Seewölfe Paket 13

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3.

Ein paar Lidschläge vergingen, während sie staunend auf die Karte blickten, die je nach Sonnenlicht ihr Geheimnis preisgab oder es für sich behielt.

„Philip, du gehst an Deck und holst den Kutscher und Dan. Nein“, berichtigte sich Hasard gleich darauf, „ich nehme die Karte mit. An Deck ist das Licht noch besser als hier unten.“

Zusammen mit dem Profos verließ er die Kammer. Die Zwillinge blieben da, auf dem Boden hockend und die vier anderen Karten mit den Augen verschlingend.

Als Hasard das Achterdeck erreichte, schien noch immer die Sonne.

„Kutscher!“ brüllte der Profos, als der Koch und Feldscher gerade seinen Abfallkübel ausschüttete. Er winkte ihn mit dem Finger herbei, aber der Kutscher zog ein mißtrauisches Gesicht und lehnte kopfschüttelnd ab. Er ahnte, was ihm bevorstand, wenn er dem Profos in die Fänge geriet, und so zog er es vor, lieber heimlich, still und leise zu verschwinden.

„Kutscher aufs Achterdeck!“ brüllte Carberry. „Wenn du nicht gleich antrabst, zieh ich dir die …“

„… Haut in Streifen“, sagte Dan, aber Ed überhörte es, als sei nichts gewesen.

„… Hammelbeine lang!“

Der Kutscher schlich mit mißtrauischem Gesicht über die Kuhl und dann halb geduckt den Niedergang hoch, wo Ed ihn grinsend erwartete und sagte: „Keine Angst, du mickriger Portionenschwenker. Ich werde dich doch nicht schlagen, du brichst doch auf den Yard dreimal durch, wenn ich einmal hinlange.“

Hasard weihte die Männer in seinen Fund ein.

„Bei dieser Karte habe ich etwas Eigenartiges festgestellt. Seht sie euch einmal an, vielleicht findet ihr es heraus. Aber haltet sie gut fest, denn wenn sie über Bord geht, haben wir etwas sehr Wertvolles verloren. Fang an, Ben!“

Ben nahm die Karte, betrachtete sie lange, drehte sie auch um und reichte sie dann an Dan O’Flynn weiter.

„Merkwürdige Linien sind darauf“, sagte er, „aber sonst kann ich nichts feststellen.“

Auch Dan O’Flynn fand es nicht heraus, und schließlich wurde die geheimnisvolle Karte dem Kutscher gereicht.

„Was versteht denn der Kutscher von See- oder Landkarten“, sagte Dan grinsend.

Die Karte ging weiter reihum, als auch der Kutscher nichts Besonderes an ihr entdeckt hatte. Schließlich strömten immer mehr Seewölfe auf dem Achterdeck zusammen und sahen die Karte an. Aber niemand fand das Geheimnis heraus, weder der ehemalige Schmied von Arwenack noch Smoky, Ferris Tukker, Batuti oder Stenmark. Auch der Moses Bill mühte sich vergeblich damit ab.

„Ich habe es auch nur zufällig entdeckt“, sagte Hasard. „Haltet die Karte jetzt einmal gegen das Sonnenlicht.“

Erstaunte Rufe wurden laut, und alle drängten sich um Ben, der fassungslos die geordnete Übersicht auf der Karte erkannte.

„Das ist ja ein Ding!“ sagte er überrascht. „Da ist ja ein Kontinent zu erkennen, oder was soll das darstellen?“

„Auf zwei Seiten Land“, sagte Dan O’Flynn. „Dazwischen scheint es einen riesigen Wassergraben zu geben, ungefähr so wie der Ärmelkanal. Kann aber auch breiter sein, wir kennen ja nicht den Maßstab dieser Karte.“

„Jedenfalls handelt es sich um eine wichtige Seeverbindung“, stellte Hasard fest. „Sonst hätte man das nicht so geheimnisvoll aufgezogen.“

„Diese Linien können auch zu versteckten Schätzen führen“, meinte Big Old Shane bedächtig. „Frühere Piraten können sie angelegt haben, und damit kein anderer sie findet, hat man sich eben dieser geheimnisvollen Methode bedient.“

„Jetzt haben wir also zwei Möglichkeiten. Aber wir haben noch vier andere Karten, und irgendwie hängt das meiner Meinung nach doch alles zusammen“, sagte der Seewolf.

Dann war der Kutscher an der Reihe, und der lächelte und erklärte in aller Gelassenheit: „Ich kenne das von Doc Freemont her. Wenn man Nachrichten austauschen wollte, dann hat man sich dieser Geheimschrift bedient, damit kein anderer es lesen konnte. Dadurch, daß diese Karte schon ziemlich alt ist, wie ich vermute, ist die Geheimschrift jetzt zu einem Teil sichtbar geworden. Sonst sieht man sie nämlich nicht.“

„Das heißt also“, faßte Hasard zusammen, „es gibt eine Möglichkeit, die Geheimschrift sichtbar werden zu lassen.“

„Ja, die gibt es“, behauptete der Kutscher.

„Und du Stint willst uns jetzt vorerzählen, daß du das natürlich kannst!“ rief der Profos dazwischen.

„Ja, das kann ich, Mister Carberry, auch wenn du das nicht glaubst. Diese Karte ist nämlich mit Zitronensaft geschrieben worden, und der verschwindet fast spurlos im Papier.“

Die Seewölfe sahen den Kutscher ungläubig an, und selbst der Seewolf hob fragend die Augenbrauen.

„Mit Zitronensaft?“ fragte Ed gedehnt. „Nicht vielleicht mit Dattelmus oder Pflaumenmarmelade?“

„Leider kann ich über deine reichlich naiven Bemerkungen nicht lachen“, sagte der Kutscher würdevoll. „Aber ich werde das gelegentlich nachholen, falls du dich je ändern solltest.“

„Hört mit der Flachserei auf!“ befahl Hasard. „Laßt den Kutscher reden, der versteht davon mehr als wir alle zusammen. Wie ist das nun, Kutscher, welche Möglichkeiten hast du?“

„Es gibt nur eine Möglichkeit, Sir. Man muß die Karte über eine kleine Flamme halten. Dadurch werden die Linien dunkelbraun und heben sich sehr deutlich von dem Papier ab.“

„Die Karte könnte dabei Feuer fangen“, sagte Hasard.

„Nicht, wenn man es ganz vorsichtig anfängt, Sir. Ich würde mir das zutrauen, und ich verbürge mich dafür, daß der Karte nicht das Geringste passiert. Ich bin auch davon überzeugt, daß sich noch weitaus mehr Positionen auf der Karte befinden, man kann sie nur noch nicht sehen.“

Hasard war von dieser Aussicht begeistert. Anscheinend wurde die Karte immer wertvoller. Und wenn dem Kutscher das gelang, was er behauptete, dann waren sie dem Rätsel ein ganzes Stück näher.

Alle blickten jetzt fast respektvoll auf den Mann ohne Namen, auf den schmalbrüstigen Koch, dessen Kenntnisse sich nicht nur im Kochen und dem Verarzten von Wunden erschöpften, sondern der auch noch davon etwas verstand, was den anderen ein Buch mit sieben Siegeln blieb.

Geheimschrift! Geheimtinte! Das war etwas, dachten die meisten. Der Kutscher war schon fast so etwas wie ein Alchimist oder zumindest ein Adept. Vielleicht konnte er sogar Gold herstellen.

„Das können wir hier an Deck aber nicht tun, Sir“, sagte der Mann, der sich selbst nur der Kutscher nannte. Mittelgroß und dunkelblond, mit blauen Augen, stand er da und ließ die Blicke gelassen über sich ergehen, ein Mann, der mehr war, als er darstellte, der auch distinguierter wirkte als die anderen.

Die Jahre bei Doc Freemont in Plymouth hatten seinen Verstand geschärft, die richtigen Seebeine waren ihm auf der „Isabella“ gewachsen. Ohne den Kutscher war die Crew eigentlich nur die Hälfte wert, dachten sie, und selbst der grobklotzige und rauhbautzige Profos beschloß, ihn nicht mehr zu ärgern – falls sich das vermeiden ließ.

„Dann gehen wir in die Messe“, sagte Hasard. „Aber nicht alle bitte, nur ein paar. Ihr anderen kriegt das Ergebnis später ohnehin zu sehen.“

Der Kutscher holte eine Kerze aus Bienenwachs, die nicht so stark rußte und mit gleichbleibender ruhiger Flamme brannte.

In der Messe, dem Aufenthaltsraum bei kaltem oder schlechtem Wetter, den Ferris Tucker gebaut hatte, wurde die Kerze auf die Back gestellt. Die Karte nahm der Kutscher in die Hand, und dann begann das geheimnisvolle Ritual.

„Tretet mal etwas zurück, damit euer Atem nicht immer die Flamme flakkern läßt“, sagte der Kutscher und war erstaunt, daß die Kerle sofort artig und ohne zu murren gehorchten.

Dann hielt er die Flamme ganz vorsichtig an die Karte, ließ aber gut zwei Handbreiten Abstand zwischen Flamme und Papier.

Die anderen standen neugierig und erwartungsvoll herum.

„Da bin ich aber gespannt“, sagte Ferris Tucker, „ob das nicht nur irgendwelche Possen sind. So richtig bin ich davon noch nicht überzeugt. Man sieht ja noch gar nichts.“

„Wart’s ab!“ riet der Kutscher. „Das muß alles schön langsam und ohne große Aufregung erledigt werden, sonst geht nur noch etwas dabei kaputt. Es dauert noch ein Weilchen.“

Immer wieder schwenkte er das Papier vorsichtig über die Flamme. Dann nahm er die Kerze in die Hand und fuhr vorsichtig an den Rändern entlang.

Nach einer Weile begann auch Hasard an dem Erfolg zu zweifeln, und sein Blick wurde immer skeptischer.

„Da tut sich nichts, aber rein gar nichts“, bemerkte Dan. „Du hast dich vielleicht doch geirrt, Kutscher.“

Der Kutscher gab keine Antwort. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er das Papier, das sich immer noch nicht veränderte.

Neben ihm hatte Big Old Shane die mächtigen Arme auf der Brust verschränkt. Auch in seinem Blick lag Neugier, und er zuckte zusammen, als der Kutscher plötzlich „Aha!“ ausrief.

In den unmöglichsten Positionen standen die meisten da. Dan verrenkte sich fast den Hals und schielte halb unter der Back hervor nach oben. Tucker blickte dem Kutscher über die Schulter, und der Profos Edwin Carberry blickte mißtrauisch mal auf die Kerzenflamme, dann wieder über das Papier.

„Verseng bloß die Karte nicht“, glaubte er bemerken zu müssen. „Wir haben nur die eine!“

Der Blick, den der Kutscher Ed aus blauen Augen zuwarf, ging dem Profos durch und durch. Da lag alle Überlegenheit dieser Welt drin, und dieser Blick drückte zumindest Rübenschwein, Kanalratte und triefäugige Kakerlake aus, wenn Carberry das richtig deutete, und so zog er leicht beschämt das Genick ein, getroffen von der überlegenen Würde, die der Kutscher ausstrahlte.

 

„Es klappt!“ rief er und drehte die Karte um, damit alle sehen konnten, was passiert war.

Ein bewunderndes Raunen ging durch die Reihe. Hasard beugte sich vor und sah sich die Karte an.

An den Rändern traten die braunen Linien scharf und klar zutage, zur Mitte hin wurden sie erkennbar, waren aber noch nicht deutlich genug zu sehen.

Jetzt ging das Rätselraten los, um welche Küste es sich wohl handeln mochte, und die Meinungen gingen weit auseinander.

Dan O’Flynn, der die Seekarten immer vervollständigt hatte und gut darüber Bescheid wußte, schüttelte den Kopf.

„Wir sind da jedenfalls noch nicht gewesen“, sagte er bestimmt. „Aber wir könnten sie noch einmal mit den spanischen Roteiros vergleichen. Mich irritiert dieser Wasserstreifen, der so aussieht, als beginne er erst weit hinter dem Festland.“

Hasard starrte die Karte an. Immer mehr Linien wurden sichtbar, immer schärfer zeichneten sich die Konturen ab. Seine Lippen wurden schmal, sein Blick immer nachdenklicher, und er konnte es kaum erwarten das Gesamtbild zu sehen.

Das Papier wölbte sich leicht und begann an einigen Stellen gelblich zu werden, und der Kutscher ging mit der Flamme immer behutsamer um, bis er die Kerze wegstellte und die Karte auf der Back ausbreitete.

Ein paar Lidschläge lang brachte keiner einen Ton heraus. Alle starrten gebannt auf die Karte, die ihr Geheimnis jetzt zu einem großen Teil preisgegeben hatte. Die Zeichnungen ließen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Es blieb nur noch die Frage offen, um welches Land es sich handelte. Das war allerdings fast unmöglich, es genau zu bezeichnen.

„Hier sind Kanäle eingezeichnet, das ist einwandfrei zu erkennen“, sagte der Seewolf heiser. „Diese Kanäle durchziehen ein unbekanntes Land, und einer von ihnen führt in diesen Wasserstreifen, wie Dan ihn bezeichnet hat. Männer, ich werde das Gefühl nicht los, daß wir vor einer phantastischen Entdeckung stehen.“

Ja, so sah es fast aus, und jetzt strengte sich jeder an, auch das letzte Rätsel noch zu lösen. Doch die Karte gab ihr letztes Geheimnis noch nicht preis, obwohl die Seewölfe danach fieberten.

Hasard spürte deutlich, daß sie etwas außerordentlich Wichtiges entdeckt hatten. Vielleicht einen neuen Seeweg?

Nein, dachte er enttäuscht, als er die Linie immer weiter verfolgte. Sie ging in einen See über, aber aus diesem See wanderte sie wieder heraus und mündete schließlich in diesem geheimnisvollen Gewässer.

„Das scheinen Handelswege zu sein“, sagte er. „Man hat ein paar Flüsse durch Kanäle miteinander verbunden, weitere Kanäle in einen See geleitet, von dem aus es dann wieder weiterging. Diese Karte läßt mir keine Ruhe. Wir müssen unbedingt jemanden finden, der in der Lage ist, diese Schriftzeichen zu enträtseln. Das ist weder Persisch noch Türkisch, das ist etwas anderes. Hasard und Philip haben das auch noch nicht herausgefunden, sie haben lediglich ein paar Wörter erkannt.“

Die Aufregung legte sich keineswegs, und was ihnen am meisten zu raten aufgab, war der Maßstab der Karte. Auch ein paar ganz klein eingezeichnete Figuren blieben ein Rätsel. Niemand wußte, wer oder wen sie darstellten.

„Wenn es sich um einen Teil Ägyptens handelt“, sagte der Seewolf, „dann kriegen wir auch alles heraus, denn wir treffen bestimmt auf Sarazenen, die das wissen. Und eine fürstliche Belohnung wird die Erinnerung ganz schnell wieder auffrischen, davon bin ich überzeugt. Es wird nicht mehr lange dauern.“

Ein letzter langer Blick wurde auf die Karte geworfen, die ihnen allen soviel Kopfzerbrechen bereitete, ehe Hasard sie vorsichtig zusammenrollte.

Er schlug dem Kutscher mit der Hand anerkennend auf die Schulter.

„Du hast den größten Teil dieses Rätsels gelöst“, sagte er. „Ohne dich hätten wir mit der Karte nichts anfangen können.“

„Leider hilft uns das nicht viel weiter“, sagte der Kutscher bedauernd.

„Wir kriegen es heraus, verlaß dich darauf, Kutscher. Den Anfang haben wir, und ich gebe nicht eher Ruhe, bis ich alles weiß. Wir werden uns künftig ganz auf diese Karten konzentrieren, denn da scheint es nicht nur Schätze und seltsame Bauwerke zu geben, da gibt es auch neue Erkenntnisse, die uns helfen werden, unser Weltbild etwas mehr abzurunden. Und darauf bin ich gespannt, denn ich habe da eine ganz bestimmte Vermutung, über die ich jetzt aber noch nicht sprechen möchte, denn sie ist einfach zu phantastisch, und es ist, wie gesagt, leider auch nur eine Vermutung.“

„Vielleicht sollten wir alle vermuten“, meinte Ed. „Wenn du deine Vermutung preisgibst, Sir, dann kriegen wir ein Bild.“

Aber aus dem Seewolf war nichts herauszuholen. Hasard gab sich mit Vermutungen nicht zufrieden. Er würde erst dann reden, wenn er konkretere Ergebnisse hatte.

Danach ging jeder wieder seiner Beschäftigung nach, und Ferris Tukker reparierte die nun schon zweimal angeschlagenen Wasserfässer, denn bald würden sie die Insel erreichen.

Aber die Karte blieb dennoch Gesprächsthema eins an Bord der „Isabella“. Die tollsten Vermutungen wurden von den Seewölfen angestellt, denn jetzt ging das Rätselraten erst richtig los.

Jeder wußte immer mehr als der andere, und doch wußte keiner etwas.

Alles blieb graue Theorie.

4.

Die Sonne schien, es hatte ein wenig aufgebrist, und die See ging mit langer, rollender Dünung.

Die Schebecke lief in eine felsige Bucht ein und ging dicht bei den Klippen vor Anker.

Hinter den Felsen wurde das Land flacher und wellig. Dort wuchsen Ölbäume und Schirmpinien.

„Fiert das Beiboot ab und bringt die Gefangenen zur Höhle“, befahl der Sarazene. „Die anderen gehen an Land und fällen zwei Pinien, damit wir das Schiff sofort wieder aufriggen können. Das muß alles sehr schnell gehen.“

„Eine Pinie genügt“, sagte Muhmad. „Wir haben noch einen abgelagerten Stamm hinter der Höhle liegen. Der kann gleich an Bord geschafft werden.“

„Um so besser“, meinte der Kapitän. „Aber beeilt euch. Wenn wir an dieser Fahrt schon nichts verdient haben, wollen wir wenigstens bei der nächsten eine Menge Gold einstreichen.“

Bei dem Wörtchen Gold wurde sein Blick sehnsüchtig. Er drehte sich um und starrte zurück, wo die Bucht mit dem Minotaurus lag. Sie waren daran vorbeigesegelt, aber jetzt war diese Bucht nicht mehr zu sehen, in der die Bezahlung auf sie wartete.

Der Sarazene kriegte fast einen Tobsuchtsanfall, wenn er an das Gold und die Perlen dachte, an die silbernen Piasterchen, die er nun doch nicht holen konnte. In einem Anfall blinder und jähzorniger Wut raufte er sich die Haare und trampelte auf den Planken herum.

In solchen Augenblicken durfte niemand seinen Weg kreuzen, und so verhielten sich auch alle ruhig und warteten angstvoll ab, bis der jähzornige Anfall vorüber war.

Meist ging das ganz schnell, so wie jetzt, denn nachdem der Sarazene ausgiebig geflucht und seine Haare gerauft hatte, beruhigte er sich wieder und hörte mit dem Trampeln auf.

Die drei spanischen Frauen und die beiden Männer erschienen an Deck und blinzelten verwirrt in das Sonnenlicht. Dann wanderten ihre Blicke weiter zu den finsteren Gestalten, zu den abenteuerlichen Gesellen, und niemand wußte, was jetzt mit ihnen geschah.

Die Spanier sahen zerlumpt und abgerissen aus, aber ihre körperliche Verfassung war gut, und so würden sie auch gute Preise erzielen, überlegte der Kapitän.

Sollte er vielleicht doch das Gold holen – sozusagen als Vorschuß?

Er kämpfte diesen Gedanken nieder und musterte die Frauen, die ihn verächtlich anblickten. Ihre Gesichter waren noch von kleinen Schrammen gezeichnet, auch ihre Arme wiesen noch blaubraune Flecken auf. Aber das war in ein paar Tagen vergangen.

Einer der Spanier schrie den Sarazenen an.

„Was sagt er, Achmed?“ fragte er einen finster aussehenden Mann, der die Sprache der Spanier gut beherrschte.

„Er sagt, er sei ein spanischer Grande, und er will wissen, was mit ihm und seiner Frau geschieht. Er fragt, wann sie endlich freigelassen werden?“

„Sag ihm, er wird überhaupt nicht freigelassen. Er wird auf dem weißen Sklavenmarkt verschachert, der Christenhund.“

Achmed übersetzte das, und kaum hatte er die Worte heraus, als sich der geschwächte Spanier mit einem Wutschrei auf den Sarazenen stürzen wollte.

Der Kapitän hatte seinen versilberten Krummdolch gezogen. Muhmad zog seinen Schiffshauer und setzte ihn der einen Spanierin an die Brust. Seinem Gesicht sah man an, daß er sofort zum Töten bereit war.

Da gab sich der Spanier geschlagen und ließ sich mit den anderen willenlos in das Boot führen.

Zum Land waren es nur ein paar Yards, und so wurden die Spanier unter scharfer Bewachung ausgeladen und mußten am felsigen Strand Aufstellung nehmen.

Der Sarazene ging voran, denn nur er hatte den Schlüssel für das Felsenverlies.

Die anderen Männer folgten ein Stück dem gewundenen Pfad. Dann bogen sie nach links ab, um die Pinie für den Mast zu fällen und die andere zu holen.

Ein paar Yards ging es über Steine und Geröll, durch einen engen Felsenschlauch. Ein riesiger Findling wurde umgangen, dahinter befand sich das Felsengitter. Die rostigen Stäbe waren tief im Felsen verankert, eine geschmiedete Kette mit einem Schloß hielt den engen Durchlaß noch einmal ganz besonders fest.

Der Sarazene schloß auf, drehte das Gitter zur Seite und marschierte als erster hinein.

Es war eine Höhle im Felsen, ein Gang von knapp zwanzig Yards Länge und vier Yards Breite, der künstlich erweitert worden war.

Daß die Gefangenen hier jemals ausbrechen konnten, war so gut wie unwahrscheinlich. Von See her war die Höhle nicht einsehbar, und die Inselbewohner, die genau wußten, was hier vorging, hüteten sich, die Nähe der Felsenhöhle zu suchen, denn Alis Zorn war überall gefürchtet.

Am Ende der Höhle befand sich eine breite Grotte. In die Felswände waren eiserne Ringe eingelassen, von manchen hingen noch die rostigen Ketten hinunter.

Der Sarazene ging zu einer dickbäuchigen Wassertonne, schöpfte mit der Hand Wasser und kostete es.

„Gut und frisch“, stellte er fest. Er kontrollierte ein kleines Faß mit Schmalzfleisch, prüfte, ob es ranzig roch, und ging dann weiter zu einem anderen Faß, in dem sich harter Zwieback befand.

Inzwischen hatten die Frauen angstvoll an der hinteren Felswand Aufstellung genommen. Sie waren erstaunt, daß man sie nicht fesselte oder an den Ringen festband. Sie konnten sich in der Grotte und dem Gang der Höhle frei bewegen, genau wie die Männer auch.

„Sag ihnen, sie sollen nicht versuchen, auszubrechen, Achmed“, befahl der Kapitän. „In den Felsen sitzen Tag und Nacht Wachen, und die hören jedes Geräusch. Wenn an dem Gitter nur gerüttelt wird, hätten sie Auftrag, in den Gang mit Musketen zu feuern.“

„Bleiben denn Wachen hier?“ fragte Achmed.

„Nein, du Dummkopf. Das soll sie nur einschüchtern. Wir können hier keine Wachen zurücklassen, wir brauchen jeden Mann.“

Achmed übersetzte das, aber er erhielt von den Spaniern keine Antwort. Sie vermuteten eine neue Teufelei der Araber und fügten sich in ihr Schicksal.

„Fünf Leute“, überschlug der Sarazene, „der Proviant dürfte für knapp eine Woche reichen. Aber solange dauert es bestimmt nicht, bis Ali Rasul die Gefangenen holt. Gehen wir, jetzt wird zuallererst das Schiff instandgesetzt.“

Die Gefangenen standen immer noch an der Wand. Verängstigt, abgerissen und gedemütigt gingen sie einem grauenhaften Schicksal entgegen. Aber sie muckten nicht auf, sie fürchteten die unberechenbaren Araber zu sehr, außerdem konnten sie gegen diese Übermacht gar nichts ausrichten.

Der Sarazene legte die Kette vor, versperrte das Schloß und überprüfte alles noch einmal sorgfältig.

Nein, hier konnten sie nicht ausbrechen, sie hatten auch keinerlei Werkzeug, mit dem sie einen Ausbruch bewerkstelligen konnten. Und mit bloßer Kraft brach keiner die eisernen Stäbe heraus.

Keiner warf mehr einen Blick zurück, als sie den Weg zurückgingen. Dort trafen sie auf die Männer, die die beiden Ersatzmasten bereits bis fast zum Strand geschleppt hatten.

Der Sarazene warf wieder einen Blick zu seiner über alles geliebten Bucht, und vor seinem geistigen Auge tauchten erneut Perlen, Piaster und Gold auf. Er seufzte leise, wenn er daran dachte.

Von hier aus hatte man einen weiten Ausblick über das Meer. Der Sarazene war so in seine geldgierigen Gedanken versunken, daß ihm sogar das kleine weiße Etwas am Horizont entging.

 

Erst als er sich bedauernd abwandte, wurde sein Blick wieder klar, und er blieb stehen, als hätte ihn der Blitz getroffen.

„Ein Schiff!“ rief er laut, und deutete mit der ausgestreckten Hand zur Kimm, wo kaum sichtbar ein Schiff auftauchte. Es hielt genau Kurs auf die Insel, und es war auch ganz sicher kein Araber, Syrer oder Libanese.

Diese Bauart, das ließ sich nach einer Weile deutlich erkennen, war europäisch, das Schiff wurde also von ungläubigen Giaurs gesegelt.

„Allah hat ein Einsehen!“ schrie der Kapitän und warf sich mit einer theatralischen Geste auf die Knie. „Ein Wunder ist geschehen! Der Christenhund wird die Insel anlaufen, und wenn wir sie haben, können wir auch das Gold holen, dann haben wir es uns ehrlich verdient.“

Dann geriet Bewegung in die Gestalten, als der Kapitän losrannte.

„Vergeßt das Aufriggen!“ rief er über die Schulter zurück. „Versteckt die Masten oder bringt sie schnell an Bord. Dann bewaffnet euch und begebt euch in die Kammern. Unser Schiff sieht gerade richtig aus, und die Hunde werden denken, es sei seit langem verlassen. Jeder geht sofort auf seinen Posten, niemand darf sich mehr an Deck sehen lassen!“

Wie die Wilden pullten sie an Bord zurück, denn, nun begann ein Spiel, wie sie es immer getrieben hatten.

Das Beiboot wurde an Bord genommen. Der Sarazene ließ seine Männer bewaffnen und in die geheimen Verstecke kriechen.

So hatte es beim letzten Mal auch geklappt.

In den unsichtbaren Kammern und Hohlräumen des Schiffes verbargen sie sich schwerbewaffnet und warteten ab.

Auch diesen Giaur würde die Neugier packen, wenn sie das vermeintlich verlassene oder wracke Schiff sahen, und da jeder glaubte, bei dem anderen immer etwas requirieren zu können, würde die menschliche Natur siegen, und die Kerle würden nachsehen, was es da vielleicht zu holen gab.

Sie standen dann überall vor leeren Räumen, und das Schiff erweckte den Eindruck, als sei es tatsächlich verlassen worden.

Waren genug Fremde an Bord, dann flogen überall die Geheimtüren auf, und mehr als siebzig Mann stürzten sich brüllend und säbelschwingend auf die Überrumpelten.

Der Sarazene rieb sich die Hände und war zufrieden. Aber die Sache hatte noch einen kleinen Haken.

Es war nicht absolut sicher, ob die Ungläubigen das Schiff auch wirklich sahen. Es konnte sein, daß sie in großem Abstand an der Insel vorbeisegelten.

Aber er verließ sich auf sein Glück. Wenn man einmal Pech gehabt hatte, dann hatte man beim nächsten Mal eben wieder Glück. Das war seine Devise, und nach der lebte er.

Als letzter kroch er in das Versteck, nachdem er kontrolliert hatte, ob auch alles unauffällig aussah.

Niemand würde die Falle bemerken. Die Wände in der Kapitänskammer waren mit Arabesken und Ornamenten verziert, und es sah wirklich nicht so aus, als würden sie sich plötzlich öffnen. Bisher hatte niemand die doppelten Böden, Schotts und Wände bemerkt.

Die Falle war aufgebaut. Jetzt brauchten die Giaurs nur noch die Schebekke zu bemerken, dann lief alles wie von selbst.

Der Sarazene grinste erfreut, als er hinter der Wand verschwand und unsichtbar wurde.

Seit einer halben Stunde schon war die Insel gesichtet worden, die jetzt zwei Strich an Steuerbord lag.

Auf der Kuhl waren Ferris Tucker, Al Conroy und der blonde Schwede Stenmark damit beschäftigt, den chinesischen Brandsatz kunstvoll zu zerlegen, um ihn nachbauen zu können. Ob das Experiment gelang, war fraglich, denn die Zutaten zu diesem merkwürdigen Schießpulver waren nur teilweise bekannt.

Zunächst sahen sie sich enttäuscht an, denn beim Aufwickeln erschien Papier, das mit Leim fest verklebt war.

Der Kutscher gesellte sich zu der Gruppe, denn von der Alchimie verstand er auch ein wenig, wie er bescheiden bemerkte.

Ein Pfropfen in dem geklebten Papier löste sich und kullerte über die Planken. Als Ferris Tucker ihn vorsichtig aus dem Papier schälte, hielt er winzige schwarze und gelbe Kugeln in den Händen.

„Kohle und Schwefel“, sagte Al Conroy, der Waffen- und Stückmeister der „Isabella“ fachmännisch.

„Salpeter und Schießpulver gehören ebenfalls dazu“, bemerkte der Kutscher, „und weil das Zeug so leuchtet, hat man ganz sicher auch Phosphor verwendet. Das könnten die winzigen Kugeln sein, und damit haben wir auch eine Erklärung, warum das Zeug nicht zu löschen ist und immer weiter brennt, auch wenn man Wasser in rauhen Mengen darüber gießt.“

„Es handelt sich nur um die Zusammensetzung“, sagte Al Conroy. „Das ist das Geheimnis, aus wie vielen Teilen diese Masse zusammengesetzt ist. Aber mit guter Ausdauer werden wir auch das herausfinden und vielleicht eigene Brandsätze entwickeln. Leider haben wir weder Salpeter noch Phosphor an Bord, aber das können wir uns an Land in irgendwelchen Hexenküchen sicher besorgen.“

In einem Messingbecken wurde die Brandprobe unternommen und ein paar der winzigen Kugeln angezündet.

Sie brannten mit der typischen Rauchentwicklung leicht bläulichgrün, und als Ferris etwas Wasser aus der Pütz dazugoß, zischte das Zeug nur, stieg nach oben und brannte auf dem Wasser weiter.

„Weißt du, was mir vorschwebt, Al“, sagte Ferris. „Einen Brandsatz zu bauen, der zehn- oder zwanzigmal so stark ist wie die chinesische Ausführung. Das müßte doch gehen, man muß eben nur die Mengen vergrößern.“

Al Conroy hob die Schultern.

„Ich weiß nicht, ob es da nicht irgendwo eine Grenze gibt“, sagte er. „Kann sein, daß so ein Ding durch sein Gewicht gar nicht fliegen und an Deck des eigenen Schiffes krepiert. Das können wir nur an Land herausfinden. Aber wir werden weiter experimentieren. Ich glaube, wir kriegen das noch raus.“

„Man könnte damit Feuersperren im Wasser legen“, meinte Ferris nachdenklich. „Wenn man beispielsweise von einem ganzen Pulk von Schiffen angegriffen oder verfolgt wird.“

Immer wieder war es der rothaarige Schiffszimmermann, der tüftelte und sich etwas Neues einfallen ließ. Eines Tages, das wußte Al Conroy, verfügten sie über die Teufelsdinger – dank Ferris’ ständiger Grübelei und Experimente.

Das Zeug wurde von Bill und Al Conroy sorgfältig wieder eingepackt und in die Pulverkammer gebracht. Die Anregung dazu war gegeben, und damit die Idee geboren.

Aber jetzt ging es auf die Stationen, denn die „Isabella“ hatte sich der Insel rasch genähert und segelte an der Nordseite dicht unter Land.

Der Mast war mit zwei Ausgucks besetzt. In einem stand der riesenhafte Gambianeger Batuti, im anderen Ausguck befand sich der schwarzhaarige und verwegen aussehende Blacky.

Sie hielten Ausschau nach kleinen Flüssen oder Bächen, die vom Landesinnern her ins Meer strömten.

Die Küste war teils felsig, von vielen Buchten eingeschnitten, teils aber auch wellig und fast eben. Zwischen den Felsenformationen befanden sich geradezu ideale Buchten. Etwas weiter im Land gab es Wälder mit Schirmpinien, wilde Olivenhaine und Ölbäume. Der Winter kam spät zu dieser Insel, denn das Klima war angenehm mild.

Mehr als eine Stunde lang segelte die „Isabella“ an der Nordküste entlang, und auf Carberrys fragenden Blick antworteten die beiden Ausgucks lediglich mit einem bedauernden Kopfschütteln.

„Hier muß es doch Wasser geben!“ rief Ed dem Gambianeger zu. „Woher stammt sonst das viele Grün?“

„Vielleicht von viel Regen“, meinte Batuti und hielt weiter Ausschau, aber voraus wuchteten jetzt Felsen aus dem Wasser, und ein Teil der Landschaft entzog sich ihren Blikken.

Dann ertönte doch noch der erlösende Ruf von oben.

„Ein See, aus dem ein Bach ins Meer mündet!“ meldete Blacky.

„Halbe Meile voraus“, bekräftigte Batuti. „Aber nur kleines Wasser, ganz schmal.“

„Na, für uns wird’s wohl reichen“, sagte Carberry grinsend. „Einer von euch kann wieder abentern!“

Batuti blieb freiwillig oben, dafür stand etwas später Blacky auf den Planken der Kuhl.

„Der See liegt weit im Landesinnern“, meldete er. „Dort scheint auch eine alte oder zerstörte Stadt zu liegen. Säulen stehen da inmitten eingestürzter Häuser. Vielleicht hat da mal ein Erdbeben stattgefunden, oder die Stadt ist uralt. Der Bach läuft direkt in eine Bucht, in der wir ankern können.“