Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat

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Und diesen abbruchreifen Neubau haben sie gleich vier- oder fünfmal gebaut im Kanton. Aber das ist eine andere Geschichte.

Jedenfalls: Ich stehe mit Franz und den anderen in der Runde, aber ich schaue mich andauernd nach Marcel um, weil ich möchte, dass Marcel kommt und weil ich nicht möchte, dass Marcel kommt. Und irgendwie macht mich der Gedanke, dass er kommen und meine drei Pickel sehen könnte, nervös. Aber auch der Gedanke, er könnte nicht kommen, lässt mir keine Ruhe. Mittlerweile habe ich in den allermeisten großen Pausen mit ihm geredet oder habe wenigstens in der Runde gestanden, wenn geredet wurde, und eine große Pause ohne Marcel war so etwas wie eine verlorene Pause für mich.

Und dann, als die Pause zu Ende ist und ich mich aufmache zum Hallerbau, begegne ich ihnen in dem Moment, als ich den Bunker über die Seitentür verlasse, die bei den Treppenhäusern, die immer zuschnappt und die man von außen nicht öffnen kann.

Ihnen, das ist Marcel und das ist Corinne, wie ich später erfahre, und sie wollen hinein in den Bunker und nicht hinaus, obwohl der Marcel doch mit mir in der Klasse ist und nicht mit der Corinne. Gut, die beiden haben zwar nicht Händchen gehalten und sie haben sich auch nicht geküsst, aber sie haben auch nicht nur geredet. Die haben … Ach, das muss man jetzt auch nicht breittreten. Ich jedenfalls wusste: Das war’s.

Und am Nachmittag kommt das mit der Chemieprüfung. Ich bin immer gut gewesen in Chemie. Ich bin schlecht in Mathe, ich bin schlecht in Physik, ich bin mittelmäßig in Biologie, aber ich bin gut in Chemie. Ich habe immer Bestnoten geschrieben, eine Sechs nach der anderen. Keine Frage, ich habe den Dreh rausgehabt mit den Prüfungen.

Bei den Notenbesprechungen hat das für lange Gesichter gesorgt. Es gibt nämlich vier Sorten Schüler, aus der Sicht der Lehrer, meine ich. Es gibt die, die überall gut sind und es gibt die, die überall schlecht sind. Dann gibt es noch die zwei Gruppen mit einer einseitigen Begabung. Die einen sind sprachbegabt und haben gute Noten in Geschichte, in Geografie manchmal, in Wirtschaft und Philosophie, aber können nicht einmal einen Spitzwegerich von einer Rotbuche unterscheiden. Und es gibt die Mathematikbegabten, die gute Prüfungen schreiben in Physik, in Biologie und in Chemie, aber nach acht Jahren Unterricht noch immer keinen geraden Satz auf Französisch herausbringen und die Kommas im Aufsatz nach dem Zufallsprinzip verteilen. Ich, muss man sagen, gehöre zur dritten Gruppe. Oder hätte gehört. Wenn da nicht die Chemie gewesen wäre. Der Schwarz, der Büttikofer und der Wullschläger, sie alle wittern eine Unregelmäßigkeit, weil ich in ihren Prüfungen lauter unzusammenhängenden Unsinn aufs Blatt werfe, aber in Chemie nur Sechsen schreibe. Aber der Novak, der hat mich immer verteidigt, hat mir der Rechsteiner einmal erzählt, als er ins Plaudern kam. Für Novak bin ich das hochbegabte Mädchen, das überall gute Noten schreiben würde, wenn es nur gewollt hätte. Oder wenn der Unterricht gut gewesen wäre. Dass ich in den anderen Naturwissenschaften nur schlechte Noten schreibe, hänge entweder mit meinem Desinteresse oder mit den inadäquaten Unterrichtsformen zusammen – inadäquat, betonte der Rechsteiner, habe der Novak gesagt –, wobei das eine letztlich auch der Grund für’s andere sei. Jedenfalls seien meine Bestnoten in Chemie und in den ganzen geisteswissenschaftlichen Fächern Beweis genug, habe der Novak gesagt, dass es mir nicht an Intelligenz fehle. An meinen schlechten Noten seien, wenn es nach ihm ginge, die Lehrer der anderen Naturwissenschaften vor allem selbst schuld.

Natürlich hatte der Novak unrecht. Sicher, seine Analogien aus dem zwischenmenschlichen Bereich, mit denen er uns erklärte, was freie Elektronen sind und was Wasserstoffbrücken, haben sich immer gut angehört und manchmal waren sie sogar hilfreich fürs Verständnis. Dass ich so gute Noten schrieb bei ihm, hatte damit allerdings nichts zu tun. Es hing einzig und allein mit der Prüfungsform zusammen: Novak machte offene Prüfungen. – Ihr sollt nicht auswendig lernen, sagte er mit einem Akzent, dem man die böhmischen Hügel auch zwölf Jahre später noch anmerkte, – ihr sollt denken lernen. Und weil wir nicht auswendig lernen sollten, durften wir alles mitnehmen, was wir wollten: Bücher, Ordner, Taschenrechner. Das klingt einfacher, als es war: Die Fragen, die waren wirklich schwer. So mancher aus meiner Klasse hat eine schlechte Prüfung nach der anderen geschrieben.

Ich hatte Glück. Eine Nachbarin von mir, die einige Jahre älter ist als ich, ist bei den Pfadfindern gewesen. Sie und einige ihrer Leiterinnen hatten alle beim Novak Chemie gehabt und dabei sämtliche Prüfungen gesammelt, die sie zusammenbringen konnten. Als ich die Sammlung erhalten habe, umfasste sie bereits mehrere Ordner. Zwar waren die Prüfungen selten identisch, doch weil der Novak meistens nur die Zusammenstellung der Fragen und einige Zahlen verändert hatte in ihnen, in den Ordnern meiner Nachbarin für jedes Thema aber mehrere Prüfungen abgelegt waren, konnte man in der Sammlung jede der fünf Aufgaben finden.

Also: Weil ich die Woche zuvor gefehlt habe, muss ich am Nachmittag die Prüfung nachschreiben. Keine große Sache, denke ich. Novak reicht mir das Aufgabenblatt, schickt mich in ein leeres Zimmer. Den Ordner habe ich dabei, die alten Prüfungen sind hinten eingeheftet. Ich fühle mich unfehlbar wie der Papst.

Doch als ich die Fragen durchgehe, wird mir klar: Irgendwas ist anders diesmal. In vier von fünf Aufgaben sind die Zahlen verändert, und das kostet Zeit. Dazu kommt, dass zwei Aufgaben, die ich zwar in meinem Ordner finde, von keiner meiner Vorgängerinnen richtig beantwortet wurde: Überall das unleserliche Rot von Novaks Sauklaue. Als ich nach fünfundvierzig Minuten abgebe, weiß ich: Das war nichts. Die Note wird nicht ungenügend sein, aber das ist es nicht, was mich traurig macht. Wenn du immer erste Klasse fährst und dann plötzlich zweite, zählt der Umstand, dass du gleich schnell ans Ziel kommst, wenig. Dass deine Handflächen den Plüsch vermissen an den Armlehnen und deine Beine die Freiheit, das ist es, was schmerzt.

Marcel, die Chemieprüfung und am Abend, als ich endlich zu Hause anlange, die Schmerzen unter dem Haaransatz. Es kommt alles zusammen. Als ich die Tür hinter mir schließe, ein paar Kerzen anzünde, das Radio einschalte und mich aufs Bett fallen lasse, ist mir schwindlig.

Etwas liegt in der Luft, trällert einer im Hintergrund, ob ich geliebt werden könnte, fragt ein anderer. Normalerweise singe ich mit, wenn Phil Collins singt oder Bob Marley, und wenn ich den Text nicht mehr weiß oder ihn nicht verstehe, dann bewege ich zumindest den Mund dazu. Aber diesmal liegen mir die Gedanken zu schwer auf der Kehle und im Hals stauen sich eine ganze Menge Fragen: Liebt mich jemand? Meine Mutter vielleicht, aber das zählt nicht. Marcel? Nein. Janine? Nein. Muriel? Schon gar nicht. Else? Die war doch nur darauf aus, von mir abzuschreiben in Latein. Was ist mit den guten Noten? Pff. Bin ich beliebt? Fehlanzeige.

Ich stehe auf, mache das Radio aus. Auf der Stelle schwappt Stille ins Zimmer, füllt jeden Winkel aus. Ich reiße die Fenster auf, dass die Scheiben zittern im spröd gewordenen Kitt, und lehne mich mit verschränkten Armen auf den Sims. Weiße Flocken fallen lautlos aus dem schwarzen Himmel. Vor mir ein Feld und dahinter, aufgereiht wie auf einer Perlschnur, Laternen und unter ihnen gelbe Indianerzelte aus Licht, die in der Nacht hängen mit ihrem steilen Dach. Alles ist still, alles ist dumpf, nur ab und an trägt ein leichter Luftzug das Rauschen eines Baches aus dem Wald heran und bricht in die Stille ein für eine Sekunde oder zwei, dann ist es wieder still draußen und dumpf und dumpf und still ist es auch in mir drin. Ich versuche, mit dem Blick den brüchigen Stäben auszuweichen, die sich vom Boden hinauf bis unter den Himmel stapeln und weiß flimmern vor mir und schwarz wie im Wald die Birken, und jetzt erinnere ich mich, dass ich mich früher mit meiner Schwester hinaus auf die Wiese gelegt habe, auf eine andere Wiese als diese, und dass wir, wenn es regnete, stundenlang in den grauen Himmel starrten, bis es uns unsere Mutter verboten hat, weil ich mir eine Lungenentzündung geholt habe. Und weil wir nicht mehr hinausdurften, wenn es regnete, blieb uns nichts anderes übrig, als mit einem Taschenspiegel am Fenster zu sitzen und den Tropfen zuzuschauen, wie sie hinauffielen und uns ins Gesicht, das nie feucht wurde davon. Ich denke daran und ich denke an meine Schwester und darüber wird mir das Dasein übel. Ich bin allein, denke ich, umgeben von dieser Schicht aus ewiger Gegenwart, aus der ich nicht herauskann. Ich bin allein, denke ich und drehe mich um. Ich schaue ins leere Zimmer und sehe meinen Schatten, der da gefangen ist in ihm. Er tut mir leid, wie er da an der Raufasertapete hängt und weder ein noch aus weiß, so unendlich leid, dass ich ihn umarme.

Und weil ich einfach nicht weiß, was ich dagegen tun soll, mache ich, was man tut, wenn man nicht weiß, was man tun soll.

Sechs

Was hält einen am Leben? Die Familie, wird mancher sagen, die Kinder, die Glotze, Pizza mit doppelt Mozzarella, Softeis, Skirennen, Gott. Aber das stimmt nicht. Es ist der Brechreiz, der dich nicht sterben lässt.

Vor Kotzen nicht sterben können.

Das muss man sich einmal vorstellen.

Nicht dass mir am Abend, als es geschah, schon übel gewesen wäre. Ich habe frische Klingen eingesetzt ins Japanmesser und ziemlich viele wirre Worte auf zwei Zettel gekritzelt und in Umschläge gesteckt, ich habe ein paar Flaschen Bier eingepackt und einen Strick zur Not, falls das mit dem Messer in die Hose ginge, ich habe mich warm angezogen, die Tür hinter mir abgeschlossen, den Brief eingeworfen an der Tanke und dann bin ich hinausgegangen aus den Häusern, alles ohne Übelkeit. Wäre mir schlecht gewesen dabei, dann wäre es gar nicht so weit gekommen. Wem übel ist, fasst keine solchen Pläne. Wer kotzen muss, will gesund werden, nicht sterben. Auch das stimmt wieder. Selbst wenn es mir nicht darum geht. Es geht mir um das Nicht-Sterben-Können, nicht um das Nicht-Sterben-Wollen.

 

Ich bin also hinaus in den Wald gegangen, habe mir eine Flasche Bier geöffnet und mich auf eine Bank gesetzt, und dann habe ich über mein Leben nachgedacht, ein wenig. Wenn du dir diese Situation davor durch den Kopf gehen lässt oder danach, dann stellst du dir immer vor, dass man in einem solchen Moment viel und lange und gewichtig und tiefgründig und vor allem bewusst über das eigene Leben nachdenkt, dass man sich eine Stunde nimmt oder zwei, um innezuhalten, dass man Für und Wider abwägt, um dann zu einer Entscheidung zu gelangen oder auch nicht, aber das ist Blödsinn. Ich denke nur ein wenig nach, ein paar Minuten vielleicht, und als es mir zu blöd wird, über mein Leben nachzudenken, beschließe ich, heute Nacht abzutreten. Ich trinke mein Bier aus, schmeiße einen ganzen Haufen Tabletten ein, hole das Messer aus der Tasche und gehe ein paar Meter durch den Schnee, der unter meinen Sohlen wehmütig knirscht zum Abschied. Ich nehme eine Handvoll Schnee und drücke ihn aufs Handgelenk, und während ich jetzt warte, bis die Haut betäubt ist von der Kälte und die Adern und Sehnen und das Fleisch darunter, gehen mir dann doch noch ein paar Gedanken durch den Kopf. Das ist das letzte Mal, dass du den Schnee knirschen hörst, denke ich mir, und auch dass du jetzt den bitteren Nachgeschmack vom Bier im Mund hast, ist das letzte Mal. Aber das zählt jetzt nicht mehr, es ist entschieden, denke ich mir, aber fast gleichzeitig frage ich mich, wer genau das eigentlich entschieden hat. Bist du das, Alba, die das entschieden hat, frage ich mich, oder sind es die Umstände, die darüber entschieden haben? Ist es Marcel, ist es die Chemieprüfung, sind es die Kopfschmerzen? Eine Minute denke ich nach oder zwei, aber dann merke ich, dass ich nervös werde darüber, nervös und ungeduldig und ängstlich, und das ist es, was mir noch viel mehr Angst macht. Ich habe keine Angst vor dem Tod und auch keine vor dem Sterben. Ich habe Angst vor der Angst vor dem Tod. Und dann sage ich mir, dass das jetzt egal ist: Das ist jetzt egal, Alba, sage ich, wenn du tot bist, spielt das alles keine Rolle mehr.

Und dann habe ich das Messer angesetzt und ins Fleisch geschnitten, und als dunkel die erste Wunde klaffte darin und das Dunkel immer größer wurde wie der Fleck unter einem umgestoßenen Tintenfass, ging alles wie von selbst. Ein zweites Mal schneide ich und ein drittes Mal, immer tiefer, bis es sprudelte und gurgelte für eine Zeit. Und dann wurde ich gelassen, seltsam gelassen, während mein Herz und mein Kopf und mein ganzer Körper sich ausdehnte und zusammenzog und sich ausdehnte und zusammenzog, jedes Glied für sich, jedes, als ob es jeden Moment platzen oder in sich zusammenstürzen müsste, sich aber nicht entscheiden könnte zwischen den beiden Extremen und deswegen immer zögerte, kurz bevor es zum Äußersten kam. Ich war gelassen und ruhig und froh in diesem Moment, in dem mein Körper mit aller Kraft kämpfte und ums Überleben, und ich denke an Viktor und an Novak, der die Prüfung vergebens korrigieren wird, ich denke an Mama, die mutterseelenallein sein wird von heute Nacht an, jetzt, da ihre beiden Töchter gestorben sein werden und ihr Freund tot ist, ich denke an die riesigen Mengen Softeis, die jetzt alle ohne mich gegessen werden müssen, ich denke an Rechsteiner mit seinem gottverdammten Subjonctif und daran, dass man da, wo ich jetzt hingehe, keinen Subjonctif mehr braucht und dass das alles völlig für die Katz war, dieser Subjonctif und dieses Passé simple und dieses Imparfait und überhaupt, und ich denke an Marcel und die Abschiedsbriefe, die ich geschrieben habe für ihn und für meine Mutter, und dass sie erst jetzt zur Wahrheit werden, dass sie bis vor einer Minute oder zwei noch Lügen, noch vage Behauptungen waren, aber dass das Geschriebene jetzt, in diesem Moment, daran ist, wahr zu werden. Ich sterbe, habe ich Marcel geschrieben, ich sterbe in diesem Moment. Du merkst es nicht, dass ich sterbe, für dich lebe ich noch, jetzt, in meinem Jetzt, das dein Gestern gewesen sein wird. Erst wenn dein Jetzt gekommen ist, wenn diese Zeilen eine Brücke schlagen von meinem Jetzt zu deinem, die nie mehr ein gemeinsames sein werden und für immer, erst dann werde ich gestorben sein für dich. Was auch immer du gerade tust jetzt, dieser Moment wird sich hineinfressen in dich. Den Kaffee, den du trinkst am Frühstückstisch, wirst du nicht mehr vergessen oder das Baby, das im Bus schreit hinter dir, du wirst die unförmigen Herzen nicht mehr vergessen, die die Kinder vor dir auf die angelaufenen Scheiben schmieren mit ihren patschigen Händen. Du wirst dich daran erinnern bis zu deinem eigenen Tod, dieses Bild lässt sich nicht herausmeißeln aus dir, weil es eine Lücke ist, die sich in dir aufgetan hat, und es lässt sich nicht überdecken, weil es alles andere überlagert gleichzeitig, alles. Nur noch ich werde da sein, in deinem Kopf und in deinen Gliedern, in dir bis zu deinem eigenen Tod. Daran denke ich, während das Blut in den Schnee sickert, und ich fühle mich froh und glücklich und erleichtert, dass jetzt alles vorbei ist, und auch ein bisschen neugierig, wie es sich wohl anfühlen wird, dieses Sterben, der Moment davor und der Moment danach, und wie es so sein wird, einfach tot zu sein. Und dann denke ich wieder an Viktor, dass er es mir sicher erzählen würde, wenn er könnte, und ich weiß, dass ich ihm gerne zuhören würde, weil er immer so gut erzählt hat. Aber ich bin auch wieder ein wenig ängstlich, dass dieser Tod nicht kommt, solange ich bewusst auf ihn warte, so wie ich ja auch keinen Schlaf finden kann, wenn ich zu schlafen versuche mit aller Kraft und deswegen die ganze Zeit denke an ihn. Ich hafte deshalb meine Gedanken an Viktor, aber mir kommt dieser Abend in den Sinn, dieser Abend vor zehn Jahren oder neun oder auch nur acht, weil man es ja doch nicht fertigbringt, nicht an das zu denken, woran man nicht denken will. Damals hat mir meine Mutter nach dem Abendessen aufgetragen, die Brosamen vom Tischtuch zu entfernen. Wir hatten ein Gerät dafür, so ein Kästchen aus Plastik mit einer Bürste drin, und die schob nun die Brosamen ins Kästchen, wenn man es übers Tischtuch zog. Aber irgendwie ist es mir nie gelungen, sauberzumachen auf dem Tisch, weil jedes Mal, wenn ich eine Pause gemacht oder versucht habe, es umzudrehen, nachdem ich fertig war, die Brosamen alle wieder herausfielen. Nachdem Viktor ins Esszimmer gekommen war und mir eine Weile zugeschaut hatte, nahm er mir das Kästchen aus der Hand und sagte: – Du musst es dann umdrehen, wenn es am wenigsten damit rechnet. Du musst es auf andere Gedanken bringen, du musst es in Sicherheit wiegen, es darf nicht damit rechnen, dass du es umdrehen könntest. Und tatsächlich: Das hat immer funktioniert.

Und so versuchte ich, nicht an das Sterben zu denken, sondern an etwas anderes, und dabei fiel mir auf, dass das Blut versiegt war an meinem Handgelenk und dass ich alles andere war als tot und noch nicht einmal schwach. Das war der Moment, in dem ich es mit der Angst zu tun bekam, mit der Furcht, nicht sterben zu können. Jedem Idioten gelingt es, zu sterben, dachte ich mir, überall kratzen sie ab, reihenweise kommen sie um vor Hunger und Bomben und Verkehrsunfällen und Krebs und bei Flugzeugabstürzen und wegen irgendwelcher Tropenkrankheiten, obwohl sie gar nicht wollen, Kinder, Alte, Frauen, Männer, alle ohne Unterschied, aber du bringst nicht einmal das zustande, was für ein verpfuschtes Leben. Und dann steigt plötzlich dieser Gedanke in mir auf, dass vielleicht nicht mein Unvermögen daran schuld ist, sondern dass ich dazu verdammt bin, für immer zu leben, dass zwar die Leute, die leben wollen, dahingerafft werden von Seuchen und so, aber dass die Menschen, die einfach nur gehen wollen, dass die gezwungen werden, weiterzuleben, dass die Welt voller Ungerechtigkeit ist und es schon immer war und es immer sein wird und das alles nur Sinn ergibt und einfach nur Sinn.

In diesem Moment wurde mir schlagartig bewusst, dass ich mehr Blut aus meinem Körper kriegen müsste, doch ich wusste nicht wie. Aber plötzlich erinnere ich mich an den Religionsunterricht, mir kommt in den Sinn, dass die Juden ihre Tiere verbluten lassen und die Moslems, und dass sie sie aufhängen über Kopf, um das Blut aus der Schlagader am Hals sickern zu lassen bis zum letzten Tropfen, und in diesem Moment war ich zum ersten Mal dankbar über den Religionsunterricht und dass ich von meiner Mutter dazu gezwungen worden bin, und ich war der Religionslehrerin dankbar, dass sie uns das mit dem Schächten erklärt hat, obwohl es ja verboten ist in der Schweiz, der erste Erfolg der Demokratie, hat sie gesagt. Das alles ging mir durch den Kopf, während ich mich in den um mich herum dunklen und feuchten, sonst hellen und weißen oder grauen, aber um mich herum nur noch dunklen und geschmolzenen und matschigen Schnee legte und dabei den linken Arm die Böschung hinab in die Tiefe hielt und den rechten Arm in die Höhe streckte, bis ich das Plätschern wieder hörte, das mir immer ferner schien wie ein Bach, der irgendwo vor sich hin fließt unter schattigen Bäumen. Aber irgendwann, lass es zwei, lass es drei Minuten gewesen sein, ebbte es wieder ab, dieses Plätschern, mit einem leisen Gurgeln und Blubbern zunächst, und dann war Stille. Und ich, ich war noch immer nicht tot und würde es auch nicht werden, und das machte mich traurig, unendlich traurig. Und dann sagte ich mir, dass ich jetzt tapfer sein müsste, mit diesen Worten sagte ich das: – Jetzt musst du tapfer sein, Alba, sagte ich mir, weil ich wusste, dass ich jetzt auf die Kälte hoffen müsste und auf ihre tödliche Wirkung, und es war ja auch wirklich kalt draußen und einiges an Blut verloren hatte ich ja dann trotzdem, aber ich wusste nicht, wie lange so etwas gehen würde und ich wäre froh gewesen um jemanden, der mir etwas Mut gemacht und mir gesagt hätte, wie viele Stunden das noch dauert mit dem Erfrieren. – Drei Stunden geht’s noch, Alba, das schaffst du, das hätte ich mir gewünscht, dass das jemand sagte, aber dann dachte ich mir, dass es doch besser war alleine zu sein, weil dieser Jemand wahrscheinlich nur wieder am falschen Ende geholfen und einen Krankenwagen gerufen hätte. Und als ich dalag und die Augen schloss und wieder öffnete und wieder schloss, da wurde mir auf einmal komisch im Magen und der Kehle, in wenigen Sekunden wird mir furchtbar schlecht und ich übergebe mich. Aber damit ist es nicht getan, der Würgereiz bleibt und bleibt und bleibt, mein ganzer Körper und mein ganzes Ich sind nun ein einziges Würgen, und da wird mir klar, dass es nicht geht, dass ich das Warten darauf, dass die Kälte endlich ihre Arbeit täte, nicht aushalte, und dann fing ich zu weinen an, vor Schmerz, der mir im Hals steckte, und vor Erschöpfung und vor der Angst, dass ich nicht sterben könnte mit dieser Übelkeit, die in der Kehle steckte und im Bauch und im Schnee und den Bäumen und ihren Kronen über mir, alles war Übelkeit. Und während der Matsch unter mir und die Luft und der Wald mit aller Kraft auf meinen Magen drückten und gar nicht daran dachten, damit aufzuhören, da bin ich aufgestanden und losgelaufen, zwischen den Bäumen hindurch und immer den Lichtern entgegen, die zwischen den Stämmen flackerten, und dabei ist mein Körper immer wieder ohnmächtig geworden und zusammengebrochen, während ich einfach weitergelaufen bin, den schlaffen Leib hinter mir zurücklassend, und als ich dann wieder von der Übelkeit geweckt wurde, lag ich irgendwo zwischen Schnee und Laub und Reisig, an dem Ort, wo ich meine Hülle zurückgelassen hatte. Und so ging das, lange, aber ich kann nicht sagen, wie lange, und irgendwann lag ich auf der Straße und Autofahrer standen neben mir, nachdem sie angehalten hatten, weil sie nicht weiterfahren konnten, weil ich und mein Körper den Weg versperrten, und diese Autofahrer haben mich dann ins nächste Haus gebracht, um von da den Krankenwagen zu rufen. Das heißt, sie haben zuerst alle möglichen Nummern gerufen, den Wetterdienst und die Fußballresultate und die sprechende Uhr und die Verkehrsinformation, bis ich ihnen endlich die richtige Nummer sagte, ein Glück, muss man sagen, hatten sie mich dabei, die die richtige Nummer wusste, ein Glück, sonst wäre ich ihnen nämlich abhandengekommen da auf dem Teppich, so unbeholfen wie sie sich aufgeführt haben in ihrer Aufregung.

Und als dann die mit dem Krankenwagen kommen, fragen sie nach dem Verletzten, in meinem Beisein fragen sie nach dem Verletzten, und die Autofahrer oder die Bewohner des Hauses oder alle zusammen zeigen auf mich und die Sanitäter meinen: – Ach, das ist ja gar nicht so schlimm. – Brauchen wir dazu die Bahre, fragen sie dann, brauchen wir wirklich die Bahre, Sie können doch sicherlich gehen, sagen sie und ich sage, dass ich es nicht weiß: – Ich weiß nicht, sage ich, weil ich es wirklich nicht weiß, ich meine, es ist ja nicht so, als ob ich schon häufiger gestorben wäre und das dann einfach so sagen könnte auf einer Skala von Eins bis Zehn, aber die, die müssten es doch wissen, die haben doch schon manch einem zugeschaut beim Abkratzen. Natürlich sage ich das nicht, und ich weiß auch nicht, ob ich das damals wirklich gedacht habe, wahrscheinlich habe ich einfach nur Ich weiß nicht gesagt und mir den Rest vielleicht bloß eingebildet. Jedenfalls waren die Sanitäter sicher, dass das auch ohne Bahre geht, und weil ich mich doch immer von so viel Zuversicht anstecken lasse, bin ich aufgestanden, aber in dem Moment lässt irgendwer die Pferde los, die brennen durch, die Pferdchen auf dem Perserteppich, als hätte ihnen einer die Gerte doppelt und dreifach über die Backen gezogen, um mich galoppieren die Pferde und denken gar nicht daran, aufzuhören mit dem Unsinn, es ist Zürcher Sechseläuten, es ist Bonzenfasnacht, und ich bin der Böögg auf dem Scheiterhaufen, und mir brennen die eisigen Füße und gleichzeitig platzt mir der Kopf, weil der gesamte Leib und die Beine und die Arme hochsteigen in ihn und doch gar nicht alle gleichzeitig hinauspassen durch den Mund. Und als ich wieder aufwache, liegt mein gesamter Körper vor mir ausgebreitet auf dem Teppich, gelb und flüssig und brockig wie eine Suppe mit viel eingeweichtem Brot darin, und daneben fluchen die Sanitäter und neben mir steht auch die Bahre, auf der sie mich dann in die Dunkelheit schieben und schließlich im Neonlicht versorgen, dass schmerzhaft grell ist wie diese widerlichen Häuser auf der anderen Straßenseite, wenn man in der Küche die Fensterläden aufstößt im Sommer und am Morgen. Ich will jetzt nur noch schlafen, denke ich mir, aber das lassen sie nicht zu, Name, Adresse, Schuljahr wollen sie wissen, fragen Löcher in den Bauch, der doch schon lange leer ist, so oft wie ich mich übergeben habe. Und dann, kurz vor dem Krankenhaus, bin ich trotzdem weggedämmert, ich bin stillgestanden und mein Leben ist an mir vorbeigezogen, es ist mitgegangen mit dem Krankenwagen, aber ich, ich habe mich irgendwo auf dem Weg davongemacht. Getroffen haben wir uns erst wieder in der Notaufnahme, danach.

 

Eine Woche später brannte eine Sonne ab am Nachthimmel. Sie erbrach sich in zuckenden Blitzen und stieß Sterne aus, die ringsum weiß und grau und schwarz verpufften. Eine der Leuchtkugeln, die tropfenweise erloschen, traf den riesigen weißen Champignon, der hoch am Himmel hing. Der Fallschirm geriet in Brand und mit ihm stürzte der Pilot auf den Acker und blieb liegen, als fleischiges Häufchen und sehr für sich.

So erzählt es mir meine Mutter am nächsten Morgen, während mein linker Daumen wie ein wildgewordener Sisyphus gegen die künstliche Sehne arbeitet, die außen über die Schiene gespannt ist und so lange die meine ersetzt, bis aus dem Hackfleisch im Handgelenk wieder eine neue entstanden ist.

Und dann begleite ich meine Mutter zum Ausgang und verabschiede mich von ihr. Aber ich gehe nur zum Schein zurück ins Krankenhaus, wo ich mich in die Cafeteria setze und einige Minuten warte, um danach über den Hinterausgang hinaus in den Park zu gelangen.

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