Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat

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Sie blickt zu Jack auf:

– Ist wirklich keine Zeit mehr?

Jack schüttelt heftig den Kopf: nichts zu machen.

– Schade. Aber übermorgen. Magst du dann zu uns zum Essen kommen?

Und, indem sie Jacks Vater heranwinkt:

– Alba wird uns übermorgen besuchen.

Der weiß gerade nicht so recht, wohin mit dem Gesagten. Er stottert vor sich hin. Er will etwas sagen. Es gelingt ihm nicht.

Elisabeth fasst sich an die Stirn.

– Übermorgen? Habe ich übermorgen gesagt? Übermorgen haben wir noch zu tun.

Ich spüre wieder ihre Hand auf meiner.

– Tut mir leid. Aber Montag, Montag geht doch, nicht wahr, Walter?

Jacks Vater nickt, überlegt sich, noch etwas hinzuzusetzen und – entschließt sich dagegen.

– Ja, komm zum Essen am Montag, ruft sie dann aus, und bevor ich etwas hinzufügen kann: – Großartig! René wird dich abholen.

Ich wechsle einen Blick mit Jack, der nickt: Ja, das wird er.

Ich bin – ich weiß gerade nicht so recht, was ich sagen soll. Jedenfalls: so viel Freundlichkeit auf einmal. Ich meine, Schwiegermütter. Man hört immer nur Schlechtes über sie. Aber Jacks Mutter, ich mag sie sehr. Vom ersten Moment an ist sie da, obwohl ihre Tochter seit gerade eben – weg ist. Sie muss voll von Traurigkeit sein, denke ich mir, bis obenhin. Aber sie: Wenn du da bist, dann versucht sie, es dir angenehm zu machen, das Dasein meine ich. Andauernd sagt sie Dinge wie fabulös, fantastisch, genial und bombastisch, auch wenn sie sich nicht danach fühlt vielleicht, und überall hängt sie diese Ausrufezeichen an, einfach um dir zu sagen: Du bist hier willkommen.

Vier

Also gut. Vorher gab es diesen Versuch. Aber wie fing das an? Mit meiner Mutter, als die meine Polenta wegfrisst. Fast alle meine Geschichten fangen mit meiner Mutter an oder mit Polenta, aber damals kam alles zusammen.

Meine Mutter hatte das, was man Leben nennt. Sie hatte ein Reihenhaus im Grünen, sie hatte mich, sie hatte einen Papagei. Und endlich wieder einen Freund, nachdem sie sich noch vor meiner Geburt von Uli getrennt hatte. Uli war ihr Typ, aber bei meiner Geburt war er es nicht mehr. Als ich Uli irgendwann kennenlernte, war er einfach nur mein Vater.

Und dann kommt also dieser Tag mit der Polenta. Nur eben ohne sie.

Der Freund meiner Mutter – man mag ihn sofort. Klar, dass er Klärchen sagt und Moinsen und Alles Roger in Kambodscha und Bis Baldrian, damit ist der Bogen überspannt. Aber Viktor ist eben auch einer, der die Gurke als Gärtnerwurst bezeichnet, statt Gemüse widerwillig Gestrüpp isst und im Biergarten einen Hopfentee, eine Vollkornschorle oder eine Maurerbrause bestellt. Kurzum, Viktor ist einer, der nicht anders kann, als den Wörtern andauernd ihre Namen streitig zu machen und ihre Bedeutungen. Ich habe mir einiges abgeschaut von ihm, und in der Schule, muss ich sagen, kamen die Sprüche gut an. Und einmal war sogar Jack beeindruckt davon. Aber das mit Jack … das kam später.

Viktor stammt aus irgendeinem schizophrenen Dörfchen in der Hinterukraine. Aber die Leute dort, die bezeichnen sich als Moldawier. Eigentlich wollten sie das Dorf am Dnjestr gründen, sagt Viktor. Aber einer hat die Karten vertauscht, oder er hat sie falsch gelesen, und dann sind sie am Dnjepr gelandet.

Bevor Viktor zu uns kam, war er arbeitslos. Und danach – auch. Das ist gut so. So hat er mehr Zeit für mich. Wann immer Viktor eine Pause braucht von seiner Freizeit, besichtigen wir Wohnungen zusammen. Wir nehmen jeden Termin wahr, selbst wenn sie bereits vergeben sind. Es geht Viktor nicht um die Wohnung, es geht ihm ums Besichtigen. – Vierzig Jahre Kommunismus, sagt er, – ich will wissen, was ich verpasst habe im Leben.

Die Polenta hatte auf der Küchenablage gestanden, in einem gelben Karton, und plötzlich war sie nicht mehr da. Das war die gute Polenta aus Venetien, die feine ohne Klümpchen, und deswegen war es besonders schlimm.

Als ich am Nachmittag nach Hause komme, rieche ich den Braten sofort. Und dass es dazu meine Polenta geben soll, ist mir auch augenblicklich klar.

– Aber Viktor hat doch heute Geburtstag, sagt meine Mutter und hebt die Hände wie der Torwart, der den Ball vor dem Linienaus nicht berührt haben will und gleich auf Abstoß pochen wird. – Und du, du isst doch heute bei Kathi.

Ich bin fassungslos. In einem Anflug von Bolschewismus hat meine Mutter die Polenta doch tatsächlich zum Allgemeingut erklärt.

– Aber das ist doch meine Polenta, sage ich, und: – Guck, jetzt ist sie leer. Zum Beweis halte ich die Packung über Kopf, und einzelne Körner fallen auf die grauorangen Fliesen, wo sie einsam und traurig leuchten wie die Sterne hier an den viel zu hellen Nachthimmelstreifen, wenn sie kreuz und quer über den Häusern hängen.

– Am Montag kaufe ich dir neue.

– Darum geht es nicht.

Meine Mutter rührt unbeirrt weiter in ihrem Topf. Nach einer Weile lacht sie.

– Das Lachen wird dir noch vergehen!, schreie ich.

Ich wünschte, ich hätte das nicht getan.

Sie holt aus. Eine Sekunde später drängt sich mir der harte Boden ins Gesicht.

Als ich wieder zu mir komme, sehe ich doppelt. Da bin ich und da ist dieses Mädchen im Spiegel, dem traurig das Haar über dem Gesicht hängt und Tränen vom Kinn.

Ich reiße meine Jacke vom Haken, stürze aus der Tür, renne davon. Hinter mir höre ich meine Mutter rufen, aber ich reagiere nicht, renne einfach weiter. In meinem Kopf brennt ein Feuer, das alle anderen Gedanken weggesengt hat.

Am frühen Abend kommt Viktor nach Hause. Er legt seine Tasche ab, zieht die Schuhe aus. Er hört das Rauschen der Abzugshaube in der Küche, und als er ins Esszimmer tritt, sieht er die dampfenden Töpfe, die beiden Gläser und eine Karaffe Wasser auf dem Tisch. Meine Mutter tritt ins Esszimmer und bittet ihn, eine Flasche Rotwein vom Dachboden zu holen. Viktor nickt, dreht sich um und steigt die Treppe hoch. Während meine Mutter den Braten aufschneidet, glaubt sie, einen dumpfen Schlag zu hören, aber sie ist sich nicht sicher. Als Viktor nach fünfzehn Minuten noch immer nicht zurück ist, beschließt sie, nach ihm zu sehen. Während sie die letzten Sprossen der Leiter nimmt, erkennt sie ihn am hinteren Ende des Dachbodens, mit hängenden Schultern, im Dunkeln. Vor ihm das Weinregal und in einer großen Lache die Scherben einer zerbrochenen Flasche. Er scheint ratlos, aber im Profil trägt sein Gesicht auch Spuren von Anstrengung. Meine Mutter fragt, ob er Hilfe brauche, aber Viktor gibt keine Antwort. Auch, als sie ein zweites und ein drittes Mal fragt: Nichts. Jetzt wird sie stutzig, tritt auf den Dachboden und macht Licht. Und da sieht sie das Seil, das aus dem Dunkel des Gebälks herabhängt und eng um seinen Hals liegt wie ein Schal im Dezember.

Meine Mutter – ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Irgendwie hatte ich ein schlechtes Gewissen wegen der Polenta. Also wegen Viktor. Und dass ich davor …

Hat ihm das jemand zugetraut? Ich habe herumgefragt in der Nachbarschaft, aber wenn man das tut, ist es doch immer dasselbe. Keiner hat es ihm zugetraut. Natürlich. Sonst wäre er noch am Leben. Liebenswürdiger Nachbar, haben sie gesagt, freundlich, haben sie gesagt, hat immer gegrüßt auf der Straße. Und sonst – fand sich auch nicht viel. Er trank nicht, nahm keine Medikamente, keine Drogen. Er ist – soweit das dort, wo er herkommt, möglich war – in guten Verhältnissen aufgewachsen, seine Eltern, hat Viktor immer gesagt, seien fürsorglich gewesen und so weiter. Eigentlich fand sich überhaupt nichts, nicht einmal ein wirklicher Abschiedsbrief, lediglich, Tage später, eine kurze Notiz auf seinem unordentlichen Schreibtisch: Die Lücke, die ich hinterlasse, ersetzt mich vollkommen.

Warum ich das erzähle? Keine Ahnung. Vielleicht, weil es mir leid tat. Das alles. Für meine Mutter. Denn mit Viktor ist der Efeu in meinen Kopf gewachsen. Der Samen davon war schon vorher da, aber noch verborgen damals. Irgendwo vorm Rücken. Da, wo Lungen und Herz … Unter stapelweise anderer Sorgen, verheddert in Gedanken. Und manchmal gibt es ja auch noch die guten Dinge, Softeis zum Beispiel oder Schifffahren oder Mister Wochentag, wenn er wieder irgendeinen Unsinn plappert auf meiner Schulter. Aber wenn sich diese Idee nach oben schmuggelt … und das hat sie. Die Ranken waren jetzt überall. Dicht war es unter meinem Schädelknochen und voll und es raschelte die ganze Zeit. Und dann braucht es nur noch einen Tag, der so richtig scheiße ist. Und der davor war es auch. Und der davor: sowieso. Manch einer geht ins Flüssige, verdünnt seine Lebenslügen Tag für Tag mit irgendwelchen Wodkaimitaten. Andere wählen die schnelle Variante. Sie klappern die Apotheken ab, gehen in den Eisenbahntunnel oder auf die Hochbrücke und kehren nicht mehr zurück. Für mich war das keine Option. Ich hatte Höhenangst. Und Tabletten, die bringe ich nicht runter.

Ja. Das mit dem Efeu in meinem Kopf, das war Viktor. Viktor oder – Rolf. Viktor und Rolf. So.

Es ist ein schöner Montagmorgen, beinah zu schön für einen Tag im frühen März. Die große Pause ist fast zu Ende, als ein Junge die breite Betontreppe betritt, die zum Schulhaus hochführt. Rolf ist fast sechzehn, nur noch einige Tage sind es bis zu seinem Geburtstag. Ein Fest oben in der Waldhütte wird vorbereitet, ohne ihn, versteht sich. Er soll nichts davon erfahren.

Rolf ist spät dran. Er hastet die Treppe hoch, nimmt zwei Stufen auf einmal. Doch dann, als er das Ende beinah schon erreicht hat, wird er auf einmal langsamer, bleibt auf der zweitletzten Stufe stehen. Plötzlich dreht er sich um und schlägt die Richtung ein, aus der er gekommen ist. Entschlossen nimmt er den Weg zurück zur Kreuzung, überquert die Straße und den kleinen Platz vor der Brücke, wo er Minuten zuvor sein Fahrrad abgestellt hat. Er lässt seine Handfläche über den Sattel streichen – liebevoll, wird später einer sagen – und betritt die Brücke. Fast schwebend schreitet Rolf dahin, sein federnder Gang wirkt leicht, unbeschwert, in regelmäßigen Abständen lässt er seine Handfläche auf den Handlauf klatschen. Er weicht einer schmalen Pfütze aus, die sich um eine Nahtstelle im Asphalt gebildet hat, macht einige taumelnde Schritte, bis er sich wieder fängt. Dann hält er inne, lässt den Rucksack von seinen Schultern gleiten und lehnt ihn sorgfältig gegen einen Laternenpfahl. Er stellt sich ans Geländer, sein Blick geht nach unten, auf den Kanal und die Straße, die so heißt, auf das Mehrfamilienhaus, das die beiden voneinander trennt, das Kraftwerk und die Sporthalle, wo die Straße endet. Er zögert eine Sekunde, zieht sich dann am Laternenpfahl hoch und hebt ein Bein nach dem anderen über den Handlauf, erst das rechte, dann das linke. Während er sich mit der Rechten am Geländer festhält und mit der Linken den Laternenpfahl umklammert, lässt er langsam seine Beine hinuntergleiten, und als er den schmalen Vorsprung unter seinen rechten Zehen spürt, lässt er den Fuß sinken, bis er sicheren Halt findet, um dann erst den anderen abzustellen. Jede Bewegung kontrolliert, als hätte er sie schon hundertfach ausgeführt, alles behutsam und bedacht, so als fürchte er, im falschen Augenblick abzurutschen. Dann bekreuzigt er sich kurz und undeutlich, als würde er eine Fliege verscheuchen, und zwei Sekunden später ist er auch schon tot.

 

Die Hochbrücke ist 21,3 Meter hoch. Bei Windstille fällt man 2,08 Sekunden und trifft mit einer Geschwindigkeit von 73,6 km/h auf den Asphalt. Die Straße unter der Brücke ist eine verkehrsarme Sackgasse, rund 500 Meter lang, die erlaubte Maximalgeschwindigkeit beträgt 60 km/h. Bis zum Jahresende stürzten sich fünf weitere Menschen hinunter, im vorletzten Jahr waren es vier, im Jahr zuvor drei. Null Komma acht sieben Todesopfer pro hundert Meter und Jahr, statistisch gesehen ist die Kanalstraße damit die tödlichste der Schweiz. Auf keinem Streckenabschnitt des Landes kommen mehr Menschen um pro hundert Meter.

Was übrig bleibt, ist immer gleich: ein Haufen Fragen und ein Haufen zerkratztes Fleisch, ein paar Spinnfäden im Straßenbelag vielleicht, die im Herbst gekittet werden müssen, weil sie sich sonst mit Wasser füllen und Löcher in den Asphalt sprengen beim ersten Frost.

Rolf wurde an seinem sechzehnten Geburtstag beigesetzt. Die Abdankung hat vorher stattgefunden, in der Waldhütte, die man für die Überraschungsfeier hergerichtet hatte, irgendwie fanden seine Eltern das originell. Stück für Stück zog irgend so ein Pfarrer winzige Zettel aus einem dieser Plastikbehälter, in denen man Lebkuchen aufbewahrt normalerweise, las sie vor und warf sie anschließend ins Feuer. Es waren Erinnerungen, die wir aufgeschrieben hatten zuvor und die von seiner Schwester eingesammelt worden waren. Die Bergwanderung zu zwei Dreitausendern, der Abscheu vor dem Schlossbergtunnel, der Ohnmachtsanfall auf der Schulreise zum Lago Maggiore und andere Belanglosigkeiten, zusammenhangslos wie Rolfs Leben. Der Pfarrer stockte, räusperte und wiederholte sich ständig. Die Erinnerungen ergänzte er nach Belieben, manche hat er frei erfunden. Er war weitsichtig, muss man wissen, und hatte seine Lesebrille vergessen.

Das war knapp drei Monate, bevor Martina von der Brücke gesprungen ist und sechs Monate vor Kai. Unsere Klasse hatte damit bereits während des ersten Jahres drei Schüler verloren.

Ganz schön viele Tote auf einmal, könnte man jetzt denken, aber das denke ich nicht.

Im Tal, aus dem ich komme, ist das normal.

Fünf

Morgen ist heute. Wenn sich einer einmischt in etwas, wo er nicht hingehört: Das ist das Problem. Die Zukunft ins Jetzt.

– Morgen gehst du wieder zur Schule, sagte meine Mutter und hielt mir das Thermometer hin: – 36,5 Grad, sagte sie.

Dieses Morgen ist jetzt.

Gestern habe ich gesagt: – Okay.

Aber heute ist alles anders. Auch das Problem, weshalb ich nicht zur Schule gehen kann, ist ein anderes. Aber es bleibt eines. Und deswegen will ich nicht.

In dreißig Minuten fängt die erste Stunde an. Wenn sich bis dann die drei Pickel nicht vollständig dahin zurückgezogen haben, wo sie hergekommen sind, setze ich keinen Fuß vor die Tür.

Nach dem Aufstehen leuchten mir die Dinger im Spiegel entgegen wie Pistenfeuer. Drei Stück, auf der linken Wange. Ich kneife die Augen zusammen. Aber das hilft nicht. Sie sind noch immer da. Eins, zwei, drei. Groß und rund und prall. Das Ende einer gottverdammten Fonduegabel.

– Du übertreibst, sagt meine Mutter.

Da hat sie recht.

– Stecknadelköpfe, sage ich.

Meine Mutter lässt das Brot aus der Hand fallen. Es bleibt auf dem Teller liegen, mit der bestrichenen Seite nach unten. Als sie es aufhebt, liegt die Marmelade in gekräuselten Wellen über der Butter. Dazwischen kleben hellbraun die Brosamen.

Meine Mutter seufzt.

– Alba, du hast doch jetzt schon eine ganze Woche gefehlt.

Das stimmt. Die Sache ist nur: Wenn deine Fieberkurve nach oben ausschlägt wie ein durchbrennendes Pferd, kannst du dich trotzdem ins Klassenzimmer setzen. Ich meine, das macht keiner und ich schon gar nicht. Aber du kannst. Und die Leute, die finden das gut. Deine Mutter findet das gut, der Lehrer findet das gut, sogar die Klasse findet das gut. Du schluckst eine Ponstan 500, die mit der hübschen Kerbe in der Mitte, und setzt dich ins Klassenzimmer. So einfach geht das. Mit Pickeln nicht.

Aber das sage ich nicht. Ich sage:

– Wenn du die Leute rausholst aus dem Tal, weil der Staudamm einen Riss hat, und dann reparierst du ihn und setzt einen Termin fest für die Leute, damit sie wieder zurückkehren können, wenn dann kurz vorher der Damm bricht, weil Unwetter ist oder irgendein Verrückter draufgeschossen hat mit seiner Panzerfaust, hältst du dann immer noch an deinem Termin fest?

Der sitzt. Bestimmt. Wenn nicht, dann weiß ich auch nicht.

Na ja.

Meine Mutter schüttelt den Kopf.

– Was sollen denn die Lehrer denken?

– Was die denken sollen? Das ist denen doch so egal wie der Weltmarktpreis für Yakbutter …

Meine Mutter springt auf und stößt den Tisch von sich weg.

Sie brüllt:

– Dass du schwänzt, und dass ich dich schlecht erzogen habe, das denken sie!

Gut, das tut sie nicht wirklich, aber ich weiß, dass sie das denkt, und sie stößt auch den Tisch nicht weg. Nur ihre Lider fangen zu beben an, und ihre Lippen tun es. Was andere Menschen die Mienen durcheinanderwerfen lässt im ganzen Gesicht, führt bei meiner Mutter nur gerade dazu, dass sich ihr der Mund kräuselt und um die Augenwinkel die Haut. Damals zumindest noch.

Und dann sagt meine Mutter das, was sie immer sagt, wenn sie gleich platzt vor Wut.

– Alba, sagt sie, Alba …

Meinen Namen sagt sie.

Sonst sagt sie nichts.

Also. Es ändert sich nichts an der Tatsache: Meine Mutter besteht darauf, dass ich in fünfzehn Minuten das Haus verlasse.

Ich meine, diese gelben Dinger und der rote Krater ringsum. Vielleicht, dass sie einem Farbenblinden nicht aufgefallen wären. Aber Marcel ist nicht farbenblind. Und damit ist die Sache ausdiskutiert.

Marcel. Damals, vor einem Jahr oder anderthalb, gehörte er zu den Kleinsten seiner Klasse. Aber als er zu uns kommt, fängt das mit dem Wachstum an. Er wächst und wächst und wächst und will gar nicht mehr aufhören damit. Er ist jetzt größer als alle anderen, die Lehrer eingeschlossen. Mit Marcel ist es so: Du schaust ihn an und denkst: Mann, ist der groß geworden. Und dann schaust du kurz weg, und wenn du wieder dahin blickst, wo eben noch seine Augen waren, schaust du auf einen zuckenden Adamsapfel. So schnell geht das. Man hat das Gefühl, Marcel ist sich selbst über den Kopf gewachsen.

Marcel kümmert sich um gar nichts. Die Schule ist ihm egal. Und die Lehrer – erst recht. Seine Baumwolltrainerhosen trägt Marcel weiterhin, da kann der Rechsteiner noch lange herumfranzen an der Wandtafel vorne. Marcel sagt dann den einzigen Satz, den bis jetzt nicht einmal die drei Öfen pro Tag aus seinem Kopf gekriegt haben: – Je ne comprends pas. Er spricht dabei ziemlich vorsichtig und etwas unbeholfen, tastet sich Wort für Wort vor, als sagte er den Satz zum ersten Mal. Und der Rechsteiner streckt die Waffen.

Jedenfalls: Mit der französischen Sprache hat’s Marcel nicht so. Aber mit der deutschen dafür umso mehr. Reden kann der Marcel, da kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus. Und gleichzeitig gut aussehen dabei. Das Sprechen, das ist ihm angeboren. Und das werfen ihm auch die Lehrer vor. Wiederholen haben sie ihn lassen. Erst Anfang August ist er zu uns gekommen, die Dritte macht er jetzt zum zweiten Mal. Fragt sich nur, wie lange noch. Denn: Des Wortwitzes wegen krümmt er gerne mal die Wahrheit. Daher auch das mit den Noten.

– Die heißen so, sagt er, – weil sie notwendig sind, verstehst du?

Ich nicke. Klar verstehe ich. Und ich verstehe auch, dass ich, wenn Marcel meine Mutter wäre, ganz sicher nicht mit drei Sprengkörpern im Gesicht zur Schule gehen müsste. Allerdings – es gäbe in diesem Fall auch weniger Anlass zu schwänzen, weil es dann keinen Marcel in der Schule gäbe. Und ich mit dem Marcel daheim nicht das …, was ich eigentlich …

Ja.

Also: Es gibt zwei Möglichkeiten, dieses Problem zu lösen. Der Vorschlag meiner Mutter fällt da nicht hinein.

Entweder drücke ich meine linke Gesichtshälfte während neun Lektionen gegen die Wand oder: Ich bleibe zu Hause. Ich entscheide mich für Letzteres. Ich bin Realistin, muss man wissen.

Das kann man von meiner Mutter leider nicht behaupten. Aber das ist es nicht, was mich beunruhigt. Es ist etwas anderes: Sie will mich zur Schule fahren.

– Nicht, dass du dir gleich wieder was einfängst auf dem Weg, sagt sie und legt mir den blau-gelb gestreiften Wollschal um den Hals, streicht mir übers Haar und schiebt mich hinaus in die Dunkelheit, damit ich das Tor schließen kann, wenn sie aus der Garage gefahren ist.

Vielleicht ist sie wirklich etwas in Sorge, aber vielleicht befürchtet sie auch einfach, dass ihre Tochter genau das vorhat, was sie nämlich vorhat: pünktlich die Wohnung zu verlassen und genauso pünktlich nicht zum Unterricht zu erscheinen.

In ihrer Bestürzung, dass man das Autonome Zentrum in Zürich geschlossen hat, ist eine junge Frau an einem Freitagmorgen zum Bellevue gegangen, hat sich mit Benzin übergossen und angezündet. An jenem Nachmittag, an dem sie im Krankenhaus an ihren Verletzungen starb, habe ich Marcel kennengelernt. Das war vor sechs Wochen. Das heißt, ich kenne Marcel vielleicht seit fast einem halben Jahr, aber kennengelernt habe ich ihn erst an jenem Freitag.

Vorher wusste ich nur, dass er sitzengeblieben war und dass er sich angeblich zusammen mit Albert Hofmann höchstpersönlich einen LSD-Trip geschmissen hat oben auf der Allmend. Jetzt weiß ich, dass er Bananen liebt, die so braun sind, dass es für die Gesundheit bedenklich wird, dass er Olympic Decathlon, Space Invaders und Battlezone spielt und dass das mit dem Trip Quatsch ist. – Das war gar nicht auf der Allmend, sagt er, – sondern drüben auf dem Chrüzliberg.

Ich würde sagen, die beiden wollten’s wissen. Ganz schön gefährlich mit all den Felsabbrüchen ringsum.

Die Sache mit Marcel war ziemlich heikel, weil: Ich bin nicht so der Typ, der dem anderen einfach einmal die Hand hinstreckt und sagt: – Hei, ich bin Alba, wie geht’s denn so? Also warte ich, bis sich Franz mit ihm angefreundet hat und stelle mich dann, während der Pause, unauffällig in die Runde. Und als Franz einen Witz reißt, den ich vergessen habe, sage ich … Das habe ich auch vergessen, und zwar deshalb, weil jetzt genau das geschieht, was mich hat vergessen lassen, was ich zuvor gesagt habe: Marcel schaut mich an, schiebt die aufeinandergepressten Lippen vor und nickt anerkennend. Und dann zeigt er seine riesigen Zähne, groß und vom Rauchen verfärbt wie von einem alten Klavier die gelben Tasten, und ein Röhren und Glucksen kommt ihm aus der Kehle, als hätte man irgendwo in der Gegend eine Hirschkuh angefahren und am geteerten Rand liegen gelassen, ohne dem Wildhüter Bescheid zu sagen. Sofort weiß ich: Den Typen werde ich lieben bis ans Ende meines Lebens. Und so falsch lag ich damit gar nicht.

 

Also: Ein Vierteljahr warten und dann gut anderthalb Monate harte Arbeit, da denke ich gar nicht erst daran, mir an einem einzigen Tag alles wieder zunichte zu machen.

Sicher, meine Mutter fährt mich zur Schule. Aber ich, ich habe vorgesorgt. Ich lasse mich nämlich an der Bushaltestelle beim Altersheim absetzen, halte ihr das präparierte Absenzenheft unter die Nase, damit sie ihre Unterschrift draufsetzen kann, und danach, hinter dem Erdwall, geht’s ab durch die Hecken: auf dem Trampelweg durchs Dickicht hinter dem Sportplatz, dann in einem großen Bogen hinab zum Schloss, über die hölzerne Brücke und wieder hinauf in die Stadt.

So stelle ich mir das zumindest vor. Aber der Plan haut nur gerade hin bis zum Punkt mit dem Absenzenheft. Meine Mutter nämlich setzt ihre Unterschrift drauf, kratzt mir mit ihren spröden Lippen einen Kuss auf die Stirn und zieht den Riegel hoch an der Beifahrertür. Ich steige aus, den Stift noch in der Hand und den linken Daumen zwischen die Seiten geklemmt, wo jetzt die Manipulation fällig ist. Ich nehme die beiden Stufen hoch zum Durchgang, öffne hinter der ersten Biegung das Heft und setze den Stift da an, wo die zweite Zwei so klein geschrieben ist, dass sie aussieht wie hochgestellt, und lasse so mit einem winzigen Häkchen, das ich unten anfüge, vierundzwanzig Stunden verfliegen, mache aus dem 22. einen 23. Januar.

Und dann, als ich die Ziffer noch einmal überprüfe, geschieht es: Hinter der Biegung taucht der Rechsteiner auf. Gut, es hätte schlimmer kommen können. Wenn er die Aktion mit dem Absenzenheft beobachtet hätte zum Beispiel. Aber dass er weiß, dass ich hier bin und das noch nicht einmal sterbenskrank, ist schlimm genug.

– Bonjour, mademoiselle Alba, sagt er, und: – Comment allez-vous? Und: – J’espère que vous êtes complètement rétablie. Und während er mir Löcher in den Bauch fragt wegen meiner Grippe, begleitet er mich bis ins Schulzimmer.

Ich sitze in der Falle.

Aber immerhin: Zwar ist das Schulzimmer nicht leer, wie ich mir das wünsche, als der Rechsteiner mit mir im Schlepptau den Raum betritt, aber wenigstens ist Marcel nicht da. Und das bleibt auch für die nächsten drei Stunden so.

Bis zur großen Pause.

Als sie mich gefragt haben einen Tag oder zwei danach, weshalb das alles passiert sei, sagte ich, ich wüsste es nicht, oder ich sagte irgendetwas, was wahrscheinlich klang. Aber ich wusste nicht, weshalb das geschehen war, was dann geschah.

Gründe kommen einem erst Jahre später in den Sinn. Viele, nicht einer, so wie es eben auch nicht nur der Torwart ist, der für die letzte Schande im Letzigrund verantwortlich ist, auch wenn das alle sagen, und es fallen einem auch nicht alle Gründe auf einmal ein, sondern erst einer und dann noch einer und dann wieder einer.

Wenn man also etwas gewartet hätte mit den blöden Fragen damals im Krankenhaus, wenn man zwei oder drei oder fünf oder sieben Wochen gewartet hätte, dann hätte ich ihnen von dieser großen Pause erzählt. Es war eigentlich eine Pause wie immer, und weil Winter war, haben sie alle drinnen verbracht, im Bunker, vor der Mensa. Nur die Raucher, die standen draußen unter dem Vordach oder vor den Seitentüren des Bunkers, aber ich habe ja noch gar nicht geraucht damals.

Der Bunker. Wenn die übrigen Schulgebäude lichtdurchflutet sind und hell, wenn sie leicht sind und durchsichtig, wenn das Glas und die Stufen der breiten Treppen, die frei hängen, Licht einlassen und Einblicke zu-, wenn sie durchschaubar sind, wenn man hineinschauen kann in den Hallerbau, in die Turnhalle, in die Aula, in die Pavillons und die lockeren Alleen, dann ist der Bunker das genaue Gegenteil. Der Bunker heißt so, weil er ein Klotz ist und viel zu sehr aus Beton besteht, weil er grau und fest und dunkel ist, weil seine Gänge eng und schummrig, seine schmalen Treppenschächte beinah absatzlos sind und so eng, dass sich gerade einmal zwei oder vielleicht drei Menschen kreuzen können in ihnen. Und weil es nur zwei Treppenschächte gibt und drei Etagen, und weil im ersten Stock die Bibliothek untergebracht ist und die je zwölf Klassenzimmer erst auf der zweiten und der dritten Etage, also bei jeder Pause um die vierundzwanzig Klassen mit zwanzig Schülern einmal hinab in die Mensa und wieder hinauf wollen, gehen von den dreißig Minuten Pause fünf Minuten für den Hin- und fünf Minuten für den Rückweg verloren. Und wie das dann erst gehen soll, wenn’s einmal brennt im Bunker, will man sich gar nicht vorstellen, aber man tut’s dann eben doch. Erst schrillt die Alarmglocke los und du denkst: Fehlalarm. Aber dann riecht einer den Rauch und dann ein Zweiter und dann ein Dritter und dann sieht ihn der Erste auch schon und dann noch einer und dann alle. Man bewahrt Ruhe in den Klassenzimmern, so gut sich die Ruhe eben bewahren lässt, wenn man mit fünfhundert Leuten in einem Gebäude feststeckt, wenn die Decke psychedelisch flackert von der Feuerwehr, der Polizei und was sich sonst noch alles ums Gebäude herumtummelt und dabei doch nichts tut, außer zuzuschauen, wie alles seinen Lauf nimmt. Man bewahrt Ruhe, obwohl überall Rauch ist und man weiß, dass die Fluchtwege verstopft sind, weil der Plastikboden im Treppenhaus und die Gase, die sich aus ihm lösen, dir die Lunge zerfressen würden, wenn du sie einatmest, dass sie dir hochkommt in Stücken und vor dir auf dem Tisch blutig liegen bleibt. Und irgendwann bricht der Tumult los, weil die zunehmende Hitze jemandem die Sicherungen hat durchschmelzen lassen und dann einem Zweiten in der Klasse und dann einem Dritten. Und dann stürmt die Menge auf den Flur und schießt hinaus zu den Treppenhäusern, drängt sich zusammen und auseinander, drückt sich gegen das Glas und die Wände und die Betonstützen und auf den Boden, und wenn einer gefallen ist, rücken die nachfolgenden Schüler sogleich nach in die Lücke, die sich vor ihnen aufgetan hat, und steigen einfach über den Liegenden hinweg. Und als man die Feuerschutztüren erreicht, bleiben die Vordersten stehen vor Grauen und Entsetzen und brechen in Geheul aus und Geschrei. Hinter dem Drahtglas ist der Qualm so dicht, dass jede Flucht unmöglich erscheint, vielleicht sind die Türen sogar defekt und lassen keinen Ausweg, nicht einmal den tödlichen hinein in den Rauch. Doch von hinten schiebt die Menge, die flucht und weint und spuckt und einfach nur hinauswill, und sich gegen das heiße Drahtglas quetscht, das krachend birst unter dem Druck und die Vordersten zerschneidet und zerteilt und zerreißt, dass ihre Körper ins Treppenhaus hineinhängen und gleichzeitig nicht hineinhängen. Sofort suchen sich der Rauch und das Gas und die Hitze einen Weg in den Flur hinein, drücken in die entgegengesetzte Richtung, sammeln sich an den Decken und füllen langsam den Raum von oben nach unten, und bald sieht man die Hand vor Augen nicht mehr, so dicht ist der wabernde Qualm. Scheiben werden jetzt eingeschlagen, man hält sich an den Fensterrahmen fest und streckt den Kopf ins Freie, um nach Luft zu schnappen, einige fallen schreiend in die Tiefe, regnen schwer aufs Pflaster wie Hagelkörner an einem lauen Sommerabend, begleitet vom Kreischen der im Innern feststeckenden Menge, das immer lauter wird und verzweifelter, nach einigen Minuten aber abnimmt und abnimmt und abnimmt und schließlich verstummt. Und wenn das Feuer endlich gelöscht ist und die ersten Feuerwehrleute auf der Suche nach Überlebenden über die vereinzelten Leichen im Treppenhaus steigen und schließlich in die oberen Stockwerke vordringen, bleiben sie auf den Treppenabsätzen stehen mit starrem Blick und wie festgeklebt. Hüfthoch angehäuft liegen die Kadaver in den Fluren, mit schmutzigen Kleidern und schwarzen und blauen und violetten Gesichtern, mit aufgesperrten Mündern, in denen weiß die Zähne leuchten, und aufgerissenen Augen, mit geschwollenen, vom Rauch aufgedunsenen Köpfen, mit gebrochenen und zerdrückten und zerstampften Gliedmaßen, mit blutig zerkratzter Haut, zusammengeschmolzen und verbacken zu einer Masse aus schmutzigem Fleisch. Aber das Schlimmste am Bunker ist, dass sie die Klos vergessen haben. Im Erdgeschoss keine Toiletten, im ersten Stock keine Toiletten, im zweiten Stock keine Toiletten, im dritten Stock keine Toiletten. Nur im Untergeschoss, vor der Dreifachturnhalle, da gibt es fünfzehn Stück für jedes Geschlecht, aber die sind immer leer. Erst später hat man in den winzigen Räumen, die als Abstellkammern für den Abwart vorgesehen waren, noch ein Klo auf jedem Stock eingerichtet, im Osten eines für die Frauen, im Westen zwei Pissoirs für die Männer. Nur zwei Pissoirs. Wenn von den Jungs einer mal nicht nur Kaffee getrunken hat oder einem Erstklässler übel wird, weil er alle Warnungen in den Wind geschlagen hat und etwas anderes als die Fritten gegessen hat in der Mensa – Pech gehabt. Drei oder vier Stockwerke muss der dann rennen. Überhaupt: Der Bunker ist eine verkehrte Welt. Wir Mädchen gehen nie zusammen auf Klo im Bunker, weil es keinen Vorraum gibt, in dem wir reden könnten, oder weil der Vorraum ganz einfach das Treppenhaus ist, sodass jeder mithören kann, wenn er will, aber dann braucht man sich auch nicht ins Klo zurückzuziehen für ein geheimes Gespräch, weil das Gespräch ja dann nicht das ist, was es sein soll, nämlich geheim. Die Jungs dagegen müssen immer zu zweit hin, damit dann einer vor der Tür wartet und zusieht, dass keiner reinkommt. Die Toiletten nämlich sind so klein, dass die Tür genau so breit ist wie der Raum, und wenn du hineingehst, dann schaust du geradeaus aufs Waschbecken, während du die beiden Pissoirs rechts an der Wand erst dann bemerkst, wenn du die Tür hinter dir geschlossen hast. – Und wenn du mit offener Hose vor dem Pissoir stehst und dir einer von hinten die Tür in den Rücken stößt, sagte Marcel einmal in der Pause, – dann wirst du nach vorne geschubst und pinkelst dir auf die Hose.