ließ sich jedoch nicht schließen, daß er, der Seewolf, es gewesen war, der gefeuert hatte.

„Was mag da bloß los sein?“ fragte Ben Smoky, der zu ihm getreten war.

„Vielleicht haben Hasard und die anderen die Jagd auf das Inselwild eröffnet“, sagte Smoky.

„Nein, das glaube ich nicht. Die Schüsse fielen nicht im Inneren der Insel, sondern beim Südufer.“ Ben deutete in die entsprechende Richtung.

„Teufel noch mal“, sagte Smoky. „Wir kriegen noch Verdruß. Dicken Verdruß, schätze ich.“ Er wußte nicht, wie recht er behalten sollte.

Der Südostwind trug die Laute der Musketen- und Arkebusenschüsse nach Pigadia hinauf. Selim fuhr von der Estrade hoch und lief in die Gasse hinaus. Auch seine Männer waren alarmiert und steckten die Köpfe zu den Fenstern und Türen hinaus.

„Wer hat geschossen?“ fragten sie. „Was hat das zu bedeuten?“

„Es ist etwas schiefgegangen“, sagte Selim und winkte Osman, Ali und Firuz zu sich, die zu ihm eilten. „Dobran muß angegriffen worden sein. Los, mir nach!“

Er lief zum östlichen Ausgang des Dorfes, die anderen folgten ihm. Immer mehr Gestalten lösten sich aus den Türen der Häuser, und verwundert drehten sich auch die Wachen um, die vor dem Haus mit den gefangenen Frauen und Mädchen standen, als könnten sie von hier aus erkennen, was in der Bucht vorging.

Für Lagios und seinen Trupp von Männern waren die Schüsse ein Zeichen, nunmehr von Westen her in das Dorf einzudringen. Sie waren den Häusern sehr nahe, hatten sich zwischen niedrigem Gestrüpp auf die Bäuche gelegt und robbten auf die Eingänge der Gassen zu, die ihnen wie schmale, zahnlose Münder entgegengähnten.

Hasard und seine zehn Begleiter näherten sich unterdessen von Süden her. Sie wußten jetzt, daß das Dorf von türkischen Seeräubern besetzt worden war und man unschuldige Menschen gefangengesetzt hatte. Das Krachen der Schüsse mußte den Seewolf das Schlimmste befürchten lassen.

Er ließ die Maske der Arglosigkeit fallen, die er vorläufig noch hatte wahren wollen, fallen und hastete auf dem schmalen Pfad an den Frauen vorbei, die jetzt aufgeregt durcheinandersprachen. Er langte bei Jella an, griff nach ihrem Arm und riß sie mit sich fort. Mit wenigen Schritten war er um die letzte Biegung herum, die ihn noch von Pigadia trennte, lief auf das erste Haus zu und holte den Drehling, den er am Lederriemen trug, von seiner Schulter.

 

Drei Frauen stellten sich ihm in den Weg. Jella versuchte, sich ihm zu entwinden und begann zu schreien. Er zerrte sie an sich vorbei, stieß sie in die offene Tür des Hauses und packte sofort auch die drei anderen, die nicht recht zu begreifen schienen, was gespielt wurde.

Eine nach der anderen schob er durch die Tür, dann fuhr er zu den anderen herum, griff sich die nächste und beförderte auch sie in das Innere des Hauses.

„Blacky, Luke, Gary“, sagte er. „Ihr paßt auf sie auf. Los, beeilt euch.“ Er faßte die nächste Frau, die an ihm vorbeischlüpfen wollte, drehte sie an den Hüften herum und schickte sie Jella und deren schimpfenden Freundinnen zu. „Sperrt sie alle in dieses Haus, und gebt acht, daß sie nicht schreien und ausreißen. Stopft ihnen von mir aus den Mund zu.“

Er lief weiter, ohne auf seine Männer zu warten. Seine Söhne folgten ihm wieselflink und überholten selbst Ferris Tucker, Big Old Shane und den Profos, die sich schon sehr schnell voranbewegten.

Hasard hätte die Zwillinge lieber bei den Frauen zurückgelassen, aber er fürchtete, daß sie mit ihnen nicht fertig wurden. Jella und ihre zehn Begleiterinnen waren ausgekochte, mit allen Wassern gewaschene Huren, die man nicht unterschätzen durfte.

So brachte Hasard seine Söhne nun doch in Gefahr. Gemeinsam stürmten sie die Gasse von Pigadia, die sich vor ihnen öffnete. Hinter ihnen waren Ferris, Shane und Ed, dann folgen die beiden O’Flynns. Der Alte bewegte sich mit einer Schnelligkeit und Gewandtheit voran, über die ein Fremder hell erstaunt gewesen wäre.

Aber ein O’Flynn hielt sich nun mal nicht zurück, wenn es darum ging, sich ins Getümmel zu stürzen, auch dann nicht, wenn er eigentlich durch sein Holzbein hätte behindert sein müssen.

Die Wächter des Frauengefängnisses vernahmen die Schritte, die sich durch die Gasse näherten, und fuhren zu Hasard und den Zwillingen herum.

„Stehenbleiben!“ schrie der eine.

„Werft die Waffen weg!“ schrie Philip junior, ebenfalls auf türkisch.

Die Posten dachten nicht daran, dieser Aufforderung zu gehorchen. Sie brachten ihre Musketen in Anschlag auf die Heranstürmenden.

„Hinlegen!“ schrie Hasard.

Er sprang zur Seite, duckte sich und überrollte sich auf dem Pflaster. Die Zwillinge folgten seinem Beispiel, wieder sehr flink und fast katzengleich.

Ferris, Shane, Carberry und die O’Flynns gingen ebenfalls in Dekkung, gerade noch rechtzeitig genug, um sich vor den jetzt heranpfeifenden Schüssen der Piraten in Sicherheit zu bringen.

Hasard lag auf dem Bauch, hob den Radschloß Drehling und feuerte auf die Gegner. Er zielte auf ihre Beine, traf sie aber voll, als sie hinter dem Türrahmen Schutz suchten.

Selim, Osman, Ali, Firuz und die anderen Piraten, die inzwischen schon auf dem zur Bucht führenden Pfad waren, wirbelten im Krachen der Schüsse wieder herum und kehrten zum Dorf zurück.

Der Seewolf kroch bis zu den Toten, stieß die Tür des als Gefängnis dienenden Hauses auf und rief auf spanisch: „Habt keine Angst, wir sind hier, um euch zu befreien!“

Die jungen Frauen und Mädchen schrien entsetzt auf. Die meisten von ihnen waren nur noch notdürftig bekleidet, weil Jella und die Türkinnen ihnen ihre Tracht abgenommen hatten. Ihrer Kavais beraubt, fühlten sie sich noch schutzloser als zuvor. Sie klammerten sich in Todesangst aneinander, weil sie keins von Hasards Worten verstanden und glaubten, es wären Selims Piraten gewesen, die sich im Streit darum, wer als erster über die Mädchen herfallen durfte, gegenseitig beschossen hatten.

Philip und Hasard junior schlossen zu ihrem Vater auf.

„Dad, laß uns versuchen, auf türkisch mit ihnen zu reden“, sagte Philip junior. „Vielleicht ist eine unter ihnen, die wenigstens ein paar Worte kann.“

„Achtung!“ schrie Big Old Shane.

Hasard und seine Söhne ließen sich wieder fallen. Von einem der Fenster aus zuckte ein Mündungsblitz zu ihnen herüber. Die Kugel sirrte heran und bohrte sich neben dem Türrahmen in den weißen Verputz des Hauses. Wieder kreischten die Mädchen in panischem Entsetzen.

Carberrys Feuerwaffe, ein Tromblon, flog hoch und spuckte Feuer und Eisen aus. Von dem Fenster her ertönte ein gellender Schrei. Die Gestalt eines Mannes wurde sichtbar. Er richtete sich auf, ließ die leergefeuerte Waffe los, die er in den Händen hielt, und brach in dem Raum, in dem er sich verschanzt hatte, zusammen. Die leere Muskete landete mit schepperndem Laut auf dem Pflaster der Gasse.

Die Zwillinge krochen zu den Mädchen von Pigadia in den Raum, und Philip sprach auf sie ein.

Endlich meldete sich eine von ihnen und sagte: „Ja, ich habe ich verstanden, Junge. Ihr seid zu unserer Rettung hier. Ich übersetze es sofort meinen Freundinnen, damit sie sich beruhigen. Aber wo sind unsere Leute geblieben – Melania, Iris, die Frauen, die Kinder und unsere Männer?“

Philip junior konnte nur mit den Schultern zucken. „Ich weiß es nicht. Keine Ahnung.“

„Wir kriegen auch das noch heraus“, sagte sein Bruder. „Keine Sorge, wir haben die Situation hier völlig im Griff.“

Das war zwar eine sehr optimistische Beschreibung der Lage, mehr noch, eine Übertreibung, aber die Selbstsicherheit, mit der die Zwillinge auf die Mädchen einsprachen, tat ihre Wirkung. Niemand schrie mehr, hier und da atmete jemand auf.

Hasard, Shane, Ferris, Ed und die O’Flynns hielten aufmerksam nach weiteren Heckenschützen Ausschau, doch es zeigte sich keiner mehr. Sie erhoben sich und gingen zu den Leichen der alten Männer, die nach wie vor in der Gasse lagen.

„Dieser Selim hat wie ein Teufel gewütet“, sagte der Seewolf. „Die Bewohner des Dorfes werden es mit dem Blut der Piraten vergelten wollen, aber wir müssen verhindern, daß es hier ein Gemetzel gibt.“

Er fuhr plötzlich auf dem Stiefelabsatz herum, doch es war schon zu spät: Von hinten hatten sich Lagios und dessen starker Trupp von vierzig Männern genähert. Lautlos hatten sie sich, jeden Schleichgang ausnutzend, in den Ort gepirscht. Jetzt richteten sie ihre wenigen Flinten auf die Seewölfe und hoben in der Annahme, die Mörder und Plünderer vor sich zu haben, ihre Knüppel und Messer.

„Das sind sie“, sagte Lagios. „Auf sie! Schlagen wir sie nieder. Einige von uns werden sterben, aber sie können uns nicht alle töten.“

Hasard konnte zumindest aus dem Tonfall, mit dem er sprach, heraushören, was ihnen jetzt bevorstand. Er ließ seinen Drehling sinken und hob beide Hände. „Wir sind Freunde, begreift ihr das nicht?“

„Das ist eine Finte, um uns zu täuschen!“ rief Lagios. „Geht nicht darauf ein!“

Entschlossen rückte er mit seinen Männern auf die Seewölfe zu.

„Sir“, sagte Ferris Tucker. „Wir können uns doch nicht einfach abknallen und erstechen lassen. Wir müssen uns wehren.“

„Warte noch einen Moment“, sagte Hasard. Er hatte gesehen, daß hinter der offenen Tür des Frauengefängnisses eine schwache Bewegung war.

„He“, raunte Dan O’Flynn ihnen zu. „Der eine Mann hier lebt noch. Ich glaube, er will aufstehen.“

Auch Lagios und die anderen Männer von Pigadia hatten es bemerkt.

„Antos!“ rief Lagios. „Komm hierher – zu mir!“

Antos war wieder bei Bewußtsein. Er hörte die Stimmen, die über ihm waren, sie dröhnten in seinen Ohren wie vorher, als er in der Gasse zusammengesunken war und das Gelächter Poseidons vernommen zu haben glaubte.

Er verspürte auch die Schmerzen in seinem Gesicht, aber er wußte nicht, daß der Krummsäbel eines Piraten ihn getroffen hatte. Er dachte nur: Die Götter sprechen zu mir, ich bin tot. Ich bin schon immer tot gewesen. Der Styx ist überquert, Hades und Poseidon warten auf ihrem Thron, um mich den Meinen vorzuführen.

Schwerfällig erhob er sich und wankte an den Häuserfassaden entlang, jedoch nicht in Lagios’ Richtung, sondern an den Seewölfen vorbei zu Melanias Haus. Er orientierte sich an dem Geruch der verglimmenden Holzscheite, die in Melanias Ofen schwelten, und an dem Duft des noch frischen Gebäcks, das sie ihm angeboten und das er kaum angerührt hatte.