Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Zwei

Und dann fing das mit dem Rauchen an. Und das mit Eulalia.

Ich fing es an.

– Und du, Alba?, fragt sie.

– Ich?

Eulalia nickt. Und während ihr der Rauch langsam und blau aus dem Mund sprudelt, schneidet sie eine Grimasse, als wäre ich es, die gerade raucht und ihr den Qualm ins Gesicht bläst, und sie müsste gleich kotzen deswegen. Sie schiebt ihr Kinn nach vorne, wie sie das immer tut, wenn sie etwas von dir will. Ich starre auf den Glimmstengel zwischen meinen Fingern, die vor Kälte zittern, schaue am Filter auf das Braun der Verästelungen, die sich durch das Dunkelrot von Eulalias Lippenstift ziehen, folge dem dünnen Faden, der sich über unseren Köpfen in bläulichen Schwaden verliert, und spüre, wie sich die Härchen auf den Armen im Pulli verkrallen und die Haut sich aufstellt um sie.

– Na, was ist?

Ich weiß nicht. Ich schaue Hugo an, aber der ist mir irgendwie auch keine Hilfe.

– Nimm ruhig n Zug von meiner, das ekelt mich nicht. Oder willst du dir eine eigene anzünden?

Ich zögere. Ich schüttle den Kopf. Ich starre noch immer auf dieses dunkelrote Ende der Zigarette.

– Also?

Ich fühle einen Blick auf meinen Schultern. Es ist Hugo. Ein Windstoß lässt mich zittern vor Kälte.

Hugo schüttelt den Kopf. Das will heißen: Nein.

Und dann denke ich an Viktor, an die Schule und an Marcel, ich denke an die Chemieprüfung und den Abend ohne Softeis, und weil ich mir endlich einen Neuanfang wünsche, jetzt in diesem Moment, führe ich den Filter an meine Lippen und ziehe.

Natürlich war ich nicht mutterseelenallein, als ich im Krankenhaus lag.

Habe ich das gesagt?

Ja, das habe ich.

Gut. Meinetwegen.

Aber was ich meinte damit, ist, was jeder damit meint, wenn er sagt, er sei mutterseelenallein: Er fühlt sich mutterseelenallein. Und das ist es doch, was zählt in dem Moment.

Jedenfalls, da waren noch andere. Zum Beispiel die schlechte Schwester, die mir jeden Morgen einen anderen Finger zerstochen hat, um dann das Zeug, das sie rausgezogen hat an der Hand, doppelt und dreifach wieder hineinzuspritzen in den Oberschenkel. Natürlich nicht dasselbe. Aber so in etwa. Bisschen Blut gegen einen Haufen Verdünner. So.

Da war außerdem die gute Schwester, Hilde, die auch mal ein Auge zudrückte, wenn man keine Lust hatte auf den Krankenhausfraß und die Hauptmahlzeit durch drei Becher Softeis ersetzte. Da war der gute Assistenzarzt, der immer nach künstlicher Minze roch und mit dem ich gerne gevögelt hätte, und da war Eulalia.

Eulalia, das ist die andere Patientin im Krankenhaus, die gerne mit dem Assistenzarzt vögeln würde. Aber ihre Arme – sie waren gebrochen. Beim Skifahren. An einem Ort, wo sie die Cafés noch Tea Room nennen. Rutscht mit den Skischuhen aus und stürzt die Treppe hinunter, bleibt unten vor dem Herrenklo liegen. Als sie wieder zu sich kommt, haben es sich ihre Unterarme auf der Treppe bequem gemacht. Schmiegen sich an die unterste Stufe wie ein Winkeleisen und stellen sich schlafend. Sie schaut hin, schaut weg und dann wieder hin: Und schon knallt ihr Kopf zum zweiten Mal auf die braunen Fliesen. Woher ich das weiß? In Tea Rooms sind die Fliesen immer braun.

Noch dazu holt sie sich eine Gehirnerschütterung. Als ihr Kopf zum zweiten Mal auf die Fliesen prallt oder auf der Treppe schon, das weiß ich nicht und Eulalia schon gar nicht. Eulalia, muss man wissen, hatte keinen Helm auf. Aber das ist die Zeit, als nur die allergrößten Idioten einen Helm tragen beim Skifahren. Also, sagen wir, fünf auf tausend. Und auf dem Weg zum Klo – dazu gibt es wahrscheinlich sowieso keine Zahlen.

Der Rest ist das, was immer geschieht, wenn man in solchen Gegenden ist und ein Krankenhaus braucht: Man findet keins. Also lässt man sich an einem Ort behandeln, von dem jeder sagen würde, wenn er zu Hause mit einer Tasse Früchtetee am Tisch sitzt und sich nebenbei die Nägel lackiert: Nie im Leben. Denn: Während die Schamanen des Provinzlazaretts irgendwas an deinen Armen herumkleistern, hörst du, wie im Nebenzimmer die Kuh muht und mit den Hufen ausschlägt, weil sie gerade dabei sind, ihr die Hörner auszubrennen.

Und wenn alles vorbei ist, kommst du nach Hause und willst dir eigentlich bloß den Gips wechseln lassen nach ein paar Tagen, aber die Ärzte im Krankenhaus schlagen nur die Hände über dem Kopf zusammen, als sie die Buckelpiste unter deiner Haut sehen, und trommeln gleich die ganze Chirurgie zusammen. Und dann fängt alles wieder von vorn an, nur schlimmer. Mit Schrauben diesmal und diesen langen Narben mit den seitlichen Stichen, dass es aussieht, als hätte sich ein Langläufer einmal quer über deinen Unterarm gestoßen. Und du schwörst dir, dir die Knochen beim nächsten Mal zu Hause zu brechen, oder am besten direkt vor der Notaufnahme.

So war das bei Eulalia. Ja.

Wenn du einen Film schaust, von dem du vergessen hast, dass du ihn schon einmal gesehen hast, und dann irgendwie voraussiehst, was jeden Moment geschehen wird: diese Vorahnung, so war das mit Eulalia. Ich komme aus dem Aufzug, mache mich klein vor dem Empfang, um dem bohrenden Blick der Schwester auszuweichen, und noch bevor ich Hugo bei der Yuccapalme um die Ecke schiebe, weiß ich: Wenn du jetzt in die linke Ecke schaust, dann sitzt da Eulalia.

Natürlich wusste ich nicht, dass es Eulalia sein würde. Oder, dass da jemand sitzen würde, der Eulalia heißt. Aber ich wusste, dass es jemand wäre, den ich kennen würde.

Nicht gut, aber Parallelklasse. Immerhin.

Turnunterricht.

– Der fällt erst mal flach für uns, was?, sagt sie und hebt den Daumen. Weil sie das tatsächlich gut findet oder weil es die einzige Bewegungsmöglichkeit ist, die der Unfall ihren Armen gelassen hat.

Ich nicke. Ich sage nichts. Ich überlege. Dann sage ich doch etwas:

– Ja, sage ich.

Und dann will ich noch etwas sagen, aber da ist ihr Blick, der sich in Hugo verbeißt und nicht mehr ablassen will von ihm. Der Länge nach mustert sie ihn, von unten nach oben und wieder zurück.

Und gleich noch einmal.

Es ist nicht zum Aushalten.

Irgendwann gleitet er trotzdem ab, ihr Blick, aber nur, um dann umso länger auf mir zu verharren. Auf mir, meinem Handgelenk und dem Verband, auf der Schiene und der künstlichen Sehne, an der er so fest zerrt, dass sich mein Daumen krümmt davon.

– Kompliziert, hm?

Blut steigt mir in die Wangen und unter den Scheitel. Ich zwinge meinen Blick auf den Boden, aber bald ertappe ich ihn, wie er hinübergleitet zum Zeitungsständer, zur Essensausgabe, zum Empfang. Dann geht er durchs Fenster hinaus in den Schnee, huscht über Wege, Büsche und Bäume, aber er findet keinen Halt: Das Weiß hat den Dingen die Umrisse genommen und das Glas die Geräusche.

Ich zögere. Wieder will ich etwas sagen. Ich tue es nicht.

Dann sehe ich Eulalia an. Unsere Blicke treffen sich. Ich schaue an ihr herunter, und sie tut es. Beide starren wir auf ihre Arme, die so zufällig vor ihr auf dem Tisch drapiert sind, als hätten sie überhaupt nichts zu tun mit dem Körper, vor dem sie liegen.

Sie räuspert sich.

– Meiner auch, sagt sie. – Splitterbruch. Auf beiden Seiten. Stell dir vor.

Wenn man sich Freunde machen will, habe ich in einer der Frauenzeitschriften gelesen, die hier an jeder Ecke herumliegen, soll man die Leute ausquetschen wie eine Zitrone und man soll sie nicht ausquetschen wie eine Zitrone. Wenn es ums Geld geht, ist Zurückhaltung angesagt, hieß es da, aber nach ihrer Geschichte könne man die Leute gar nicht oft genug fragen.

Zwar weiß ich nicht, ob ich auf eine neue Freundschaft aus bin in diesem Moment, dafür ist mir umso klarer, dass ich nicht die geringste Lust verspüre, Eulalia von meinem Unfall zu erzählen. Und um das zu verhindern, eignen sich die Ratschläge aus diesen Zeitschriften mindestens genauso gut. Also setze ich für eine Weile die nachdenklichste Miene auf, die sich nur finden lässt in meinem Repertoire, und sage: – Aha, und: – Splitterbruch, und: – Uff. Und dann frage ich sie, wie das passiert sei und wo und wann genau und wer denn dabei gewesen sei und was man halt so fragt, wenn man nicht will, dass der andere wieder herausfindet aus seinem Erzählen. Und als mir langsam die Fragewörter ausgehen, schwenke ich über auf andere Themen, ich frage sie nach Klassenkameradinnen, Lehrern und Wahlfächern, Geschwistern, Haustieren und der Anzahl der Großeltern, die noch leben, aber irgendwann senkt sich wieder ein Schweigen zwischen uns.

Aber wenn ich nicht in die Cafeteria gekommen bin, um mich über meinen Unfall ausfragen zu lassen, dann schon gar nicht, um eine ganze Weile vor mich hinzuschweigen und den anderen beim Essen zuzuschauen: Wenn ich etwas am Zoo verabscheue, dann ist es genau das. Einen Tag nichts Rechtes zwischen die Zähne zu kriegen und hinter Gittern stehend irgendwelchen Tieren mit viel zu gescheckten Fellen dabei zuzusehen, wie sie sich jede Menge köstlicher Huftsteaks und Lachs und Thunfisch in den Rachen stopfen, wofür du auch noch bezahlt hast mit deinem Eintrittsgeld.

– Warum isst du nichts?, frage ich.

– Essen ist mir nicht so wichtig.

Unweigerlich schiebe ich meinen Kopf nach vorn, biege die Rechte zur Muschel und halte sie mir ans Ohr, wie Jack es tut, wenn er dir nicht direkt ins Gesicht sagen will, dass du lauter Schmu erzählst und deswegen so tut, als hätte er sich verhört. Andere Leute würden einfach fragen: Wie bitte? Aber deshalb sind die anderen Leute eben nicht Jack, sondern die anderen Leute, und deswegen mag ich ihn so gerne und die anderen Leute eben nicht.

Aber noch bevor ich etwas hinzusetzen kann, gibt Eulalia mit einem mehr als deutlichen Kopfnicken zu verstehen: Du hast schon richtig gehört.

 

Ich bin entsetzt. Geradeso gut hätte sie mir erzählen können, dass ihr das Atmen nicht so wichtig sei.

Ich meine, das Essen. Ich würde sagen, es ist für mich das, was man Lieblingsbeschäftigung nennt. Aber ernster. Ich verstehe die Leute nicht, die die Intelligenz der Mäuse in Frage stellen oder der Ratten, die wegen eines Stückchens Speck in die Falle gehen. Oder vielmehr: Die Leute verstehen die Mäuse nicht. Es geht hier nicht um Intelligenz. Es geht darum, dass es Dinge gibt, die man fürs Leben gern tut. Und wenn’s der Speck ist oder der Käse, der dich voll und ganz ausfüllt von innen, dann spielt es überhaupt keine Rolle, wenn du im Gegenzug etwas früher aus dem Programm genommen wirst.

Ich denke, diese Vorliebe fürs Essen liegt in der Familie. Meine Mutter, muss man wissen, ist ein Kriegskind, und ich, ich bin so was wie eine Kriegsenkelin. Im Krieg, oder in diesem sonderbaren Zustand von Frieden inmitten eines zerbombten Europas, den hier alle Krieg nennen, gab es nichts zu essen. Wenn trotzdem einmal eine Kuh geschlachtet wurde, weil sie sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte, musste alles aufgegessen werden, auch wenn es so viel auf einmal war, dass bald keiner mehr konnte.

Fett und Öl und Zucker. Sie sind in meinen Lieblingsspeisen zuhauf enthalten. Und deswegen komme ich so gerne in die Cafeteria. Wenn die in der Krankenhausküche immer nur diese geschmacklose Rohkost zubereiten, dann ist es in der Cafeteria das genaue Gegenteil. Warum das so ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Manche Leute hier glauben zu wissen, es sei einfach billiger, weil man schlechtere Zutaten verwenden könne, deren mieser Geschmack unter einer knusprigen Haube aus Frittenfett versteckt werde. Ich bin der Ansicht, dass da ein ausgeklügeltes Geschäftsmodell dahintersteckt. Dass die Patienten hier auf etwas anderes Lust haben als auf gedämpften Kohlrabi, ist schließlich ein offenes Geheimnis.

Das Seltsame an der ganzen Sache mit dem Fett und dem Öl und dem Zucker ist nur: Wie viel ich auch esse, ich werde nicht dick davon. Auch das ist ererbt, wenn man meiner Großmutter glauben darf. – Und leider ist es das Einzige, sagte meine Mutter, als die Bestatter den Sarg in den Leichenwagen schoben, und wischte sich eine Träne aus dem Auge.

Aber vielleicht gibt es ja andere Dinge, die Eulalia mag, und alles ist halb so schlimm. Und deswegen stelle ich ihr eine zweite Frage, die, wie ich meine, ein ziemlich faires Angebot ist, mit einer einigermaßen befriedigenden Antwort den Schlamassel wiedergutzumachen, den sie gerade angerichtet hat.

– Und Kaffee?, frage ich.

– Auch nicht.

Eulalia. Eine Freundin wie sie habe ich noch nie gehabt zuvor. Eulalia traf im Krankenhaus mit einem blutroten Mund und vier Taschen ein, wovon eine allein für diese halbdurchsichtigen Seidenfantasien vorgesehen ist, die sie zum Schlafen anzieht. Ihre braunen Haare trägt sie schwarz und meistens hochgesteckt, die braunen Augen sind immer geschminkt und die Wangen sind es. Weiß man dazu, dass sie nicht will, dass man ihr für ein neues Gericht den Teller wechselt, wird einem auch klar, woher sie kommt, die Eulalia. Eitelkeit und Bescheidenheit: Das sind die Eigenschaften, die nur deshalb zusammenpassen, weil sie aus einer dieser Villen am Schlossberg stammt und die Bescheidenheit eigentlich falsch ist. Trotzdem, ich mag Eulalia. Sie weiß, was sie tut, und sie ist nie um einen Spruch verlegen oder zwei. Sie macht, würde ich sagen, dass ich mich schlagfertiger fühle und weniger einsam.

Anfangs habe ich geglaubt, Eulalia esse nicht viel, weil sie abnehmen will. Viele Mädchen in meinem Alter wollen abnehmen, die wesentlich schlanker sind als sie. Aber Eulalia will das nicht, im Gegenteil. Sie gehört zu der Sorte Frau, die schon früh erkannt hat, dass es viel zu viele Typen da draußen gibt, die auf so was stehen, als dass sie sich schämen müsste dafür. Und die zudem weiß, wie sie es anstellen muss, dass auch die Typen darauf stehen, die es eigentlich gar nicht tun.

Ich glaube, dass das eines meiner Probleme war.

– Magst du was haben?

Ich weiß nicht, warum ich das vorschlage. Vielleicht weil ich das Gefühl habe, dass ich, wenn ich den ersten Ratschlag aus der Zeitschrift ernst nehme, auch den zweiten beherzigen muss. Ich bin ja schließlich keine dieser Katholinnen, die zwar nicht verhüten wollen, aber dann doch wieder zweimal im Jahr in irgendeinen düsteren Hinterhof rennen müssen, und das noch vor der Ehe.

Vielleicht habe ich aber auch einfach nur Hunger und will mir endlich was holen.

– Ich weiß nicht so recht.

– Ich geb’ dir was aus.

– Na wenn du meinst …

– Klar doch. Was willst du?

– Hm, was gibt’s denn so?

Und schon wendet sich das Blatt. Ich weiß nicht. Eulalias Ratlosigkeit. Das löst etwas aus bei mir. Eben noch: Mein … Unfall. Und plötzlich fühle ich mich unanfechtbar wie der Kronprinz. Es ist ein wenig wie am Morgen in der Schule: Ich ertrage ihn einfach nicht. Aber wenn ich jemand anderes sehe, wie er leidet und schlecht gelaunt ist und auf seine Tasse Kaffee herabschweigt, hast du keinen Menschen gesehen, der aufgestellter ist als ich.

– Alles.

Meine Rechte deutet auf die Kaffeemaschine, die Essensausgabe und die Plexiglasscheiben mit dem Gebäck dahinter.

Eulalia schaut mich an. Ihr Blick senkt sich und bleibt auf ihren Armen haften. Sie zögert. Ich sage:

– Ich meine, ich kann dir was mitbringen. Du bleibst hier sitzen, ich hol uns was. Ja, so.

Ich ertappe mich dabei, wie ich mein bestes Lächeln aufsetze und beständig nicke, so wie man es tut, wenn man mit seiner Oma spricht, die nicht mehr alle Tassen oder einfach alt oder so. Aber bei Eulalia, ich meine, es sind ja nur ihre Arme.

– Meinetwegen.

Dieses Krankenhaus ist voller Irrer. Und das Schlimme daran ist: Damit meine ich nicht die Patienten. Wenn du Fotos von der Klapse machst und die Negative, die sie nach dem Entwickeln mitliefern, gegen die Sonne hältst: So muss man sich das hier vorstellen. Wie eine Klapse, einfach hässlicher.

– Wir hätten gerne einen Tee, einen Kaffee und zwei Croissants, sage ich an der Theke, aber der komische Kauz dahinter denkt gar nicht dran, das Zeug einfach rauszurücken. Stattdessen spreizt er Daumen und Zeigefinger und fährt sich damit gleichmäßig übers Kinn, als wüsste er weder ein noch aus. Natürlich tut das kein Mensch, das tun nur die Figuren im Trickfilm. Allenfalls. Und jetzt weißt du auch schon, was das für ein Typ ist, der hinter der Theke.

– Wir, ja, sagt er und kratzt sich am brotblonden Kopf, um sich von einem Jucken zu erleichtern, das er sich gerade ausgedacht hat.

Ich nicke.

– Ja, wir.

Aber der Typ tut so, als würde er an mir vorbeischauen, links und rechts, hebt dann die Arme und winkelt dabei die Hände ab. Nach ein paar Sekunden, als sein Blick auf Hugo fällt, klatscht die Hand gegen seine Stirn. Er zeigt abwechselnd auf mich und auf die Kochsalzlösung.

– Du – er; er – du, erklärt er und setzt so eine saudumme Heurekavisage auf. Und als wäre das noch nicht genug, tippt sein Zeigefinger einmal gegen die Stirn und zeigt dann senkrecht zur Decke.

Ich halte den Blick auf ihn gerichtet. So einen muss man im Auge behalten. Immer.

– Verstehe, ja, sagt er.

– Was gibt’s denn da zu verstehen?

Der Kerl weicht einem unsichtbaren Degen aus, aber es hilft alles nichts: Er hält sich die rechte Seite wie getroffen und kreischt.

– Touché!

– Touché du kannst mich mal! Kriegen wir jetzt unsere Getränke und die Croissants?

Der Typ lacht und reißt dabei den Mund so weit auf, dass für einen Augenblick das Dunkel in seinem Rachen rot wird und fleischig.

– Hältst dich fürn Sonnkönig, ja.

– Steck dir deinen Sonnenkönig sonst wohin! Dieser Aasgeier mit seiner abgeschmackten Perücke geht mir am Arsch vorbei.

– Was gehtn dir nicht am Allrwertestn vorbei, ja. Meine Nummr zum Beispiel, ja.

– Und dann hebt dein Mütterchen ab, und ich muss dir was ausrichten lassen?

– Probiern geht über Studiern, ja.

Der Typ zwinkert mir zu und fingert in seiner Hosentasche nach einem Kugelschreiber.

– Das hätte gerade noch gefehlt. Lass den Stift da, wo er steckt: in deinem Arsch.

Er grinst und zeigt auf seinen Arm. Das will heißen: Ein As im Ärmel hab ich noch. Er deutet auf meine Schiene und krümmt sich schon vor Lachen, bevor er den Satz überhaupt losgeworden ist:

– Bist heut mitm linkn Arm aufgstandn, ja.

Ich schaue Hugo an, er schaut mich an. Wir fragen uns: Echt jetzt? Aber der Lackaffe will sich gar nicht mehr erholen.

– Meinst du das eigentlich ernst, wenn du so saudumm vor dich hin schwadronierst, oder ist das irgendso ’ne Art Zirkusnummer, in der du dich selbst durch den Kakao ziehst?

– Das is hier nich die Frage, ja.

Er zwinkert. Natürlich. Und schnalzt mit der Zunge.

– Wenn du jetzt drauf wartest, dass ich dich nach der Frage hinter der Frage frage, dann hast du dich aber geschnitten.

Der Kerl zuckt mit den Schultern. Aber er lächelt. Das ist einfach nicht aus seinem Gesicht zu kriegen, dieses Lächeln. Wie im Sommer die Fruchtfliegen in der Küche. Ekelhaft.

– Die Frage is, ja, beantwortet er sie also selbst, während sich um sein Auge die ganze Visage zusammenzieht, – ob’s mir gelingt, dich zum Lachn zu bringn, ja.

Ich lache laut auf.

– Siehst du, ja, verkündet er stolz.

– Also das ist so, meldet sich jetzt die Kassiererin zu Wort, die gerade noch eifrig damit beschäftigt war, gar nichts zu tun, aber sich plötzlich für das Hin und Her zu interessieren beginnt: – Er meint es nie ernst. Und dann, etwas nachdenklicher: – In Wirklichkeit meint er’s manchmal ernst und manchmal wieder nicht.

– Wirklichkeit, ja. Was willstn du schon von der Wirklichkeit wissn, ja, sagt jetzt der Kerl hinter der Theke. – Was für dich wirklich is, ja, muss es noch lang nich für mich sein, ja, flüstert er geheimnisvoll und macht ein Gesicht, das er für das irgendeines Philosophen hält, was aber nur wieder zeigt, wie blöd er eigentlich ist.

So geht das zu und her hier. Jeden Tag. Sag ich doch: ein Irrenhaus.

– Ist der vielleicht heiß, sagt Eulalia, als ich ihr die Tasse von den Lippen nehme. Sie rollt mit den Augen.

Ich runzle die Stirn.

– Hätte ich den Tee kalt bestellen sollen?

Ich nehme einen Schluck aus ihrer Tasse. So heiß ist der nicht.

– Ich meine den Typen, mit dem du so lange geschäkert hast.

Zwei Augenblicke lang verstehe ich nichts. Ich überlege. Ich schaue zur Theke. Dann trifft es mich wie ein Leichenwagen in der eigenen Hauseinfahrt.

Ich spucke den Tee über den Tisch.

– Du meinst doch nicht den widerlichen Typen dahinten?

Eulalia nickt.

– Ganz schön süß, nicht?

Im Ernst? Gut, das mit den Patienten nehm ich zurück. Dieses Krankenhaus ist voller Irrer. Punkt.

Süß? Du meinst süß wie … attraktiv?

Eulalia nickt und lächelt.

Süß also. Sie findet ihn süß.

Gut, so erstaunlich war es dann auch wieder nicht. Eulalia, muss man wissen, fand jeden Typen süß. Und das war das viel größere Problem.

– Ich will mir eine rauchen.

Eulalia schaut mich mit großen Augen an, und ich, ich schaue einfach nur zurück.

– Du weißt schon: quarzen. Einen Lungentorpedo, einen Sargnagel, ein Erfrischungsstäbchen.

Ich zögere. Ich nicke. Ich sage nichts.

– Eine Nikotinspargel, eine Tabakwurst, ein Lungenbrötchen.

Ja, schon verstanden. Bin ja nicht schwer von Begriff. Doch ich sage: nichts.

– Ja, was ist denn jetzt? Kommst du mit?

Ich senke den Blick, betrachte lange und aufmerksam die leere Tasse, die zwischen ihren Armen steht. Dunkelrote Halbmonde hängen vom Rand, einer neben dem anderen. Ich denke an einen hochgezogenen Samtvorhang, ich denke an Kronleuchter unter einer türkenhonigfarbenen Stuckdecke, an gedimmte Leuchtäpfel über den Emporen und an ferrarirote Plüschsessel zum Einklappen. Und jetzt frage ich mich, wie Eulalia sich eigentlich geschminkt hat mit diesen Armen und wozu.

– Ich weiß nicht.

– Komm schon.

Ich blicke durch die Fenster auf den Parkplatz. Es hat wieder angefangen zu schneien. Nass fallen die Flocken herab und in dünnen Strichen und schräg.

 

Ich versuche, mit den Zähnen zu klappern, verschränke, so gut es eben geht, die Arme und deute ein Reiben an an meiner Schulter.

– Sei kein Feigling!

Ich seufze. Kann sie denn nicht alleine gehen? Ich schaue Eulalia ins Gesicht, dann schaue ich auf ihre Arme. Nein, kann sie nicht.

– Und du, Alba?, fragt sie und nimmt einen Zug. Zwischen meinen Fingern glimmt hell die Zigarette und dann wieder dunkel.

– Ich?

– Ja. Wen findest du denn süß?

Ich nehme ihr die Zigarette aus dem Mund und ziehe langsam daran. Und weil Eulalia danach immer noch auf eine Antwort wartet, nehme ich einfach noch einen Zug und hoffe darauf, dass diese saublöde Frage vergessen geht währenddessen, und diese Hoffnung, die erfüllt sich auch fast, weil ich nämlich einen Hustenanfall kriege, und zwar nicht absichtlich, wie man jetzt meinen könnte, sondern weil ich meine Gedanken zu sehr auf diese Hoffnung richte und zu wenig auf das Rauchen.

Aber Eulalia interessiert das überhaupt gar nicht mit meinem Husten.

– Den Müller vielleicht?

– Den Fußballer?

Eulalia schüttelt heftig den Kopf.

– Was denn bitte für ein Fußballer? Ach so! Nein! Den Müller aus der 3c mein ich doch.

– Welcher denn?

– Was welcher? Sag mal …

– Es gibt zwei Müller in der 3c.

– Na der blonde.

– Hättest du aber auch gleich sagen können!

– Hab ich doch.

Ich schaue zu Hugo. Der wackelt mit dem Kopf: Hat sie nicht.

Eulalia schiebt wieder das Kinn nach vorn.

– Also?

Gerade hebe ich zur Antwort an, als plötzlich eine Hand zwischen uns auftaucht und hin- und herzeigt zwischen Eulalias Armen und meiner Schiene.

– Untr Amputiertn ist der Einarmige Athlet, ja, höre ich es grölen in meinem Rücken.

Gar nicht nötig, sich umzudrehen, um zu wissen, dass das der Volltrottel aus der Cafeteria ist.

– Wer hat dich denn herbestellt?

– Ist ein freies Land, ja. Und wir sind freie Menschn, ja, verkündet er und setzt so eine staatsmännische Miene auf wie der Bronze-Escher, der in Zürich so gebieterisch auf die Bahnhofstraße glotzt, dass er nicht einmal merkt, dass ihm andauernd die Tauben in den Bart scheißen und ins Gesicht.

– Frei am Arsch!, sage ich, während Eulalia mich ansieht mit so einem Blick, der in etwa heißt: Halt die Klappe. Aber ich, ich denke gar nicht dran. Ich puste den Rauch so heftig in die Luft, dass er sich in Wirbeln überschlägt über unseren Köpfen.

Der Typ zuckt mit den Schultern und schlurft zum Aschenbecher. Er quetscht die Kippe aus, kramt eine Weile in der Tasche, fischt umständlich nach der Zigarettenschachtel, klappt den Deckel weg, steckt sich eine neue Kippe in den Mund.

– Hat jemand Feuer, ja.

Eulalia nickt eifrig.

– Wie hast du denn die von eben angezündet?, frage ich.

– Geheimnis, ja.

Er zwinkert mir zu. Schon wieder. Wenn ich es nicht besser wüsste, ich würde sagen: Der Kerl hat ein ernsthaftes Problem mit seinem Augenlid. Aber das stimmt nicht. Es liegt ein paar Zentimeter weiter hinten bei ihm, sein Problem.

– Find’s doch raus, ja.

Schon wieder so ein dämliches Zwinkern.

– Hättest dir die Zigarette halt an deiner alten anstecken sollen.

Eulalia rammt mir ihren linken Gips in die Rippen. Wie so ein Kaltwachsstreifen klebt ihr Blick auf meiner Wange, das spüre ich ganz genau, aber ich schaue nicht hin. Wenn man hinschaut, tut’s nämlich nur noch mehr weh.

– Na gut.

Ich halte ihm das Feuerzeug hin. Der Clown höhlt seine Hände zum Windlicht, steckt seine Zigarette hinein und zieht.

– Danke, ja, sagt er und schiebt den Rauch ganz langsam aus dem Mund.

Ich sage nichts.

– Gerold, ja, sagt er dann und zeigt auf sich.

– Eulalia, sagt eine Stimme neben mir.

Und ich, ich halte schön die Klappe.

Aber der Typ zeigt auf mich mit seinem Griffel und fragt oder sagt oder was er auch immer tut mit seinen Sätzen, die keine Höhen haben und keine Tiefen:

– Und du, ja.

Ich zögere. Ich denke an meinen Namen und an den meiner Schwester, aber dann fällt mir ein: Nein, der ist viel zu ähnlich. Und dann denke ich an eine Geschichte, die wir vor kurzem gelesen haben im Englischunterricht, und die eigentlich gar keine ist, sondern wahr, und das weiß ich deshalb so genau, weil sie wie meine Geschichte ist, und die ist das ja auch, wahr. Wirklich, wenn ich mich daran erinnere, fühlt es sich an, als würde ich mich die ganze Zeit im Spiegel betrachten, dieses wenn du hineinschaust und merkst: Die auf der anderen Seite, das bin ja ich, einfach spiegelverkehrt.

Natürlich denkt das keiner, wenn er nach seinem Namen gefragt wird, und ich tue es ebenso wenig da vor dem Krankenhaus. Ich suche einfach nur nach einem anderen Namen, und dabei kommt mir diese Geschichte in den Sinn, und deshalb sage ich dann:

– Sylvia.

Natürlich klebt da sofort wieder Eulalias Blick auf meiner Wange, aber ich lasse mir nichts anmerken, und das geht deshalb so gut, weil der Typ jetzt eine ganze Menge Fragen stellt, die er zwar von mir beantwortet haben will, die ich aber allesamt und eifrig Eulalia überlasse mit meinem Schweigen. Als er endlich geht, allerdings nicht, ohne mir einen Zettel mit seiner Nummer zuzustecken, da findet Eulalia, ich hätte mich nicht gut geschlagen.

– Sag mal, bist du bescheuert?, fragt sie.

– Warum?

– Schnapp ihn dir, sonst …

– Sonst was?

– Sonst tu ich es.

Das, denke ich, wäre gut so. Ich will Jack. Und ich will, dass sie ihn nicht will.

Und dann lasse ich den Zettel mit Gerolds Nummer auf den Boden fallen.

– Heb das wieder auf!, zischt Eulalia.

Ich zögere einen Moment. Aber dann greife ich nach dem Zettel und stecke ihn in meine Tasche.