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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 1

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Märgi loetuks
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Keineswegs schmierig aber war die Radschloßpistole, die er in beiden Fäusten hielt und auf Hasard gerichtet hatte.

„Was denn“, sagte Hasard und lächelte freundlich, „funktioniert der Kracher auch?“

„Worauf du einen Furz lassen kannst“, sagte der schmierige Kerl.

Hasard glitt langsam näher.

„Vorsichtig“, sagte der schmierige Kerl, „bleib lieber da, wo du bist. Das Loch, das dieses Ding pustet, flickt kein Arzt mehr zusammen.“

„Oh“, sagte der Seewolf. Und dann ruckte sein Kopf plötzlich hoch, und er starrte mit entsetzter Miene zum Vorkastell. „Geh da weg, Onkel!“ schrie er.

Der schmierige Mann riß den Kopf herum und spähte über die Schulter hoch zum Vorkastell. Aber da war gar kein „Onkel“. Und ihn selbst bewegte im selben Augenblick eine unsichtbare Kraft schwebend zurück durchs Kombüsenschott. Er segelte über den breiten Herd mit dem Holzkohlenfeuer, spürte die Hitze und zog den Abzug durch. Die Kugel durchschlug glatt die beiden Wandungen eines Kupferkessels und bohrte ein Loch in einen Mehlsack.

„Gordon Brown“, sagte der Koch mißmutig und schielte auf das Loch, aus dem Mehl rieselte, „steig vom Herd runter, ich brauch die Platte jetzt. Ich hab dir gleich gesagt, daß dich das da draußen nichts angeht. Du mußt noch Speck schneiden, und die Rüben sind auch noch nicht geputzt.“

Unter Gordon Browns Hintern stiegen Rauchwolken auf, und es roch gar nicht gut. Aber der schmierige Mann rührte sich nicht. Der Koch schnüffelte, schüttelte den Kopf und zog Gordon Brown von der Herdplatte. Einfach so. Der schmierige Mann kippte mit rauchender Hose zu Boden. Über die glimmenden Ränder goß der Koch eine Kelle Wasser.

„Blöder Hund“, murmelte er. Das Geschrei und Getrampel draußen störte ihn nicht im geringsten. „Fressen, saufen, huren, prügeln“, setzte er sein Selbstgespräch fort und schüttelte wieder den Kopf, „was ist das nur für eine Welt!“

Auf dem Mitteldeck ging Hasard mit fliegenden Fahnen unter. Carberry hatte seine Gehilfen mobilisiert. Gegen Musketen und Pistolen hatte selbst ein Seewolf keine Chance. Die einen hielten ihn in Schach, die anderen fielen wie die Wölfe über ihn her.

„Arwenack!“ brüllte das Bürschchen verzweifelt, aber da war der Holzklotz Blacky, der Donegal Daniel O’Flynn mit eiserner linker Hand zurückhielt, sich ins Gefecht zu stürzen.

„Hat keinen Zweck, Junge“, flüsterte Blacky und hatte direkt menschliche Züge. „Die verarbeiten dich zu Haferbrei.“

Donegal Daniel O’Flynn schluchzte auf, als Philip Hasard Killigrew den Lauf einer Muskete auf den Kopf kriegte und in die Knie brach. Noch ein Hieb brachte ihn endlich zu Boden. Zum zweiten Male innerhalb von vierundzwanzig Stunden tauchte der Seewolf in tiefe Bewußtlosigkeit. Er spürte nicht mehr, wie sie auf ihm herumtrampelten.

Der Profoß sah zu. Er lehnte auf der Steuerbordseite am Schanzkleid und hatte die Arme um die Luvhauptwanten geschlungen, um nicht in die Knie zu gehen. Er hatte Mühe, klar zu denken, spie Blut durch die Zahnlücken und grübelte darüber nach, ob er diesen Teufelsbraten von Seewolf gleich an der Rah aufknüpfen oder noch eine Weile schmoren lassen sollte.

Eins stand fest. Er hatte ihn, den Profoß, den Zahlmeister an Bord der „Marygold“, zu einem Nichts degradiert, seine Autorität zerschlagen, ihn herabgewürdigt. Was würde der Kapitän dazu sagen?

Der Profoß fluchte still vor sich hin, fuhr mit der Zunge über die blutenden Zahnlücken und zischte wieder einen Blutstrahl außenbords — nach Luv, benommen wie er war, und prompt stäubte ihm der Wind das Blut zurück ins Gesicht. Er sah aus, als hätte er auf einer Schlachtbank geschlafen.

Einer seiner Gehilfen schlingerte über das Deck und baute sich vor ihm auf. Sein rechtes Auge schimmerte schwarzblau und begann sich unter der Schwellung zu schließen.

„Wohin mit ihm?“ fragte er. Er schniefte und wischte sich das Blut von der Nase.

„Hängt ihn an die Rah!“ stieß der Profoß hervor.

„Aye, aye, an die Rah“, sagte der Mann und wandte sich um.

„Du bist wohl nicht bei Trost“, sagte Patrick Evarts, der Segelmacher, und löste sich aus der Gruppe der Seeleute. „Erstens habe ich den Killigrew-See-wolf vor der ‚Bloody Mary‘ aufgesammelt und bei dieser Sache ein Wörtchen mitzureden, denn wir haben ihn umsonst gekriegt, und zweitens muß das der Kapitän entscheiden.“

„Umsonst?“ fragte der Profoß empört. „Ihr habt London-Jack und Tom Smith dabei an Land zurückgelassen ...“

„Und dafür zwei Ersatzleute mitgebracht“, unterbrach ihn Patrick Evarts.

Der Profoß spuckte verächtlich aus. „Ersatzleute? Der eine ist schlimmer als ein reißender Wolf, und der andere noch nicht trocken hinter den Ohren. Außerdem steckt er mit dem Killigrew unter einer Decke. Was heißt hier überhaupt Killigrew? Dieser schwarzhaarige Bastard ist kein Killigrew, da freß ich meine Hose auf.“

„Und warum ist er kein Killigrew?“

„Weil die alle rothaarig, grünäugig und dicke Bullen sind, deswegen. Ich kenn die Sippe aus Falmouth. Schau dir doch mal diesen Bastard an – der ist so lang wie eine Großrah, schwarzhaarig und blauäugig. Die Killigrews sind zwar auch von der wilden Sorte, aber der da ist auf einer Kanonenkugel gezeugt worden. Nein, das ist kein ...“

„Er ist ein Killigrew, verdammt noch mal!“ Das Bürschchen stand vor den beiden, hochrot im Gesicht, mit blitzenden blauen Augen.

„Verpiß dich“, sagte der Profoß wütend.

„Hasard hat’s Ihnen wohl richtig besorgt, was, wie?“ fauchte das Bürschchen kampflustig.

Blacky hatte einen Moment nicht aufgepaßt, und da war ihm Donegal Daniel O’Flynn entwischt. Blacky stöhnte, verließ die Hammelherde auf der Backbordseite und stieg das schräggeneigte Deck nach Steuerbord hoch.

„Komm, Junge“, sagte er besänftigend und zerrte an Dans Schulter. „Ob Killigrew oder nicht, hier sind wir Affenärsche und Rübenschweine und haben nichts zu melden.“

„Ich schon“, sagte das Bürschchen patzig. „Und wenn sie Hasard aufknüpfen wollen, können sie mich gleich daneben hängen. Aber vorher schlag ich diesem Großmaul noch ein paar Zähne ein, so wahr ich ein O’Flynn bin.“

Der Profoß schob den blutigen Kopf vor.

„Ist dein Alter O’Flynn mit dem Holzbein?“

„Genau der“, sagte das Bürschchen. „Vielleicht was dagegen?“

Der Profoß verdrehte die Augen zum Himmel.

„O Gott“, sagte er „ein verkappter Killigrew und diese O’Flynn-Wanze an Bord – da können wir auch gleich mit dem Teufel zur See fahren und dessen Gesellschaft wäre noch besser.“

„Affenarsch“, sagte die O’Flynn-Wanze.

„Pack dich“, sagte der Profoß grimmig. „Dein Hasard wird nicht aufgeknüpft, aber er kriegt Feuer unter das Hemd, das garantier ich dir.“

„Sie sind ein Gentleman, Mister Profoß“, sagte das Bürschchen. „Ich hab’s sofort gewußt, als ich Sie sah.“

„Soll er nun aufgeknüpft werden oder nicht?“ fragte der Mann mit dem schwarzblau verschwollenen Auge.

„Nein, du Hammel, was, wie? Legt ihm Manschetten an und packt ihn in die Vorpiek. Ist das klar?“

„Aye, aye“, sagte der Mann.

4.

Die Vorpiek war der Eingang zur Hölle – ein finsteres Loch im untersten Bugraum, allerdings nicht vorgeheizt, wie es sich für einen Eingang zur Hölle geziemt, dafür aber feucht, muffig und mit jenen Gerüchen angereichert, die einem den Magen zuoberst kehren. Unter der Gittergräting schwappte stinkendes Bilgewasser und folgte sinnig den Roll- und Stampfbewegungen der „Marygold“. Wenn sie ihren Bug auf der Talfahrt schräg nach unten richtete, rauschte das Bilgewasser schäumend und gurgelnd voraus und stieg über die Gräting in die Vorpiek. Schob sich der Bug wieder nach oben, flutete das Bilgewasser achteraus. So wurden die Räume über dem Kiel ständig bewässert – mit jener Brühe, in der tote Ratten, Exkremente und sonstiger Abfall herumschwammen und eine kloakenähnliche Suppe bildeten. Deswegen stank es so infernalisch.

Paradoxerweise standen auf der Backbord- und Steuerbordseite der Vorpiek je weiß riesige Fässer mit Süßwasser. Die Fässer waren mit Brooktauen festgezurrt, die wiederum fest in solide eiserne Augbolzen verspleißt waren.

Zwischen den Fässern in dem schmalen Durchgang lag Philip Hasard Killigrew in einer Stellung, die einer Kreuzigung nicht unähnlich war. Er lag auf dem Rücken. Seine Arme, etwas höher als waagerecht gespreizt, waren mittels Kette mit je einem Augbolzen links und rechts verbunden. Eine eiserne Manschette als Endstück der Kette umschloß je ein Handgelenk.

Wie lange der Seewolf in diesem Höllenloch bereits lag, wußte er nicht. Er lebte in einem Alptraum, dessen hervorstechendste Merkmale Finsternis, bestalischer Gestank und die gefolterten Arme waren.

Irgendwann war er aufgewacht. Da hatte die „Marygold“ sich gerade auf einem steil abwärtsführenden Husarenritt in ein Wellental befunden, und die stinkende Bilgebrühe war über seinem Kopf zusammengeschlagen. Er hatte sich aufgebäumt, die Arme fast aus den Schultergelenken gerissen, das stinkende Wasser ausgespuckt und nach Luft geschnappt.

Seitdem lauerte er auf jede Talfahrt, bereit, sich aufzubäumen, um nicht abzusaufen.

Der Profoß wußte, wie man einen aufsässigen Kerl kleinkriegte. In der Vorpieke der „Marygold“ wurden Männer zu zitternden Jammerbündeln, und das Logbuch wies fünf Fälle auf, die als „ertrunken“ bezeichnet wurden.

Es war eine barbarische Methode, Männern das Rückgrat zu brechen.

Aus dem Alptraum fand Hasard allmählich in die Wirklichkeit zurück und registrierte bewußter, was mit ihm war und um ihn herum geschah. Schon aus dem Ansatz, wie sich das Schiff in die Talfahrt neigte, vermochte er bald abzulesen, wie hoch das Wasser in der Vorpiek steigen würde. Seine Beine waren nicht gefesselt. Sie halfen ihm, den Körper samt Kopf hochzudrücken, wenn es wieder soweit war.

 

Eigenartigerweise stieß die „Marygold“ bei fast jeder fünften Talfahrt steiler nach unten als sonst. Auch das Meer schien seine bestimmten, unveränderlichen Gesetze zu haben.

Hasard grübelte darüber nach. Er stellte sich die heranrollende See vor – vier Wellenberge mit ihren Tälern und hinter ihnen bereits mächtiger aufragend der fünfte Wellenberg. Wenn man an Oberdeck stand, mußte man das doch erkennen können, verdammt. Warum war ihm das noch nicht früher aufgefallen?

Hasard erschien es ungeheuer wichtig, darüber mehr zu erfahren. Wie war das, wenn weniger Seegang herrschte?

Automatisch zählte er dabei die Talfahrten und wappnete sich rechtzeitig zur fünften. Es war ein grimmiges Spiel, das Hasard allerlei abverlangte, aber er gab nicht auf. Sein Geist arbeitete unaufhörlich und beschäftigte ihn.

Er wußte, daß er sich tief unten im Vorbauch des Schiffes befand. Die Wasserlinie mußte mindestens fünfzehn Fuß über ihm verlaufen. Er lauschte dem Knacken und Ächzen der Verbände und dem Gurgeln des Wassers außenbords.

Das Schiff segelte immer noch über Backbordbug. Irgendwann hörte er das Schmatzen und Saugen der Pumpen, und tatsächlich verringerte sich der Wasserstand des Bilgewassers.

Waren Stunden vergangen? Tage?

Er hatte Hunger – und vor allem Durst. Daß er sich zwischen vier Wasserfässern befand, wußte er nicht. Und wenn, es hätte ihm auch nichts genutzt. Sie hatten ihn so angekettet, daß er nicht an sie heran konnte.

Das Licht, das zwischen der Unterkante des Vorpiekschotts und der Schwelle auf der Gräting hindurchschimmerte, sah er zuerst. Dann hörte er Schritte und das Zurückrasseln zweier Riegeln.

Das Vorpiekschott schwang auf.

Hasard kniff die Augen zusammen und blinzelte in den Schein der Öllampe. Undeutlich sah er hinter der Lampe die Umrisse einer Gestalt. Die Öllampe schwenkte zur Seite und wurde auf ein Faß gestellt.

Jetzt erkannte Hasard, wer vor ihm stand. Es war der schmierige Kerl, der ihn mit der Radschloßpistole bedroht hatte.

„Hast du Durst, Mister?“ fragte der Kerl und zeigte grinsend seine Stummelzähne. „Alle haben Durst wenn sie hier mehr als zehn Stunden zugebracht haben.“

„Na und“, sagte Hasard.

Der Kerl trat näher, beugte sich zu dem ersten Faß an der Backbordseite, drehte den Zapfhahn auf und hielt eine Muck, einen einfachen Becher, darunter. Wasser plätscherte verlokkend. Der Kerl schielte auf Hasard.

„Schau mal, Mister, schönes, klares, sauberes Trinkwasser.“ Er hielt den Muck hoch und trank.

„Ah“, sagte er dann, „kühl und frisch das Wässerchen!“

Er goß den Rest achtlos auf die Gräting.

„Du hast was vergessen“, sagte Philip Hasard Killigrew freundlich.

„Was denn?“

„Etwas zu gurgeln und dein stinkiges Gebiß auszuspülen.“

Gordon Brown duckte sich und starrte den Seewolf tückisch an. Dann wechselte sein Ausdruck plötzlich und wurde geradezu frömmelnd.

„Sie sagen, du seist einer von den Killigrews aus Falmouth.“

Hasard erwiderte nichts.

Gordon Brown faßte das als Zustimmung auf.

„Ihr habt viel Geld, wie?“

„Massenhaft“, sagte Philip Hasard.

Gier flackerte in den schmutzigen Augen Gordon Browns.

„Was zahlst du für eine Muck Trinkwasser?“

„Nichts“, sagte der Seewolf. „Verdufte, du dreckige Ratte!“

Gordon Brown zuckte zurück wie von einer Schlange gebissen. Die Maske der Frömmelei war wie weggeputzt. Die Visage, die statt dessen erschien, war ein Fratze voller Wut, Haß und Gemeinheit.

„Du hast mir den Hintern verbrannt!“ stieß er hervor.

Hasard grinste breit. „Freut mich, das zu hören“, sagte er.

„Dir – dir dreh ich den Hals um, du Hund!“

„Dann komm her“, sagte Hasard, „eine bessere Gelegenheit wirst du nie wieder kriegen.“

Gordon Brown war dumm genug, es zu versuchen. Aber in der Enge zwischen den vier Fässern gab es nur einen Weg, um an den Hals von Hasard heranzukommen: er mußte an dessen Füße vorbei.

Hasard zog die Beine an und trat zu, und zwar mit voller Wucht. Gordon Brown segelte durchs Schott und krachte auf die Gräting. Die Flüche, die er kurz darauf ausstieß, waren so ziemlich das Unflätigste und Gemeinste, was Hasard jemals gehört hatte. Aber sie paßten zu Gordon Brown wie die Faust aufs Auge.

Er erschien wieder im Vorpiekschott und angelte nach der Öllampe. Von den Beinen des Seewolfs blieb er weit genug weg.

„Du kriegst die Neunschwänzige, hat der Profoß gesagt“, stieß er zischend heraus. „Und weißt du, wer sie schwingen wird?“

„Vermutlich du“, sagte Hasard gleichgültig, und dann setzte er hart hinzu: „Vergiß dabei aber nicht, daß ich bisher immer zurückgezahlt habe. Dein verbrannter Hintern war da nur ein bescheidener Anfang.“

Gordon Brown fluchte wieder und rammte das Schott dicht. Die Riegel rasteten ein, und dann war da nur noch die Finsternis.

Aber nicht lange.

Ein scharrendes Geräusch ertönte vor dem Schott, und wieder schimmerte Licht durch den Spalt zwischen Gräting und Vorpiekschott, allerdings nicht so hell wie zuvor. Die beiden Riegel wurden vorsichtig zurückgeschoben.

Hasard zog die Beine an. Man konnte nie wissen.

Das Schott schwang auf, eine Kerze erschien, und dahinter tauchte die schmale Gestalt von Donegal Daniel O’Flynn auf.

„He!“ sagte Hasard.

„Pst, nicht so laut“, wisperte das Bürschchen. „Ich bin vorhin der Ratte gefolgt und hab alles mitangehört. Dieser Mistkerl!“

„Dan“, sagte der Seewolf sanft, „tu mir einen Gefallen und verschwinde. Wenn sie dich hier erwischen, bist du reif.“

Empört sagte das Bürschchen: „Ich laß doch meinen alten Freund Hasard Killigrew nicht sitzen, verdammt noch mal. Jetzt ist Mitternacht, und bis auf die Wache pennen alle. Aus der Kombüse hab ich Speck geklaut. Ich muß dich wohl füttern, wie? Mann, haben die dich hier festgezurrt. Aber erst kriegst du Wasser, warte mal.“

Er praktizierte die Kerze auf eine Tonne und zog eine Muck unter dem Hemd hervor. Dann zapfte er Wasser ab, beugte sich über den Seewolf und gab ihm zu trinken.

Hasard trank mit tiefen Zügen.

Donegal Daniel O’Flynn schnüffelte und sagte: „Mann, stinkt das hier. Wie hälst du das nur aus?“

„Nicht weiter schlimm“, sagte Hasard. „wenn man nachdenkt, vergißt man alles andere um sich herum. Spürst du die Schiffsbewegungen?“

Das Bürschchen nickte.

„Sie haben einen ganz bestimmten Rhythmus“, sagte Hasard. „Ich bin darauf gestoßen, daß jede fünfte Talfahrt steiler und tiefer als die vier vorigen ist.“

Dan riß die Augen auf und staunte.

„Mann“, sagte er „und wie kommt das?“

„Eben das möchte ich auch wissen“, erwiderte der Seewolf, „und darüber habe ich die ganze Zeit nachgedacht. In der Bewegung der Wellen liegt eine bestimmte Gesetzmäßigkeit, die man ergründen müßte. Die Frage lautet: warum bauen sich die Wellen so und nicht anders auf? Hängt das mit der Wassertiefe zusammen, mit dem Druck des Windes?“

„Mann, Mann“, flüsterte das Bürschchen, „du hast vielleicht Nerven. Hier – nimm mal die Speckscheibe.“ Er stopfte sie Hasard in den Mund und zapfte erneut Wasser in die Muck.

Hasard kaute und fand, daß es ihm eigentlich recht gut ginge – bis auf die beiden Ketten, die seine Arme auseinanderzerrten. Aber man konnte eben nicht alles haben.

„Die Maden habe ich vorher herausgepult“, sagte Donegal Daniel O’Flynn.

„Was?“

„Die Maden in dem Speck“, erläuterte das Bürschchen. „Du brauchst also keine Sorge zu haben, daß du jetzt Maden frißt.“

„Danke“, sagte der Seewolf und mußte grinsen. Dieser O’Flynn-Sohn war eine Marke für sich. Dann fiel ihm etwas ein, und er fragte: „Hat sich der Kapitän von diesem Kasten schon mal auf dem Achterdeck gezeigt?“

Dan schüttelte den Kopf.

„Nicht die Bohne. Die tun alle so geheimnisvoll. Ben Brighton, das ist ein Bootsmann, hat uns heute nachmittag in die Masten gescheucht und mit uns ’rumexerziert. Die Kanonen hat er uns auch erklärt. Bald würde scharf geschossen, hat er gesagt. Der Brighton ist ein feiner Kerl – die anderen sind es eigentlich auch, bis auf Gordon Brown.“

„Gordon Brown?“

„Die Ratte, der Kerl, den du in die Kombüse gefeuert hast. Er hilft doch dem Koch.“ Er schob Hasard wieder. Speck zwischen die Zähne. „Hast du vor morgen Angst, Hasard?“

„Ich? Wieso?“

„Du sollst morgen vor versammelter Mannschaft ausgepeitscht werden – von Gordon Brown.“

„Ach so.“ Hasard lächelte. „Wenn man den Willen aufbringt, kann man Schmerzen ignorieren. Das ist alles.“

Dan nickte wichtig.

„Also habe ich einen Willen. Früher habe ich immer gebrüllt, wenn der Alte mich mit seinem Holzbein verdrosch, aber später habe ich dann die Zähne zusammengebissen und keinen Ton herausgebracht. Und weißt du warum? Weil der Alte sich grün ärgerte, wenn ich nicht mehr brüllte, und die Lust verlor, mich zu verdreschen. Hier, trink noch mal!“

Hasard trank und kriegte anschließend noch eine Speckscheibe in den Mund gestopft.

„Der Profoß hat eine Stinkwut auf dich“, sagte Donegal Daniel O’Flynn, „erst hatte er dich an der Rah aufknüpfen wollen, aber Patrick Evarts, der Segelmacher, war dagegen. Sie brauchen uns wohl, weil zwei Kerle von dem Preßkommando an Land geblieben sind. Sie sprechen alle von dir – wegen der Keilerei vor der ‚Bloody Mary‘, und weil du den Profoß zusammengeschlagen hast. Das hat noch keiner geschafft.“

„Na ja“, sagte Hasard, „viel hat’s mir auch nicht eingebracht.“

„Doch, sagte Dan. „Die meisten stehen hinter dir. Wenn wir wollen, können wir den ganzen Kasten auseinandernehmen. Was meinst du?“

„Abwarten“, erwiderte der Seewolf.

„Ich könnte doch versuchen, die Manschetten an deinen Handgelenken aufzubrechen“, schlug Donegal Daniel O’Flynn vor.

„Womit denn? Die sind aus Eisen, und der Profoß hat den Schlüssel. Laß den Unsinn, Dan. Ich stecke morgen meine Prügelstrafe ein und damit basta. Was dann wird, werden wir sehen. Und dann verbiete ich dir, für mich Kopf und Kragen zu riskieren. Ist das klar?“

„Aye, aye, Sir. Ich meine ja auch nur ...“

Drei Minuten später verschwand Donegal Daniel O’Flynn und riegelte das Vorpiekschott wieder ab.

Irgendwann in der Nacht wurden die Stampf- und Schlingerbewegungen der „Marygold“ geringer und zu einem sanftem Wiegen. Philip Hasard Killigrew entspannte sich, soweit das überhaupt ging. Jedenfalls brauchte er nicht mehr zu befürchten, wie ein Katze ersäuft zu werden. Das stinkende Bilgewasser schwappte nur noch träge unterhalb der Gräting.

Dann erschienen die Ratten.

Zu sehen war nichts, aber da war das Pfeifen. Und dann spürte es der Seewolf. Ein länglicher Körper huschte über seinen Fuß, etwas scharrte an seiner Hose, und plötzlich stach ein nadelscharfer Schmerz durch sein rechtes Bein.

Philip Hasard Killigrew krümmte das Bein und schleuderte es – den Oberkörper qualvoll hochgebogen – wieder in die Streckung zurück.

Etwas quiekte schrill auf, klatschte gegen das Schott und fiel auf die Gräting. Noch einmal quiekte es und erstarb. Unzählige Pfeiftöne schnitten durch die Finsternis, an dem Schott wimmelten Leiber durcheinander, die sich scharrend und kratzend und fiepend bewegten.

Der Seewolf hämmerte seine Stiefel auf die Gräting und ließ seine Beine wirbeln, fegte mit ihnen über die Gräting, trat und stieß zu.

Wenn die Bestien an ihm vorbeihuschten und sich in seinen Hals verbissen, dann würde er in diesem Loch elend verrecken. Unkontrollierte Angst schoß in ihm hoch. Er tobte und riß an den Ketten, zog sich hoch, wälzte sich herum, trat mit den Füßen um sich, schnellte vor und zurück, wand sich, schleuderte den Kopf hin und her.

Es war sinnlos, aber er gewann mit der Toberei seine Beherrschung zurück.

„Du Narr“, sagte er laut vor sich hin, „du dreimal verdammter Narr! Legst dich mit dem Profoß an und erhältst jetzt die Quittung. Ratten!“

Er hing erschöpft an den Ketten und lauschte. Da waren nur das Schwappen und Plätschern des Bilgewassers, das Knarren der Holzwände, das gurgelnde Vorbeiströmen und Klatschen des Seewassers draußen an den Bordwänden. Er tastete den Raum vor sich mit den Füßen ab.

Nichts.

Er war so schlapp wie ein Rahsegel bei Flaute. Genauso fühlte er sich. Schweiß strömte über seinen Körper, biß in seine Augen. Seine Lungen pumpten nach Luft, in seinem Kopf hämmerte der Schmerz. Seine Handgelenke unter den eisernen Manschetten waren wundgescheuert. Er spürte das glitschige Blut.

 

Ihm fiel ein, daß die beiden Ketten links und rechts zu den Augbolzen führten, die in das massive Spantholz eingelassen waren. Wenn es ihm gelang, die Kette an sich zu drehen, müßte auch der Augbolzen dem Drehdruck folgen.

Er atmete tief durch.

Die Manschette ließ ihm genug Spielraum. Er probierte es zuerst rechts, verdrehte das Handgelenk so weit wie möglich nach links, bis seine Hand fast unter der Kette lag, packte zu und versuchte mit aller Kraft, die noch in ihm steckte, die Kette herumzudrehen, und zwar nach rechts.

Die Kettenglieder schoben sich zusammen, bildeten Kinken, verkürzten sich und rissen ihm fast den Arm aus. Verbissen drehte er weiter.

Dort, wo der Augbolzen im Spantholz saß, knackte es. Das Holz knarrte und ächzte.

Das ist gut, dachte der Seewolf, das ist sogar sehr gut.

Er hielt einen Moment inne und entspannte sich. Er spürte, daß er am ganzen Körper zitterte.

„Du bist ein Waschlappen“, sagte er laut vor sich hin, „ein dreimal verdammter Narr und noch dazu ein Waschlappen.“

Er lauschte seiner Stimme. Und da war plötzlich wieder das widerliche Pfeifen.

Die geben auch nicht auf, dachte er.

Wut schoß wie ein Stichflamme in ihm hoch. Er packte erneut zu, umkrallte die Kette, biß die Zähne aufeinander und stellte sich vor, ein paar Ratten am Hals hängen zu haben. Mit einer berstenden Kraftanstrengung verdrehte er die Kette – nach rechts, dann nach links, wieder nach rechts, nach links. Der Augbolzen quietschte mißtönend in seiner Holzbettung. Das war Musik in den Ohren des Seewolfs. Irgend etwas splitterte. Hasard zerrte wie ein Berserker, und dann prallte er plötzlich mit dem Rücken auf die Gräting.

Fast staunend beugte er den rechten Arm. Ja, er konnte ihn frei bewegen. Die Kette klirrte an der Manschette. Er tastete an den Gliedern entlang und stieß an den Augbolzen. Also hatte er es geschafft.

Aber da war noch etwas – verdammt, das untere Brooktau, das in den Augbolzen eingespleißt war und das Wasserfaß im unteren Teil absicherte. Daran hatte er nicht mehr gedacht. Bei schwererem Seegang konnte das gefährlich werden.

Und frei war sein Arm immer noch nicht. Über den Augbolzen war er jetzt mit dem Brooktau verbunden. Aber er hatte mehr Spielraum.

Hasard zog die Beine an, schob sich an dem Wasserfaß zur Linken hoch und setzte sich auf. Er lehnte sich an die Dauben und genoß die sitzende Stellung. Sein Herz hämmerte von der Anstrengung und pumpte das Blut mit hektischen Stößen durch die Adern.

Sie huschten heran und stießen mit ihren spitzen Schnauzen an seine Füße. Ihr Fiepen trieb ihn hoch und zur Raserei. Er konnte gebückt stehen, soviel Platz ließ ihn die linke Kette. Mit der rechten Kette schlug er zu. Samt Augbolzen und Brooktau klirrten sie über die Gräting. Er peitschte sie dahin und dorthin und spürte mit grimmiger Befriedigung, wie sie traf und Knochen zerbrach. Sie pfiffen schrill und schienen wieder den Rückzug anzutreten.

Spürten die Biester, daß ihre Chancen, an ihm herumzunagen, geringer geworden waren? Hatten sie ihre toten Artgenossen mitgenommen?

Hasard tastete mit der Rechten die Gräting vor sich ab. Seine Finger stießen gegen einen dünnen Schwanz. Angewidert zuckte er zurück, angelte mit dem Stiefel nach der toten Ratte und stieß sie in Richtung Schott.

Dann versuchte er, mit beiden Händen die linke Kette in sich zu drehen, um auch diesen Augbolzen herauszubekommen. Aber obwohl er jetzt die doppelte Armkraft einsetzen konnte, rührte sich das verdammte Ding nicht von der Stelle.

Er fluchte, probierte es noch zweimal und gab dann auf. Es hatte keinen Zweck. Immerhin aber hatte er jetzt genügend Bewegungsfreiheit und war den Ratten gegenüber nicht mehr ganz wehrlos.

Er beugte sich zu dem Zapfhahn des linken Fasses, drehte ihn auf, hielt den Mund unter den Hahn und trank. Dann legte er sich unter den Hahn und ließ sich das Wasser über Kopf und Gesicht laufen. Als er den Hahn wieder zudrehte, fühlte er sich erfrischt.

Er wartete auf die Ratten. Aber sie schien endgültig genug zu haben. Vielleicht hatten sie auch die Bäuche voll – mit ihren toten Artgenossen. Ratten waren auf jedem Schiff. Sie lebten von dem Abfall in der Bilge, nagten sich zu den Vorratsschapps durch und waren nicht auszurotten. Wenn sie nichts mehr fanden, zerrissen sie sich untereinander. Nur die Stärksten überlebten. Nur wenn ein Schiff die letzte Reise in die Tiefe antrat, soffen sie mit ab – oft genug die letzten Lebewesen, die sich an die Wrackteile krallten, bis die unersättliche See auch sie verschlang.

Philip Hasard Killigrew rollte sich auf die linke Seite und schlief ein. Er schlief tief und fest, aber er war sofort wach, als die beiden Riegel zurückklirrten.

Mehrere Öllampen warfen ihr Licht in die Vorpiek.

Der Seewolf blinzelte in das Licht und richtete sich langsam auf.

Der Profoß stand im Vorpiekschott, hatte die Lampe angehoben und leuchtete den Raum ab. Der Schein wanderte von den beiden toten Ratten zu seinen Füßen nach rechts, dann nach links, verharrte auf der Stelle, wo sich einmal der Augbolzen befunden hatte, wanderte die Kette entlang über die Manschette, den Arm und richtete sich auf das Gesicht des Seewolfes.

Hasard starrte in das Licht, ohne mit der Wimper zu zucken.

Schweigen.

Der Profoß senkte die Lampe und beleuchtete noch einmal die beiden Ratten. Hasard hatte ihnen das Rückgrat zerschmettert. Zersplitterte Knochen ragten aus blutig-zerrissenem Fell. Die spitzen Schnauzen klafften auf, unter den hochgestülpten Lefzen schimmerten nadelspitze Zähne. Es sah aus, als grinsten die Biester.

„Unglaublich“, murmelte der Profoß fassungslos.

„Sollte ich mich vielleicht anknabbern lassen?“ fragte der Seewolf freundlich. „Schließlich hat jeder Mann das Recht, zu kämpfen, solange noch ein Funken Leben in ihm ist. Hast du schon mal gegen Ratten gekämpft, Profoß – ich meine, mit gefesselten Händen?“

„Nein.“

„Tut mir leid, daß ich den Augbolzen abmontiert habe. Aber es läßt sich wohl etwas tiefer wieder einschlagen. Das Faß muß abgesichert werden, sonst geht’s bei Seegang auf die Reise und zertrümmert womöglich die anderen Fässer.“

„Jawohl“, sagte der Profoß und hätte fast noch „Sir“ hinzugefügt. Er biß sich auf die Lippen und starrte in die eisblauen Augen. Widerwillig wurde ihm bewußt, daß er diesen Mann bewunderte. Der war in der Vorpiek nicht weichzuklopfen, niemals, der war unzerstörbar und spuckte selbst dem Tod noch in die Zähne. Und wenn, dann mußte man ihn dreimal totschlagen, und beim viertenmal würde der Sensenmann die Flucht ergreifen.

Er schüttelte den Kopf, betrachtete die Platzwunden an der Schläfe und die Schwellungen auf dem Schädel des großen Mannes, entdeckte das durchblutete rechte Hosenbein und sagte fast entschuldigend: „Es ist soweit.“

„Was?“ fragte der Seewolf, obwohl er es wußte.

„Dreißig Schläge mit der Neunschwänzigen wegen versuchter Meuterei.“

„Ich würde Meuterer an der Rah aufknüpfen“, sagte der Seewolf.

„Der Kapitän hat anders entschieden.“

„Oh“, sagte Hasard, „warum diese Milde?“

„Weiß ich nicht“, erwiderte der Profoß brummig. Er beäugte den lächelnden Hasard mißtrauisch. „Bist du bereit oder gibt’s wieder Ärger?“

„Ich bin bereit.“

Hasard streckte die Hände vor.

Der Profoß trat an ihn heran und schloß die Eisenmanschetten auf.

„Ich muß dir aber jetzt die Hände auf den Rücken fesseln.“

„Bitte sehr“, sagte der Seewolf, „aber es ist wirklich nicht nötig. Wenn ihr mich nachher an die Wanten fesselt, genügt das. Den Gang bis dahin würde ich gern ungefesselt gehen.“

„In Ordnung“, sagte der Profoß und mußte sich wieder auf die Lippen beißen, um nicht „Sir“ hinzuzufügen. Edwin Carberry, eisenharter Mann und Zuchtmeister auf der „Marygold“, geriet in Verwirrung.