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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 1

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Märgi loetuks
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6.

Die „Marygold“ wurde klar zum Gefecht gemacht. Das Kombüsenfeuer war erloschen.

Ferris Tucker, der Schiffszimmermann, ein riesiger Kerl mit Schultern so breit wie ein Rahsegel, verschalkte Luken und Niedergänge, ließ Sandsäcke aus dem Bauch des Schiffes an Deck mannen, stellte Pützen bereit und strich wie ein grollender Geist durchs Schiff.

Die Geschütze hinter den Pforten auf dem Mitteldeck waren klar, um ausgerannt zu werden – drei an der Backbordseite, drei an der Steuerbordseite. Es waren sogenannte Minions – Vierpfünder mit gegossenen Bronzerohren. Vorn auf der Back vor dem Vorkastell standen noch zwei leichte Serpentinen in drehbaren Gabellafetten und auf dem Achterdeck zwei Falkons-Drei-Pfünder.

Ein Schlachtschiff war die „Marygold“ keineswegs, und ihre Armierung war eher lächerlich. Aber sie war schnell, wendig und hervorragend ausgetrimmt.

Außerdem wurde sie von einem Kapitän geführt, der zäh, verwegen und von einer rücksichtslosen Härte war. Rechnete man noch seine seemännischen Qualitäten hinzu, mit der er ein Schiff wie die „Marygold“ zu handhaben verstand, dann war es gleichgültig, ob der Gegner größer und besser armiert war. Bei aller Verwegenheit, die Francis Drake auszeichnete, berechnete er kühl und sachlich seine Chancen, und wenn er ins Gefecht ging, dann durfte eins als gesichert vorausgesetzt sein: der taktische Vorteil.

An diesem Tag riß Francis Drake seine erste Beute.

Die Segel, die Dan vom Hauptmars aus gesichtet hatte, wuchsen aus der Kimm hoch.

„Eine Galeone!“ schrie Dan aufs Deck hinunter. „Ein gottverdammter Spanier!“

„Woher will dieser Furz das wissen, was ein gottverdammter Spanier ist?“ murmelte der Profoß. „Er hat doch bestimmt noch nie einen gesehen.“ Laut brüllte er zurück: „He! Wieso ein Spanier? Woher weißt du das?“

„An seinem Bugspriet baumelt ein Holzkreuz!“ schrie Donegal Daniel O’Flynn. „Führen das vielleicht die Franzosen oder Holländer oder Schweden? Nein, nur die Spanier, also ist es einer, verdammt noch mal, ich hab doch Augen im Kopf.“

Hasard lächelte vor sich hin. Er stand an der vorderen Steuerbordkanone als Geschützführer und spähte über das Schanzkleid. Auch er hatte scharfe Augen, aber das Kreuz konnte er noch nicht erkennen. Dan O’Flynn mußte tatsächlich Raubvogelaugen haben.

Francis Drake trat an die Schmuckbalustrade des Achterkastells.

„Männer!“ rief er über das Deck. „Wir werden entern! Das heißt, ich will diesen Don so haben, daß er kein Trümmerhaufen ist, wenn er die Flagge streicht. Schlagt also nicht alles kurz und klein, wenn ihr ihm an die Gurgel geht. Tut eure Pflicht. Gott möge euch behüten. Stückmeister!“

„Sir?“ Der Stückmeister Barry Burnaby trat ans Achterkastell und schaute zu dem Kapitän hoch.

„Glauben Sie, daß Sie es schaffen, mit einer der beiden Serpentinen vorn auf der Back dem Don einen Achterstich verpassen zu können? Und zwar müssen Ruderkopf oder Pinnenbaum getroffen werden.“

Es war klar, was der Kapitän wollte. Wenn das Ruder ausfiel, war der Spanier manövrierunfähig. Andererseits war ein Ruderkopf oder Pinnenbaum mit Bordmitteln vom Schiffszimmermann ohne weiteres wieder zu reparieren.

Barry Burnaby zögerte, dann sagte er: „In die Heckgalerie setz ich ihm bestimmt ’ne Kugel, Sir, aber ob ich dabei den Ruderkopf erwische …“

Er schielte zu Hasard zurück und druckste herum.

„Was ist los, Burnaby?“ fragte der Kapitän scharf.

„Ich – ich bin zwar Stückmeister, Sir“, sagte Burnaby, „aber so ein Schuß ist doch verdammte Glückssache.“ Er holte tief Luft und spuckte es aus: „Der Seewolf ist besser als ich, Sir, das wollte ich damit sagen.“

Die scharfen grauen Augen blitzten zu Hasard hinüber, der unbeteiligt über die See starrte und den Spanier beobachtete.

„Killigrew!“

„Sir?“

„Trauen Sie sich einen solchen Schuß zu?“

„Aye, aye, Sir. Ich schlage aber vor, nicht den Ruderkopf zu zerschießen, sondern etwa zwei Handbreit darüber zu halten.“

„Darüber?“ Erstaunen spiegelte sich im Gesicht des Kapitäns.

„Aye, Sir.“ Hasard grinste unverschämt. „Dann fällt der Rudergänger um, aber der Ruderkopf bleibt heil.“

„Und die Pinne wird vom nächsten Rudergänger besetzt, wie?“

„Nicht doch, Sir. Erst mal wird im Ruderhaus des Dons ein heilloses Durcheinander herrschen – Zeit genug, daß die ‚Marygold‘ von achtern aufläuft, wir längsseits gehen und entern. Das war doch Ihr Plan, oder?“

„Exakt“, sagte der Kapitän. „Haben Sie diesen Trick bei Sir John gelernt?“

„Bei wem sonst, Sir?“ Hasard hatte wieder sein unverschämtes Grinsen. „Das alte Rauhbein war in dieser Beziehung ein Genie.“

Jetzt lächelte auch der Kapitän.

„Gut, besetzen Sie vorn die Steuerbord-Serpentine. Ich werde den Don so ansteuern, daß wir hinter ihm im Kielwasser hochluven. Dann folgen wir ihm, und sie feuern bei etwa fünfzig bis sechzig Yards Entfernung. Dann gehen wir noch höher an den Wind und fallen von der Luvseite über ihn her. Alles klar?“

„Aye, aye, Sir.“

„Ausguck!“ rief der Kapitän zu Dan hoch.

„Sir?“

„Noch irgendwelche Segel in Sicht?“

„Nichts, Sir.“

„Den Don genau im Auge behalten. Alles melden, was er tut. Ist das klar?“

„Aye, aye, Sir, alles melden, was er tut. Zur Zeit hält er stur Kurs.“

Der Spanier lief über Steuerbordbug von Westen heran. Er segelte mit halbem Wind, der sich etwas gedreht hatte und jetzt aus der Nordrichtung wehte.

Die „Marygold“ segelte fast platt vor dem Wind und rauschte von Norden mit voll geblähten Segeln wie ein wütender Schwan auf den Spanier zu.

Der Stückmeister hatte – nach der Entscheidung des Kapitäns den Spanier zu entern – aus der Waffenkammer Handwaffen an die Entermannschaft verteilt: langklingige Entermesser, Kurzsäbel, Pistolen, Äxte, Dolche, dazu Enterhaken mit scharf und spitz gekrümmten ankerförmigen Eisenteilen, die an langen Tampen befestigt waren, sowie Hellebarden.

Hasard hatte sich einen Kurzsäbel geschnappt, der gut in der Faust lag und zweiseitig geschliffen war. Die beiden Schneiden waren rasiermesserscharf. Dann hatte er die Steuerbordserpentine überprüft und gleichfalls die Waffe auf der Backbordseite. Man konnte nie wissen. Die Lunten waren klar, beide Serpentinen – Vorderlader – hatten ihre Pulverladung und davor im Rohr eine zweipfündige Eisenkugel.

Smoky, der ehemalige Decksälteste, und Blacky, der seine Rechte bei der Auseinandersetzung mit dem Seewolf in das Querschottholz gehämmert hatte, waren bei ihm – und Barry Burnaby, der Stückmeister, der so aufgeregt war wie eine Jungfrau vor der Hochzeitsnacht.

„Wenn du vorbeiballerst“, sagte er, „reißt mir der Alte den Kopf ab.“

„Mir auch“, sagte Hasard gleichmütig und peilte dabei über das Geschützrohr. Dann zog er die Flasche mit dem Schottischen unter dem Hemd hervor, reichte sie Burnaby und grinste.

Burnaby kriegte Stielaugen, langte zu und soff.

„Blacky und Smoky auch“, sagte der Seewolf.

Die Flasche wanderte wieder—wie vordem in der Kombüse—von Hand zu Hand.

Die beiden Schiffe segelten inzwischen aufeinander zu – das heißt, die „Marygold“ lag auf einem Kurs, der den der spanischen Galeone fast schnitt.

Hasard sagte: „Geit die Blinde auf, ich hab sonst kein Schußfeld.“

Burnaby zögerte.

„Aber …“ sagte er.

„Aufgeien“ befahl Hasard kurz und scharf.

Blacky, Smoky und der Stückmeister machten sich über die Geitaue her und holten die Blinde, das Segel unter dem Bugspriet hoch.

Von achtern brüllte Ben Brighton: „Geit die Blinde auf!“

Hasard grinste die anderen an.

„Na bitte“, sagte er, „man muß immer um eine Idee schneller als die anderen sein – dann ist man vorn.“

„Aye, aye, Sir“, sagte Burnaby mit Inbrunst und war weit davon entfernt, Hasard als einen Decksmann zu betrachten. Hier vorn, vor dem Bugkastell, hatte der Seewolf das Kommando.

„Ist noch was in der Flasche drin?“ fragte Hasard.

Smoky hatte sie und peilte den Pegel.

„Glaube ja“, sagte er.

„Sauf sie aus“, sagte Hasard und blickte ihn scharf an. „Wenn ich den Rudergänger weggeputzt habe, luvt der Kapitän an. Das heißt, daß wir hier auf der Back als erste den Don querab haben. Und was tun wir dann, Smoky?“

„Wir springen ’rüber und räumen den Don von achtern auf.“

„Exakt“, sagte Hasard, „und zwar springe ich als erster, und du, Smoky, jumpst sofort hinter mir her und hälst mit den Rücken frei. Barry und Blacky folgen – links und rechts von mir – und decken unsere Flanke.“

„Und du?“ fragte Smoky atemlos.

„Ich säble mich zu dem Kapitän durch und kitzle seinen Hals, damit er schön friedlich wird.“

„Mann“, sagte Smoky, „dann entern nur wir vier den Don?“

„Klar“, erwiderte der Seewolf, „wenn wir vier das Achterkastell im Griff haben, braucht der Kapitän nur noch die Leinen herüberzugeben und kann bequem an Bord steigen.“

„Exakt“, sagte Smoky und leerte die Flasche. Mit weitem Schwung holte er aus, um sie in die See zu werfen.

Hasard langte zu und griff nach der Flasche.

„Nicht doch“, sagte er und zeigte sein Gebiß. „Die brauche ich noch.“ Er klemmte sie unter seinen Gurt.

„O Mutter Maria“, sagte Burnaby, „wenn das nur gutgeht.“

„Bist du ein Katholischer?“ fragte Hasard.

„Ja.“

„Barry“, sagte Hasard, „die Mutter Maria war bestimmt nicht die Stammesmutter der Dons, die waren zu der Zeit noch gar nicht auf der Zeitrechnung. Sie ist die Mutter aller Christen, also auch unsere. Laß sie aus dem Spiel, wenn wir zur See fahren. Hier sind wir Freie. Hier gibt’s keinen Weihrauch und fromme Sprüche. Hier sind wir alle gleich – ob Katholiken oder nicht. Hier regiert die See, und der Wind ist ihr Diener. Ist das klar?“

 

„Aye, aye, Sir“, sagte der Stückmeister Barry Burnaby, der seit fünf Jahren bei Francis Drake fuhr und über zehn Jahre älter als der Seewolf war.

„Na denn“, sagte Hasard und spähte voraus. „Ich glaube, in einer Viertelstunde können wir dem Don das Fürchten beibringen.“

„Deck!“ schrie Donegal Daniel O’Flynn aufgeregt vom Hauptmars herunter. „Der Don luvt an und geht höher an den Wind!“

Die Männer der „Marygold“ starrten über die See. Auf der spanischen Galeone – einem dickbauchigen Schiff mit Fockmast, Großmast, Besanmast und Latein-Besanmast – waren die Segel angebraßt worden. Ihr Bugspriet schwenkte herum und zeigte das baumelnde Holzkreuz, das die meisten Schiffe Philipps II. von Spanien als Symbol der Christenheit über die Meere trugen. Daß es an den Gestaden der Neuen Welt dann keineswegs christlich zuging, merkten die Bewohner meistens erst, wenn es zu spät war und Feuer und Schwert unter ihnen gewütet hatten – ganz abgesehen von den Beutezügen in bester Raubrittermanier.

Die Galeone war ein Einzelfahrer, da sie nicht im Geleit segelte, was an sich üblich war, um die Beute aus der Neuen Welt sicher über den Atlantik zu bringen.

Das ließ drei Schlüsse zu. Entweder waren ihre Frachträume leer, oder sie war vom Geleit abgekommen, oder sie war so schwer bewaffnet, daß sie keinen Geleitschutz brauchte.

Das erstere schien nicht zuzutreffen, denn sie lag ziemlich tief im Wasser. Hingegen waren allmählich deutlich ihre Stückpforten zu erkennen, und die reichten, um so manch braven Mann auf der „Marygold“ die Haare zu Berge stehen zu lassen.

Das Bürschchen im Hauptmars indessen verkündete lauthals und völlig respektlos: „Auf der Backbordseite hat der Don nur dreißig Kanonen.“

Er sagte „nur“ – was bei den Hartgesottenen wie dem Profoß und dem Riesen Ferris Tucker Heiterkeit hervorrief, während so mancher junge Kampfhahn doch erst mal den Kloß im Hals herunterschlucken mußte.

Auf der „Marygold“ breitete sich Stille aus – die Ruhe vor dem Sturm. Nur halblaut gab der Kapitän seine Anweisungen an den Rudergänger.

Da der Spanier hoch an den Wind gegangen war – er segelte jetzt fast nordöstlichen Kurs –, verringerte sich der Abstand zwischen den beiden Schiffen zusehends.

Achthundert Yards Abstand!

Auf der Galeone fielen die Stückpforten, und sie zeigte ihre Zähne – beachtliche Zähne ziemlichen Kalibers.

Francis Drake reagierte prompt. Er ließ anbrassen und wich nach Steuerbord aus. Mitdrehen konnte der Spanier nicht – es sei denn, er wendete. Aber er segelte seinen Kurs weiter.

Sofort fiel der Kapitän auf den alten Kurs zurück und zeigte dem Spanier die schmale Silhouette. Eine Breitseite konnte ihn nicht mehr kratzen. Der Spanier hatte die Gelegenheit zum Kernschuß verpaßt, denn jetzt begann Francis Drake langsam nach Backbord hochzudrehen und in einem Halbkreis das Kielwasser des Spaniers anzusteuern.

Hasard grinste vor sich hin und reichte dem Stückmeister die Lunte.

„Anzünden“, sagte er knapp.

Er kniete seitlich von der Serpentine und peilte über das Geschützrohr.

Zwei Kanonen im Heck der Galeone wummerten, spuckten Feuer und Pulverqualm, und zwei runde Brocken segelten heran. Ihre Flugbahn war deutlich zu erkennen. Fünfzig Yards vor dem Bug der „Marygold“ war die Luftreise der beiden Brocken zu Ende. Sie klatschten ins Wasser und zauberten zwei weiße Schaumkronen auf die Oberfläche.

„Pff“, machte Hasard. „Die schießen wie alte Waschfrauen. Mal sehen, wie lange sie brauchen, bis sie ihre Stücke wieder klar zum nächsten Schuß haben.“

Die „Marygold“ lag jetzt genau im Kielwasser der Galeone und jagte hinter ihr her. Ihr Bugspriet senkte sich sanft, stieg wieder hoch, senkte sich. Hasard beobachtete ihn, während er gleichzeitig weiterpeilte. Das war wichtig. Er durfte nicht zu hoch und nicht zu tief abkommen. Im Direktschuß – dem Kernschuß – mußte seine Visierlinie eine direkte Gerade zum Ziel bilden. Das Ziel lag, wie er gesagt hatte, etwa zwei Handbreiten über dem Ruderkopf. Der Ruderkopf war der oberste Abschluß des Ruderblatts. Seine waagerechte Verlängerung bildete der Pinnenbaum, der im Ruderhaus endete. Dort stand der spanische Rudergänger.

Hasard konzentrierte sich voll und ganz auf das imaginäre Ziel, registrierte die Stampfbewegungen der „Marygold“, korrigierte die Seiten- und Höhenrichtung der Serpentine, die in der Gabellafette drehbar gelagert war, setzte sie dann fest und war bereit.

Der Abstand zwischen der „Marygold“ und der Galeone schmolz zusammen. Unterarmiert war sie, die gute „Marygold“, aber sie war schnell, unheimlich schnell. Sie lag leicht nach Steuerbord über und nahm die See wie ein rassiges Rennpferd. Die Galeone vor ihr, dickbäuchig mit breitem Heck, walzte wie eine Kuh durchs Wasser – behäbig, satt, fast träge. Ihre Bestükkung allerdings war scharf, eine segelnde Festung mit schwerer, mittlerer und leichter Artillerie.

Auf ihrem Achterkastell tauchten Gestalten auf, montierten an Gabelstützen, auf denen Handfeuerwaffen lagerten.

Der Kapitän hatte vorgesorgt.

Vom Vorkastell krachten Musketenschüsse. Die Scharfschützen des Kapitäns traten in Aktion.

Zwei Spanier brachen neben ihren Gabelstützen zusammen. Ein dritter ruderte armschwenkend und taumelnd auf die Steuerbordseite, prallte gegen die Zierreling, knickte über ihr zusammen und kippte außenbords. Sein Kopf verschwand im Wasser, tauchte wieder auf, eine Welle packte ihn und schwemmte ihn achteraus. Als die „Marygold“ luvwärts an ihm vorbeisegelte, schien er bereits bewußtlos zu sein. Er trieb in der See, ohne sich zu bewegen – sie würde ihn zu sich nehmen, das war sicher.

Die anderen Gestalten auf dem Achterkastell der spanischen Galeone waren nach den Musketenschüssen der „Marygold“ sehr schnell in Deckung gegangen. Kampfgeist hin, Kampfgeist her, sehr wild schienen die Dons nicht zu sein.

Die Stimme des Kapitäns schallte über die Decks: „Gut das Vorkastell! Haltet sie unter Beschuß, damit der Seewolf Ruhe zum Zielen hat!“

Der Seewolf!

Hasard hatte es gehört und fragte sich, ob er diesen Namen, den er zum erstenmal vor der „Bloody Mary“ gehört hatte, nun akzeptieren oder verwünschen solle. Seewolf! Raubfisch im nördlichen Atlantik—kurzköpfig und mit einem wüsten Gebiß ausgestattet. Er blickte kurz zu Burnaby nach rechts, der eine rauchende Lunte in der Hand hielt.

„Seh ich wie ein Seewolf aus?“ fuhr er ihn an.

„Ja“, sagte Burnaby prompt.

„Danke“, sagte Hasard erbittert und fügte ziemlich unlogisch hinzu: „Ich dachte, ich sähe wie ein Mensch aus.“

„Ja – ja“, sagte Burnaby verwirrt, „wie ein Mensch natürlich auch …“

„Ich bin ein Mensch und kein Fisch!“ fauchte ihn Hasard an.

„Aye, aye, Sir“, sagte der Stückmeister, „Entschuldigung, Sir.“

„Verrückt“, murmelte Hasard und peilte über das Geschützrohr.

Die „Marygold“ holte auf. Etwa hundert Yards lagen noch zwischen ihr und der Galeone. Vom Vorkastell hinter Hasard krachten unaufhörlich Musketenschüsse und zwangen die Spanier in die Deckung.

Hasard duckte sich lauernd zusammen und streckte die Hand nach rechts aus.

„Her mit der Lunte!“

Burnaby drückte sie ihm in die Hand.

„Vorsicht, Sir, sie brennt!“

Hasard erlaubte sich noch einen Blick auf den Stückmeister und schüttelte den Kopf.

„Das soll sie doch, oder?“

„Aye, aye, Sir.“

Hasard seufzte, vergaß den Stückmeister, der ein Kind zu kriegen schien und in den Wehen lag, lehnte sich mit der rechten Schulter gegen das Bodenstück, peilte, wartete, wurde eins mit der Serpentine.

„Heilige Mutter Maria“, flüsterte Burnaby.

Hasard hörte es nicht.

„Mannmann“ keuchte Smoky.

Hasard hörte es nicht.

„Himmel-Arsch!“ sagte Blacky.

Hasard hörte es nicht. Zwei Handbreiten über dem Ruderkopf befand sich das Ziel. Der Ruderkopf sackte nach unten weg, erschien wieder, wanderte durch die Ziellinie nach oben, verharrte dort, sackte nach unten, verschwand.

Hasard wartete und war so kalt wie ein Eisblick. Langsam glitt seine Rechte mit der Lunte zur Zündpfanne, deren schmaler Kanal zur Pulverladung im Bodenstück der Serpentine führte.

Noch sechzig Yards.

Die drei Männer neben und hinter ihm stöhnten. Über ihnen auf dem Vorkastell wummerten und krachten die Musketen.

Fünfzig Yards.

Hasard sah den Ruderkopf von unten nach oben wandern. Die „Marygold“ bewegte sich umgekehrt – sie raste in ein Wellental.

Jetzt!

Hasards Hand führte die Lunte auf die Pfanne. Er warf sich nach links.

Bruchteile von Sekunden später spie die Serpentine Feuer und Rauch und ruckte zurück.

Mehrere Dinge passierten gleichzeitig.

Zwei Handbreiten über dem Ruderkopf der Galeone prangte ein dunkles Loch.

Die „Marygold“ legte sich scharf nach Steuerbord über, scherte aus dem Kielwasser der Galeone aus und luvte an.

Und Burnaby tanzte wie ein Irrer auf der Back herum und brüllte: „Treffer! Treffer! Er hat dem Don eine verplättet!“

Bei dem „Don“ herrschte sichtlich Zustand. Die Galeone zackte kurz nach Backbord, und ihre Segel begannen zu schlakkern und zu killen. Scheinbar steuerlos fiel sie jäh nach Lee ab, und Hasard sah, wie das Ruderblatt jede Bewegung nachvollzog – ein Steuerelement ohne Funktion, weil der Rudergänger fehlte.

„Klar zum Entern!“ stieß er hervor und schnappte sich den Kurzsäbel, der hinter ihm gelegen hatte. Er warf ihn in die Linke und zog die Flasche hervor.

Die „Marygold“ schob ihren Bugspriet an der Achterkante des Hecks der Galeone vorbei. Hasard duckte sich, faßte einen der vier Spanier, die sich über die Reling des Achterkastells beugten und wild gestikulierten, ins Auge und schleuderte die Flasche hoch.

Sie zerplatzte auf dem Schädel des Spaniers und schleuderte ihn zurück.

Genau in diesem Moment sprang Hasard wie eine Katze auf den hölzernen Wulst, der unterhalb des Kastells wie ein Gurt das Heck umschloß, griff mit der Linken in die Reling und säbelte mit der Rechten, die inzwischen den Zweischneider hielt, einmal kurz nach links und nach rechts.

Das waren genau drei Schritte in Höhe der Kinnladen der drei Spanier, die zu neugierig gewesen waren. Blut schoß über die Bordwand. Links und rechts neben Hasard klatschte es kurz hintereinander – links von ihm tauchte das verschwitzte Gesicht von Smoky auf, rechts keuchte Blacky. Burnaby sprang Hasard fast ins Kreuz. Sie starrten an der steil aufragenden Bordwand hoch und hatten wilde Gesichter.

„Auf sie!“ brüllte Hasard.

„Arwenack!“ schrie das Bürschchen mit überschnappender Stimme vom Hauptmars und fiel vor Begeisterung fast von der Plattform.

Und vier Männer enterten auf das Achterkastell.

Wie ein Keil stürzten sie von der Reling zwischen die auseinanderstiebenden Spanier. Hasard war die Spitze, links und rechts schräg hinter ihm folgten Blacky und der Stückmeister. In Hasards Kielwasser wütete Smoky.

Diese vier Männer bildeten eine klingenwirbelnde Einheit, die zielbewußt auf den Mann zustieß, der mitten auf dem Deck des Achterkastells herumtanzte, Befehle brüllte und mit einem zierlichen Degen herumfuchtelte.

Er war in Seide gekleidet, hatte einen bombastischen Hut auf der gelockten Perücke, eine Goldkette um den Hals und funkelnde Diamantringe an den Fingern beider Hände.

Links und rechts von Hasards Gruppe sanken Spanier zu Boden. Einige – den Seewolf vor Augen – fanden sogar Zeit, sich zu bekreuzigen, bevor sie das Deck aufsuchten.

Ja, jetzt war er der Seewolf – ein um sich schlagender Teufel mit grellblauen, wilden Augen, einem wilden Lachen, einer wilden, ungestümen Kraft.

Der Don mit dem Degen wurde weiß im Gesicht, als dieser tobende Riese auf ihn zuwirbelte. Er ließ den Degen fallen und reckte die Arme in die Höhe, als wolle er kundtun, daß er wehrlos sei.

Smoky, Blacky und der Stückmeister fegten das Deck des Achterkastells leer, als seien sie Schnitter in einem Kornfeld.

Der Senor Captain jammerte und wurde fast grün im Gesicht, als ihm Hasard die Spitze des Kurzsäbels auf die Gurgel drückte.

„Streich die Flagge, Don Philipp!“ schrie ihn der Seewolf mit rollenden Augen an. „Oder ich piek dich!“

 

Dem Captain schlotterten die Knie. Er verstand zwar kein Englisch, aber er begriff so ungefähr, was dieser barbarische Riese von ihm forderte. Er nickte hastig und haspelte ein Stakkato spanischer Kommandos herunter.

Das wirkte.

Alle Männer an Bord der Galeone standen plötzlich steif wie die Ölgötzen – mit gesenkten Waffen und glotzenden Augen.

Hasard stieß den Captain an und deutete auf das riesige Tuch im Großtopp, das mit den Farben und dem Wappen der spanischen Krone geziert war.

„Weg mit dem Lappen!“ befahl er. Dabei kitzelte er ein bißchen die Kehle des Captains.

Der gurgelte einen Befehl.

Eine Viertelstunde später sank das schwere, doppelt gefütterte seidene Tuch am Mast nach unten. Der Spanier hatte endgültig kapituliert.

Ein Begeisterungsschrei brandete über das Deck der „Marygold“, die längsseits der spanischen Galeone lag und ihre Segel auf gegeit hatte.

Bord an Bord trieben die beiden Schiffe mit dem Wind.

Der Kapitän stieg herüber, breit lächelnd, zwei Pistolen im Gürtel, einen Degen in der Faust. Hinter ihm folgte die Entermannschaft der „Marygold“, ergoß sich über das Deck des Spaniers und entwaffnete die Dons. Sie wurden zum Vorkastell getrieben und eingeschlossen.

Der Kapitän stieg den Niedergang zum Achterkastell hoch, erwies dem spanischen Captain seine Reverenz, indem er chevaleresk mit dem Degen grüßte, und wandte sich an den Seewolf.

„Sie sind doch ein ganz verdammter Teufelsbraten, Killigrew“, sagte er. „Meinen Respekt für den hervorragenden Schuß und Ihr blitzartiges Enterunternehmen.“

„Danke, Sir“, sagte Hasard, „gelernt ist eben gelernt.“

„Bei Sir John, wie?“

„Bei Sir John“, bekräftigte Hasard und zeigte sein Raubtiergebiß.

„Erstaunlich“, murmelte der Kapitän, wandte sich dann an den Stückmeister und sagte: „Meinen Dank auch Ihnen, Burnaby, und Ihnen, Smoky und Blacky.“ Er räusperte sich. „Der Profoß wartet drüben auf euch vier. Ich habe ihm noch eine Flasche von meinem – hm – schottischen Beständen für euch gegeben. Laßt sie euch schmecken!“

„Aye, aye, Sir!“ sagten die vier Männer im Chor.

Eine Flasche vom Schottischen des Kapitäns war soviel wert wie ein Orden. Sie war eine Auszeichnung, zumal der Kapitän ein äußerst sparsamer Mann war und die Flaschen aus Schottland wie seine Augäpfel hütete.

Hasard hatte einen neuen Rekord aufgestellt. Innerhalb seiner kurzen Zeit an Bord der „Marygold“ hatte er bereits zwei „Auszeichnungen“ errungen – was so viel bedeutet, daß der große Francis Drake ihm mehr als nur Wohlwollen entgegenbrachte. Allerdings war das Hasard zu dieser Zeit noch nicht so recht klar. Er kannte eben seinen Kapitän noch nicht.

Die vier Männer verließen das Achterkastell, und der Kapitän wandte sich dem Spanier zu.

Hasard sprang von der Kuhl des Spaniers auf das Mitteldeck der „Marygold“ hinunter. Drakes Schiff nahm sich neben dem Spanier wie ein Windhund neben einem Elefanten aus. Erst jetzt wurde es Hasard so richtig bewußt, was für ein tolldreistes Stück es gewesen war, diesen Brocken anzugreifen.

An der Nagelbank des Großmastes lehnte der Taubstumme, eine Pistole in der Faust. Er blickte Hasard entgegen, und in seinen dunklen Augen glühte ein mörderisches Funkeln. Er sah aus, als wolle er dem Seewolf an die Gurgel springen.

Hasard stutzte und sah ihn scharf an.

„Was ist denn mit dir los?“ fragte er, und im selben Moment fiel ihm ein, daß der Mann weder hören noch sprechen konnte. Keiner wußte, wie er hieß. Er arbeitete bei Patrick Evarts, dem Segelmacher, lebte in seiner eigenen, schweigenden Welt und war – laut Evarts– mehr wert als die ganze verdammte Gilde der Segelmacher in Plymouth, die zwar Segel zuschnitt und nähte, aber sich besser mit der Fabrikation von Bettsäcken beschäftigen solle. Also war er laut Evarts ein guter Mann.

Warum denn diese Augen, in denen soviel Haß funkelte? Der Taubstumme begegnete dem eisblauen Blick des Seewolfes, drehte sich abrupt um und schlenderte auf die Backbordseite der „Marygold“ hinüber. Dort blieb er stehen und starrte über die See – ein einsamer Mann, der von der Welt ausgeschlossen war und vielleicht deswegen Haß empfand.

Hasard wollte ihm nachgehen und auf die Schulter klopfen, aber irgend etwas hielt ihn zurück. Vielleicht war es das drekkige Grinsen Gordon Browns, das ihn ansprang und zum zweiten Male stutzen ließ.

Gordon Brown, schmuddelig, schmierig wie eh und je; hockte auf einer Stufe des Niedergangs, der zum Achterkastell hochführte, und spielte mit einem Stilett. Sein Grinsen zeigte die verwüsteten Zähne und entblößte wieder ein Gesicht, das Hasard zutiefst verabscheute.

„Na, du großer Held?“ sagte Gordon Brown.

„Na, du Wanze?“ sagte der Seewolf angewidert.

„Der Kapitän hält große Stücke auf dich, wie?“

„Mag sein“, erwiderte Hasard. „Was dagegen?“

„Ich mag keine jungen Hüpfer“, sagte Gordon Brown und hob das Stilett.

Nur Zehntelsekunden später flog es über das Schanzkleid und verschwand in der See. Hasard hatte kurz und hart zugetreten.

Gordon Brown starrte auf seine leere Rechte, rieb sein Handgelenk mit der Linken und sah feige und dennoch mörderisch aus. Seine Stummelzähne verschwanden zwischen zusammengepreßten Lippen, als er zu Hasard hochstarrte.

„Du Ratte“, sagte Hasard kalt, „vergiß nicht, daß du noch eine Rechnung zu begleichen hast.“

Edwin Carberry, der Profoß, stampfte wie ein wütender Stier über das Deck und fuhr dazwischen.

„Gordon Brown!“ fauchte er und hielt ihm die geballte Rechte unter die Nase. „Du bist zwar gut, um mit der Neunschwänzigen Dresche zu verteilen, aber wenn du meinst, hier an Bord der „Marygold“ gute Männer anstänkern zu müssen, dann schlag ich dir deine verdammten Stummelzähne in den Hals, und du hast morgen Verdauungsstörungen, ist das klar, wie, was?“

„Scheiße“, sagte Gordon Brown.

Und darauf zeigte der narbige Carberry, warum er zum Profoß auf der „Marygold“ aufgestiegen war. Seine Rechte krachte unter das Kinn Gordon Browns, lüftete den sitzenden Mann an und beförderte ihn im Überschlag rückwärts einen Yard höher auf das Deck des Achterkastells. Es war ein furchtbarer Hieb. Gordon Brown landete mit ausgespreizten Armen und Beinen wie eine plattgeschlagene Scholle auf dem Achterdeck. Dort blieb er still liegen.

„Ha“ sagte Carberry zufrieden und rieb sich über die Handknöchel seiner Rechten, „das tut gut.“

Über die Flasche mit dem Schottischen, die er vorsichtigerweise am Schanzkleid abgestellt hatte, war Burnaby bereits hergefallen. Und dann Smoky. Und Blacky hatte hinter dem breiten Kreuz von Carberry begeistert dessen Boxhieb – natürlich in die Luft – mitgeschlagen und sich um seine eigene Achse gedreht, weil seine Faust keinen Widerstand fand.

So stand er keuchend, mit abgeschwungener Faust, vor Hasard und sagte: „Ist das schön!“

„Was ist schön?“ fragte Hasard.

„Alles“, sagte Blacky, „diese ganze Scheißseefahrt, die Dons, der alte Drake – und daß jemand Zunder kriegt, der nach Verwesung stinkt.“

Nach Verwesung stank Gordon Brown zweifelsohne.

Und dann soffen sie den Schottischen aus. Nicht nur Hasard und Burnaby, Blacky und Smoky. Carberry und die Männer der „Marygold“ tranken mit, weil vier von ihnen den „Don“ im Handstreich gekapert hatten.

Dieser Don barg in seinen Frachträumen Truhen mit indianischem Schmuck, dessen Silber- und Goldwert das Schätzvermögen der Drake-Männer glatt überforderte. Der größte Teil davon würde in den Schatzkammern der königlichen „Lissy“ – Elisabeth I. von England – verschwinden. Den anderen Teil erhielten die Eigner der „Marygold“ und jenes Konsortium hoher Herren, deren vornehmste Aufgabe es war, als sogenannte „Privateers“ – private Unternehmer – jene kühnen Kaperzüge zu finanzieren und für Schiffe, Mannschaften, Ausrüstung und Bewaffnung zu sorgen. Das geschah natürlich mit geheimer Billigung Ihrer Majestät, der Königin, die indessen offiziell die Klagen des spanischen Botschafters über das räuberische Unwesen auf See jedesmal dahin abtat, daß die Schuldigen ganz bestimmt keine ihrer Untertanen seien—allenfalls Englisch sprechende Schotten, aber man werde die Verbrecher, wenn man ihrer habhaft werde, ganz bestimmt einer rechtmäßigen Bestrafung zuführen. Ausreden hatte die kluge „Lissy“ immer bei der Hand.