Seewölfe Paket 13

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2.

Über der Felsenmoschee der Derwische lag eine bedrohliche Stille. Das rituelle Singen und Tanzen, das nach der Verurteilung Sobocans fortgesetzt worden war, hatte inzwischen aufgehört. Nur vereinzelt drang der Ruf eines Nachtvogels durch die uralten Gemäuer der Ruine.

Als Sobocan aus der Bewußtlosigkeit erwachte, glaubte er zunächst, die Welt drehe sich in einem rasenden Wirbel um ihn. In seinem Schädel explodierten tausend Pulverfässer, und er hatte ein Gefühl, als hielten ungeheure Lasten seinen Körper am Boden fest.

Blinzelnd öffnete er die Augen, doch das einzige, was sich seinem Blick bot, war Dunkelheit. Als er dann noch die Kühle und Feuchtigkeit seiner Umgebung spürte, kehrte seine Erinnerung zurück.

Der Körper Sobocans straffte sich. Mit einer reflexartigen Bewegung wollte er vom Boden aufspringen. Aber es blieb bei dem Versuch, denn man hatte ihm wieder Hände und Füße zusammengebunden.

Während ihn diese bittere Erkenntnis wie ein Hammerschlag traf, fielen ihm die Worte Ibrahim Salihs ein. Und gleichzeitig stieg eine ohnmächtige Wut in Sobocan auf. Man wollte ihn beseitigen, und das im Auftrage Barabins, daran gab es für ihn keinen Zweifel mehr.

Hundert Schläge sollte er erhalten. Außerdem hatten ihn die Derwische zum Tode verurteilt, und das eigentlich nur, weil er sich einen Rest von Menschlichkeit bewahrt hatte.

Ein schmerzliches Lächeln quälte sich in Sobocans Gesicht. Man hatte ihn nicht ausreden lassen, sondern einfach niedergeschlagen. Dennoch grenzte es bereits an ein Wunder, daß er überhaupt noch am Leben war. Aber Ibrahim Salih, dieser eiskalte, berechnende Schurke, würde nicht davor zurückschrekken, das Urteil zu vollstrecken.

Das Oberhaupt der Derwische hatte seinen Plan genau durchdacht. Unter dem Deckmantel der Religion würden auch seine Männer ohne weiteres mitspielen.

Auch Salih mußte sich darüber im klaren sein, daß er die hundert Schläge nicht überstehen würde. Sollte das trotzdem der Fall sein, würde das zusätzlich ausgesprochene Todesurteil dafür sorgen, daß er, Sobocan, zu Beginn des neuen Tages nicht mehr unter den Lebenden weilte.

Als Sobocans Blick die schmale Maueröffnung seines Verlieses streifte, durch die das spärliche Licht des Mondes auf die gegenüberliegende Mauer fiel, durchzuckte ihn plötzlich ein eisiger Schreck. Wieviel Zeit war seit der gespenstischen Szene im Kreis der Derwische überhaupt vergangen? Wie lange würde es noch dauern, bis das erste Morgengrauen hereinbrach? Konnten nicht jeden Moment seine Mörder die schwere Holztür öffen? Vielleicht stand derjenige, den das Los getroffen hatte, schon mit dem Richtschwert bereit?

Sobocan wußte, daß er keine Zeit verlieren durfte. Aber was sollte er tun? Gab es überhaupt eine Möglichkeit für ihn, den Derwischen zu entrinnen?

Schließlich war es der Gedanke an Slobodanka, der ihn aus seinen Überlegungen riß. Seine alte Entschlossenheit und ein eiserner Lebenswille packten ihn.

Nachdem es ihm gelungen war, seinen Oberkörper aufzurichten, versuchte er mühsam, seine Umgebung mit den auf den Rücken gefesselten Händen abzutasten. Aber es waren nur kalte, feuchte Steine, die er berührte.

Trotzdem gab er nicht auf. Es mußte eine Chance für ihn geben. Er konnte Slobodanka nicht allein auf dieser Welt, in der sich die Menschen gegenseitig wie wilde Tiere zerfleischten, zurücklassen. Er liebte sie, und er wußte, daß sie auf ihn wartete.

Ein Hoffnungsschimmer durchzuckte Sobocan, als seine Fingerspitzen plötzlich über eine schroffe Steinkante glitten. Damit mußte er es versuchen. Die Kante war zwar nicht messerscharf, aber vielleicht würde es ihm gelingen, seine Fesseln damit durchzuscheuern.

Sofort ging der junge Bursche an die mühsame und schmerzhafte Arbeit. Er achtete nicht darauf, daß ihm schon bald die Haut in Fetzen von den Handgelenken hing. Der Wille, am Leben zu bleiben, ließ ihn den Schmerz vergessen. Der Gedanke an die unaufhaltsam fortschreitende Zeit verlieh ihm neuen Antrieb. Wann würde der neue Tag anbrechen? Würde er es noch schaffen, seine Fesseln zu lösen? Verbissen arbeitete er weiter, bis er einen plötzlichen Ruck verspürte – dann konnte er seine Hände frei bewegen.

Ein Gefühl der Dankbarkeit durchströmte Sobocan. Er hatte es geschafft, seine Hände waren frei. Sofort warf er seinen Körper herum, um auch die Fußfesseln zu bearbeiten. In den Druck seiner Beine konnte er mehr Kraft legen, so daß auch die dünnen Taue um die Fußgelenke in kurzer Zeit durchgescheuert waren.

Sein Atem ging schwer, als er sich wieder völlig frei bewegen konnte. Sofort stand er vom Boden auf, seine Glieder waren kalt und steif geworden. Mit zusammengekniffenen Lippen rieb er sich die schmerzenden Handgelenke. Nur langsam spürte er, wie ein wenig Wärme in seinen drahtigen Körper zurückströmte.

Die anfängliche Zuversicht Sobocans klang rasch wieder ab, denn auf dem Weg in die Freiheit gab es noch gefährliche Hindernisse zu überwinden.

Wie wollte er je aus diesem dunklen Verließ herauskommen, ohne von den Derwischen bemerkt zu werden?

Es gab nur einen einzigen Weg, und der führte durch die Tür, die aus dikken, grobbehauenen Planken bestand und verriegelt war. Niemals würde ihm gelingen, sie von innen zu öffnen.

Da fielen ihm die Wachen ein.

Mit ziemlicher Sicherheit ließ Ibrahim Salih das Gefängnis bewachen, obwohl die Voraussetzungen für eine Flucht äußerst gering waren. Sobocan hoffte es jedenfalls, denn ohne Hilfe von außen war er verloren, auch wenn es ihm gelungen war, die Fesseln abzustreifen.

Sobocan beschloß, es mit einem simplen Trick zu versuchen. Würde er durch lautes Rufen oder Schreien die Aufmerksamkeit auf sich lenken, dann würde man sich wahrscheinlich nicht darum kümmern, sondern es als ein Zeichen seiner Todesangst werten. Außerdem bestand dabei die Gefahr, daß der Lärm von den anderen Derwischen gehört wurde.

In fieberhafter Eile wog Sobocan seine Möglichkeiten und Chancen gegeneinander ab, während seine Hände über das kalte Gestein tasteten. Als es ihm schließlich gelungen war, einen etwa faustgroßen Steinbrocken aus dem zum Teil unbehauenen und geröllhaltigen Fels zu lösen, umklammerten seine Finger die primitive, aber notfalls recht wirksame Waffe.

Sobocan tastete sich in die Nähe der Tür und pochte einige Male mit dem Stein dagegen.

Er hielt den Atem an. Aber nichts rührte sich.

Da klopfte er erneut gegen die Bohlen und wartete.

Plötzlich drang ein lautes Gähnen zu ihm herein. Es folgte ein scharrendes Geräusch, dann tönte eine verschlafen klingende Stimme durch die Tür.

„Was ist los? Warum klopfst du da drin?“ Die Stimme klang verärgert, als sie fortfuhr: „Das wird dir auch nicht mehr helfen, du Bastard. Hast dich wohl an die Tür geschleppt, um mir das bißchen Schlaf zu rauben, was? Wenn du keine Ruhe gibst, komm ich rein und gab dir was auf den Schädel.“

Ein glucksendes Lachen folgte, dann kehrte wieder Stille ein.

Sobocan atmete auf. Es hatte nur ein Mann gesprochen. Wahrscheinlich hatte man doch nur einen Wächter abkommandiert.

Er schlug abermals mit dem Stein gegen die Bohlen.

„Möge dich Allah verderben, du Hund!“ schnaufte es draußen. „Du gönnst wohl einem rechtschaffenen Mann nicht mal eine Mütze voll Schlaf? Nun gut, wenn du es nicht anders haben willst, dann werde ich dich eben zur Ruhe bringen, das wirst du gleich merken.“

Sobocans Herz klopfte bis zum Hals, als der schwere Eisenriegel mit einem quietschenden Geräusch zurückgeschoben wurde.

Die Tür schwang auf und ein kleines Tranlämpchen warf sein trübes Licht in das finstere Gemäuer.

In der Türöffnung erschien eine vierschrötige Gestalt, deren Körper in ein langes, helles Derwischgewand gehüllt war. Nur der hohe Hut fehlte, was wohl daran lag, daß es sich damit nicht gerade bequem schlafen ließ. Die einzige Waffe, die der Mann bei sich trug, war ein Dolch, der im Gürtel steckte. Der Bursche mußte sich ziemlich sicher fühlen, weil er den Gefangenen in Fesseln wähnte.

Sobocan hatte sich flach gegen die Mauer neben dem Eingang gedrückt. Die Hand, in der der schwere Steinbrocken lag, war bereit zum Zuschlagen.

Als der Derwisch den Gefangenen nirgends sah, reagierte er verblüfft.

„Wo bist du, du räudiger Hund?“ stieß er hervor, aber weiter gelangte er nicht.

Sobocans Hand mit dem Stein sauste nach unten – und traf.

Mit einem erstickten Laut sank der Derwisch in die Knie, aber er schien, wie Sobocan zu seinem Erstaunen feststellte, hart im Nehmen zu sein. Der Tonbehälter der Lampe war seinen Händen entglitten und am Boden zerbrochen. Für einen Augenblick bildete der brennende Talg eine Lache auf dem Steinboden und tauchte den Raum in flackerndes Licht.

Nachdem der Derwisch seinen Sturz abgefangen hatte, zuckte seine rechte Hand zum Gürtel, um den Dolch hervorzuholen. Schon blitzte die scharfe Waffe in seiner Hand auf, und er warf sich mit einer Verwünschung auf den Lippen herum, um Sobocan zu töten.

Doch diesem gelang es, den gefährlichen Hieb abzublocken. Mit eisernem Griff umklammerte er das Handgelenk des Angreifers und schmetterte die Hand mit dem Dolch gegen die Felswand. Der Derwisch stieß einen Schmerzenslaut aus, als sich seine Hand öffnete und die Waffe auf den Steinboden klirrte.

Aber er hatte sich schnell wieder gefaßt. Sein Gesicht wirkte haßverzerrt, als er das rechte Bein anwinkelte, um Sobocan mit einem Tritt aus seiner Reichweite zu befördern. Doch der junge Bursche reagierte blitzschnell. Ein zweites Mal traf der Steinbrocken den Schädel des Derwischs, und diesmal erschlaffte die hochgewachsene Gestalt. Der schwere Körper rutschte an der feuchten Mauer hinunter und schlug hart auf den Stein.

 

Er würde sich vorerst nicht mehr rühren.

Sobocan griff rasch nach dem Dolch des Derwischs und schob ihn in den Gürtel seiner, Segeltuchhose. Auch den Steinbrocken, der sich als brauchbare Waffe erwiesen hatte, vergaß er nicht, als er durch die Türöffnung huschte. Er schloß die Tür und schob den großen Eisenriegel vor.

Sein Atem ging keuchend, und dennoch durchströmte ihn ein Gefühl des Triumphs. Es war ihm gelungen, sich aus eigener Kraft aus dem dunklen Gewölbe zu befreien. Doch dieses wohltuende Gefühl verflüchtigte sich rasch wieder, als Sobocan erkannte, daß wohl noch ein weiter Weg vor ihm lag. Noch war er nicht lebend aus dieser Felsenmoschee heraus, und er würde äußerste Vorsicht an den Tag legen müssen, wenn er Salih und dessen Meute entrinnen wollte.

Wie ein dunkler Schatten tastete sich Sobocan den schmalen Gang entlang. Alles war still, niemand schien etwas von dem nächtlichen Zweikampf bemerkt zu haben. Nachdem er ungehindert zwei Treppen hinaufgestiegen war, befand er sich plötzlich in der Nähe eines Torbogens, der den Blick auf den Innenhof der Moschee freigab.

An einer Mauer steckten noch zwei Fackeln in ihren Metallringen. Sie brannten nur noch schwach, ihr trüber Schein tauchte den Hof in spärliches Licht. Die Glut des Feuers, das während des nächtlichen Zeremoniells gebrannt hatte, war bereits erloschen. Trotz der frischen Nachtluft, die Sobocan tief in seine Lungen sog, hing immer noch der Geruch von Weihrauch und Gewürzen über diesem gespenstischen Ort.

Einige vorsichtige Blicke überzeugten Sobocan davon, daß sich niemand im Hof aufhielt. Er beschloß deshalb, seine Ortskenntnisse auszunutzen. Schließ-lich war er vor einigen Monaten schon einmal in dieser alten Festung gewesen, als Barabin Kisten und Fässer hatte an Land schaffen lassen.

Er erinnerte sich an die verhältnismäßig niedrige Mauer, die sich vom Innenhof aus zu einem kleinen Seitenflügel der Ruine hinüberzog. Sie war die einzige Mauer, die man ohne Hilfsmittel überklettern konnte. Dort wollte Sobocan sein Glück versuchen.

Als er den Innenhof verlassen hatte, orientierte er sich mit Hilfe des fahlen Mondlichtes, das die ganze Umgebung in ein gelbliches Gewand hüllte. Ein plötzliches Rascheln ließ ihn heftig zusammenzucken, aber sein Körper entspannte sich wieder, als er den dunklen Schatten einer Ratte sah, die in einer Mauernische verschwand.

Sobocan versuchte es zunächst mit einem Klimmzug, nachdem er den Steinbrocken, der sich für seine weiteren Pläne als hinderlich erwies, aus der Hand gelegt hatte. Er rutschte zurück und versuchte es noch einmal. Diesmal schaffte er es, doch im selben Moment glaubte er, sein Herz würde stillstehen.

Ein lauter Schrei gellte durch die Nacht.

Drüben, auf jener Seite des Hofes, auf der sich die Türen befanden, die zum Hauptgebäude der Felsenmoschee führten, stand eine Gestalt und deutete zu Sobocan.

Der junge Bursche begriff augenblicklich, was das zu bedeuten hatte. Ohne weitere Zeit zu verlieren, sprang er auf der anderen Seite der Mauer hinunter und begann um sein Leben zu laufen.

Sein Weg führte einen steilen Abhang hinunter. Seine nackten Füße tasteten sich geschickt über Steine und Geröll hinweg. Als er eine schmale Schlucht passierte, durch die man die Küste erreichen konnte, hörte er, wie das Geschrei der Derwische, die die Verfolgung aufgenommen hatten, immer lauter wurde.

Sobocan war davon überzeugt, den richtigen Fluchtweg gewählt zu haben, denn die Pfade, die hinauf in die zerklüfteten Berge führten, wären zu zeitraubend gewesen. Zu leicht hätten ihm dort die Verfolger den Weg abschneiden können. So gab es im Moment nur ein Ziel für ihn – das Meer. Er mußte unbedingt so schnell wie möglich die nahe Küste erreichen.

Mit Sicherheit würden die Derwische die Umgebung der Festung absuchen. Außerdem konnte jeden Moment der neue Tag hereinbrechen. Der nächtliche Himmel verwandelte sich bereits in einen zarten Schleier, und schon bald würde die Sonne wie ein glutroter Ball am Horizont auftauchen. Dann würde es hier keine Sicherheit mehr für ihn geben.

Es mußte ihm gelingen, unten am Strand die Boote zu erreichen, die von den Derwischen zum Fischen benutzt wurden. Noch hatte er zwar kein klares Ziel vor Augen, aber er wußte, daß er nur dann eine Chance hatte, wenn es ihm gelang, die Küste zu verlassen. Zunächst mußte er ganz einfach weg von hier – weg von der mordlüsternen Meute, die hinter ihm her war.

Sobocan atmete schwer. Seine Brust hob und senkte sich in einem immer rascher werdenden Rhythmus. Das Geschrei der Derwische rückte ständig näher. Laute Befehle schienen sich mit Wutgeheul zu vermischen. Man mußte erkannt haben, welche Richtung er eingeschlagen hatte.

Jetzt hing alles davon ab, schneller zu sein. Ein Kampf schied aus. Gegen die Übermacht dieser Kerle, die höchstwahrscheinlich bis an die Zähne bewaffnet waren, hätte er keine Chance, auch nicht die geringste. So mobilisierte der junge Türke die letzten Kraftreserven seines drahtigen Körpers.

Nach kurzer Zeit erreichte er den Strand und warf sich der Länge nach in den weichen Sand. Doch die Verschnaufpause war nur von sehr kurzer Dauer. Er raffte sich wieder auf und schob in fieberhafter Eile eins der kleinen Boote ins Wasser, nachdem er sämtliche Riemen – auch jene für die anderen Boote – über die Duchten geworfen hatte. Zwei davon würde er selbst brauchen, die übrigen würde er später, wenn er ein Stück weiter draußen war, ins Wasser werfen. Hauptsache, sie standen nicht seinen Verfolgern zur Verfügung.

Ein grimmes Lächeln glitt über das sonnengebräunte Gesicht Sobocans, als er sich die Derwische vorstellte, wie sie in die Boote sprangen, aber außer ihren Händen nichts hatten, um die Wasserfahrzeuge vorwärtszubewegen.

Unter Einsatz seiner letzten Kräfte pullte er aufs Meer hinaus. Er rundete gerade einen Felsvorsprung, der weit ins Wasser hinausragte, als die ersten Derwische drüben am Strand auftauchten.

Einige Musketen- und Pistolenschüsse krachten hinter ihm her, aber er befand sich bereits außerhalb der Reichweite dieser Schußwaffen. Wie er feststellte, wurden auch die restlichen Boote nicht ins Wasser gebracht, also mußte man das Verschwinden der Riemen bereits bemerkt haben.

Sobocan atmete erleichtert auf. Das war knapp gewesen, aber er hatte es geschafft, Ibrahim Salih und seinen Männern zu entwischen – kurz vor Tagesanbruch. Die hundert Peitschenhiebe und die angekündigte Hinrichtung würden ihm somit erspart bleiben.

Doch was erwartete ihn draußen auf See? Wo sollte er sich verkriechen, um vor den Derwischen sicher zu sein? In den nächsten Stunden würde er jedenfalls nicht an die Küste zurückkehren können. Man würde mit Sicherheit Posten in östlicher als auch in westlicher Richtung aufstellen.

Längst hatte Sobocan die Derwische aus den Augen verloren. Seine Arme schmerzten, seine zerschundenen Handgelenke bluteten an verschiedenen Stellen. Aber er pullte ununterbrochen weiter – hinaus auf die weite Wasserfläche, die im schwächer werdenden Licht des Mondes silbrig schimmerte.

Sobocan war davon überzeugt, daß sich die Derwische innerhalb der nächsten Stunden mit neuen Riemen eindecken würden. Dann würde es auch auf dem Wasser keine Sicherheit mehr für ihn geben. Doch er hoffte, bis dahin hinter der Kimm verschwunden zu sein.

3.

Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, hatte die Hände auf die Schmuckbalustrade des Achterkastells gestützt und ließ seine eisblauen Augen prüfend über die Decks der „Isabella VIII.“ wandern.

Doch dort ging alles seinen gewohnten Gang, seit die Galeone die Insel Rhodos hinter sich gelassen und den türkischen Seeräuber Selim sowie Lord Henry und seine Bande abgeschüttelt hatte.

Der ranke Rahsegler mit einer Größe von etwa zweihundertfünfzig Tonnen, der einst vom besten Schiffsbauer Englands erbaut worden war, hatte – von Rhodos ausgehend – östlichen Kurs eingeschlagen und pflügte mit achterlichem Wind die Wellen vor der türkischen Südküste.

An Backbord spiegelte sich die Morgensonne im Wasser des Golfes von Antalya. Irgendwo dort hinter der Kimm mußte sich das sogenannte „Rauhe Kilikien“ befinden, dessen felsiges Gebirge, der Taurus, sich an der Küste entlang in Richtung Osten hinzog.

Die Luft an diesem frühen Morgen in der Mitte des Monats Dezember 1591 war kühl und roch salzig. Aber bald würde die Sonne höher am Himmel stehen und auch jetzt, im Winter, eine angenehme milde Temperatur verbreiten.

Das Leben an Bord der „Isabella“ pulsierte. Jedes Mitglied der Crew füllte seinen Platz aus und wußte, wo eine zupackende Hand vonnöten war.

Die Mehrzahl der Männer befand sich auf den Decks. Darunter Ferris Tukker, der rothaarige Schiffszimmermann, Batuti, der schwarze Mann aus Gambia, sowie Smoky, Blacky, Gary Andrews, Matt Davies, Al Conroy, Jeff Bowie und Sam Roskill. Auch die Zwillinge, der Profos und Old O’Flynn hielten sich auf der Kuhl auf. Der Kutscher hantierte in seiner Kombüse, und die übrigen Seewölfe wie Stenmark, Dan O’Flynn, Bob Grey, Luke Morgan, Will Thorne und Big Old Shane waren unter Deck beschäftigt. Bill, der Moses, der zu einem kräftigen jungen Mann herangewachsen war, hatte seinen Platz im Ausguck eingenommen.

Während sich Philip und Hasard, die elfjährigen Zwillingssöhne des Seewolfs über das Backbordschanzkleid gehängt hatten, um einen vorüberziehenden Fischschwarm zu beobachten, hielt Old Donegal Daniel O’Flynn, der rauhbeinige Alte mit dem Holzbein und dem verwitterten Gesicht, die Hand über die Augen und spähte zur Sonne hinauf, die sich mit einem schwefelgelben Schleier umgeben hatte.

Bald folgten die Zwillinge seinem Blick.

„Was gibt es dort oben zu sehen?“ fragte Hasard junior.

„Was schon“, brummte der Alte. „Die Sonne natürlich!“

„Die Sonne?“ fragte Hasard verblüfft. „Aber das ist doch nichts Neues, die kann man doch fast jeden Tag sehen.“

„Eben“, knurrte Old O’Flynn. „Es muß ja auch nicht immer etwas Neues sein. Ein Sonnenaufgang ist immer wieder sehenswert.“

Die Zwillinge blickten sich fragend an.

Dann warf Philip junior ein: „Aber – da hat es doch schon viel schönere Sonnenaufgänge gegeben. Heute sieht die alte Tante aus, als habe sie sich einen schwefelgelben Mantel umgehängt.“

„Schwefelgelb – das ist es ja!“ stellte der Alte fest und nahm die Hand herunter. „Es sieht ganz danach aus, als habe der Teufel bei Tagesanbruch vergessen, seine Schwefellampe auszulöschen. Und wenn seine Lampe auch noch bei Tag brennt, dann hat das nichts Gutes zu bedeuten.“

„Hat der Teufel wirklich eine Lampe?“ fragte Hasard mit ungläubigem Gesicht.

„Natürlich, du Stint“, klärte ihn Old O’Flynn auf. „Wie sollte er denn sonst da unten in der Hölle, wo nie ein Sonnenstrahl hinscheint, etwas sehen? Wenn er abends die verdammten Seelen zählt, da würde er doch – äh – glatt durcheinandergeraten, wenn er kein gutes Licht hätte.“

Das war eine einleuchtende Erklärung, wie die Zwillinge feststellten. Außerdem hörte sich alles, was Old O’Flynn erzählte, so wunderschön gruselig an. Im Geist sahen sie bereits des Teufels Großmutter vor einer stinkenden Schwefellampe sitzen und die Socken des Teufels stopfen.

Ihre Augen hingen immer wieder gebannt an den Lippen des Alten, wenn er über solch geheimnisvolle Dinge wie Wassermänner, Windsbräute, Geisterschiffe und Schwefellampen sprach. Manchmal dachten sie sogar noch nachts in ihren Kojen daran, wenn draußen der Wind in der Takelage sang. Meist hörte es sich an wie das Heulen und Wimmern verdammter Seelen.

Doch plötzlich wurde die Aufmerksamkeit der beiden Elfjährigen durch etwas ganz anderes gefesselt, so daß sie rasch in die Wirklichkeit des Alltags zurückkehrten.

Nachdem noch vor wenigen Augenblicken ein riesiger Schwarm Bonitos an der „Isabella“ vorbeigezogen war, hob sich nun plötzlich eine ganze Schar silbriger Leiber aus dem Wasser, segelte etliche Yards weit über die Fluten und tauchte wieder in das nasse Element zurück.

Es waren fliegende Fische.

Obwohl es nicht das erste Mal war, daß die „Isabella“ diesen Tieren begegnete, waren die Zwillinge doch immer wieder fasziniert von der perfekten Kombination von Schwimmen und Segeln, die diese Meeresbewohner so meisterhaft beherrschten.

„Toll, was?“ fragte Philip.

Hasard nickte eifrig.

„Das müßte man auch mal können“, meinte er. „Pfeilschnell schwimmen und sich bei Gefahr einfach aus dem Wasser heben und ein Stück fliegen, dann wieder eintauchen und wieder fliegen …“ Mit den Armen vollführte er die entsprechenden Schwimm- und Flugbewegungen.

 

„Hör auf, hier in der Gegend herumzufuchteln, du Stint“, brummte Old O’Flynn, „sonst glaubst du am Ende selber noch, du seist ein Fisch. Übrigens, da gibt es noch viel aufregendere Tiere im Meer.“

„Welche denn?“ fragten die Zwillinge wie aus einem Mund.

Der alte O’Flynn kratzte sich am Hinterkopf, legte seine zerfurchte Stirn in Falten und begann: „Das war – das war zu einer Zeit, da ihr beiden noch in Abrahams Schoß ruhtet. Da hat mich beim Schwimmen ein Riesenkalmar angegriffen. Das Biest hatte mindestens tausend Fangarme und Augen, so groß wie Ankerklüsen. So was hat selbst der Teufel noch nicht gesehen. Die Arme hätten ausgereicht, das ganze Schiff zu umklammern und auf Grund zu ziehen!“

Die Zwillinge staunten. „Und was hast du mit diesem Kalmar getan? Wie bist du ihm entwischt?“

„Ha – das war ganz einfach.“ Old O’Flynn grinste. „Ich bin blitzschnell die Jakobsleiter hochgeflitzt, bevor mich das Vieh eingeholt hatte.“

„Und er hat dem Schiff nichts getan? Ich meine, weil er doch so riesengroß gewesen ist?“ fragte Hasard junior aufgeregt.

„Natürlich nicht“, erwiderte Old O’Flynn. „Ich habe ihm von Bord aus eine Zwanzigpfünder-Kugel vor den Bug gesetzt, da hättet ihr mal sehen sollen, wie schnell das Biest verschwunden war, als hätte es ein Wassermann an den Armen gepackt und nach unten gezogen.“

Die beiden Elfjährigen konnten ihre Bewunderung nicht verbergen. Manchmal spürten sie direkt einen kalten Schauer auf dem Rücken, wenn Old O’Flynn von seinen schaurigen Erlebnissen erzählte. Auch wenn sie trotz ihres geringen Alters bereits wußten, daß Old Donegal O’Flynn für sein Leben gern Seemannsgarn spann, konnten sie dennoch nicht genug davon hören. Was spielte es da schon für eine Rolle, wenn die Tiere, die er gesehen hatte, im Laufe der Zeit unvorstellbare Größen erreichten!

„Welche Tiere sind eigentlich gefährlicher – die Kalmare oder die Haie?“ fragte Philip.

„Die Haie natürlich“, entgegnete der Alte. „Sie sind gefräßige Räuber und jagen unermüdlich hinter ihrer Beute her. So richtige Schnapphähne sind das, die den Bauch nie voll genug kriegen.“

Jetzt wurde Hasard junior spitzfindig wie so manches Mal, wenn er unter Beweis stellen wollte, daß Kinder den Erwachsenen durchaus ebenbürtig sein können.

„Unermüdlich?“ sinnierte er. „Sag mal, müssen Haie denn nie schlafen?“

„Hä?“ fragte der alte O’Flynn und sah den Jungen entgeistert an. „Haie und schlafen?“ Er kratzte sich verlegen die Bartstoppeln. „Hm, ich habe jedenfalls noch keinen schlafenden Hai gesehen. Diejenigen, die mir bis jetzt begegnet sind, waren alle putzmunter und jederzeit bereit, ihre scharfen Zähne einzusetzen.“

Da gerade der Profos in Richtung Back an ihnen vorbeimarschierte, beschloß Old O’Flynn aus der Not eine Tugend zu machen.

„Weißt du, ob Haie schlafen, Ed?“ fragte er wie beiläufig den bulligen Profos mit dem zernarbten Gesicht und dem gewaltigen Rammkinn.

„Was? Wie?“ fragte Edwin Carberry und blieb wie angewurzelt stehen. „Willst du mich vielleicht auf den Arm nehmen, du holzbeiniger Wassermann? Haie und schlafen? Ihr habt wohl nichts anderes zu tun am frühen Morgen, wie? Schaut wohl ins Wasser, um die Haie rechtzeitig zum Frühstück aufzuwecken!“

„Ich hätte mir ja gleich denken können, daß du Holzkopf keine geistigen Interessen hast“, erklärte der Alte. „Wir allerdings“, und dabei deutete er auf sich und die Zwillinge, „interessieren uns nicht nur dafür, wieviel Rum in eine Muck paßt, sondern wir – ha, wir möchten auch gern wissen, ob Haie schlafen.“

Der Profos, hinter dessen rauher Schale sich ein weicher Kern verbarg, blickte Old O’Flynn zweifelnd an.

„Es hätte wohl niemand was dagegen, wenn die Biester ihr ganzes Leben verpennen würden“, stellte er fest. „Ho, man könnte ihnen ja passende Kojen auf den Meeresgrund stellen, sogar mit einem prächtigen Nachttopf darunter!“ Edwin Carberry lachte dröhnend, was wiederum Sir John, den Bordpapagei, veranlaßte, aufgeregt auf der Vormarsrah, seinem Lieblingsplatz, hin und her zu laufen.

„Macht die Schotten dicht, ihr Bilgenratten!“ krächzte der bunte Vogel und schlug dabei mit den Flügeln. „Wascht euch die Füße, ihr Heringe!“

Das brachte ihm einen beinahe liebevollen Blick von seinem Herrn und Meister, Edwin Carberry, ein, der immer wieder verblüfft darüber war, wie rasch der Papagei gerade seine weniger vornehmen Sprüche behielt.

„Sei still, du Nebelkrähe!“ rief Carberry nach oben und wandte sich erneut dem alten O’Flynn und den Zwillingen zu. Sein Gesicht ließ deutlich erkennen, daß er bezüglich seiner Meinung über die Schlafbedürfnisse der Haie hin und her gerissen wurde.

Die Erlösung nahte in der Person des Kutschers, der mit einem riesigen, dampfenden Topf auf der Kuhl erschien. Er war ein dunkelblonder, etwas schmalbrüstiger Mann, der früher bei Doc Freemont in Plymouth als Kutscher gearbeitet hatte. Seinen richtigen Namen kannte niemand. Doch jeder an Bord der „Isabella“ wußte, daß der Kutscher ein kluger Kopf war. Das bezog sich nicht nur auf seine „Reparaturkünste“ bei Krankheiten und Verwundungen. Er hatte während seiner Dienstzeit bei Doc Freemont viel gelernt und sehr oft einen Blick in schlaue Bücher geworfen.

Edwin Carberry, nun selbst neugierig geworden, wandte sich sofort an ihn.

„He, du Töpfeschwenker“, sagte er mit einem schmeichlerischen Unterton in der Stimme, „stell mal deine volle Badewanne ab und streng deinen Kopf ein bißchen an. Wir wollen nämlich feststellen, ob du auch so schlau bist wie wir.“

„Ach nein“, sagte der Kutscher grinsend, „du und Donegal – ihr seid schlau? Wo sitzt denn die Schläue in euren Köpfen? Vielleicht über den Augen? Oder im Hinterkopf? Wo habt ihr denn noch ein freies Kämmerchen?“

Der Profos runzelte die Stirn. „Dir wird das Lästern gleich vergehen, alter Freund. Und wenn du auf unsere Frage keine richtige Antwort weißt, dann zieh ich dir persönlich die Haut in Streifen von deinem karierten Affenarsch. So, und nun sag uns mal, ob Haie schlafen, und wie sie das tun!“

Triumphierend blickte Ed Carberry den Kutscher an, in der Überzeugung, daß auch er keine Antwort darauf wüßte. Aber er sollte sich getäuscht haben. Der Kutscher hatte damals an der Mangrovenküste der Baja de Marajo, an der südamerikanischen Ostküste, schon eine einleuchtende Erklärung über den „magischen Fisch“ gefunden, der Batuti einen gewaltigen Schlag versetzt hatte. Niemand außer dem Kutscher und dem Seewolf hatte damals gewußt, daß es sich um einen Zitteraal gehandelt hatte.

„Natürlich schlafen Haie“, sagte der Kutscher mit aller Selbstverständlichkeit. „Haie haben keine Schwimmblase, deshalb sind sie schwerer als Wasser und sinken ab, wenn sie sich nicht bewegen. Darum schlafen sie, wie viele andere Fische auch, indem sie im Wasser stehenbleiben und dabei langsam die Flossen bewegen. Jedes Geschöpf braucht doch schließlich Ruhe und Schlaf, das merkt ihr doch an euch, ihr Neunmalklugen.“

„Hm, natürlich merken wir das“, meinte Edwin Carberry. „Aber wir sinken dabei nicht unter unsere Kojen, du Stint, und die Flossen bewegen wir beim Schlafen auch nicht. Nur damit das klar ist!“

Der Kutscher wandte sich wieder seinem riesigen Topf zu, während der Profos, befriedigt von der einfachen Antwort, seinen Weg zur Back fortsetzte.

Old O’Flynn schenkte den Zwillingen noch ein gönnerhaftes Grinsen.

„Na also, ihr beiden“, erklärte er. „Ich hab’s euch doch gleich gesagt. Jetzt habt ihr es auch noch mal vom Kutscher gehört.“

Er stampfte mit dem Holzbein auf die Decksplanken und marschierte über die Kuhl, die sprachlosen Zwillinge allein am Schanzkleid zurücklassend.