Liebesmühen

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Das Verborgene

Spannend ist übrigens die Frage, ob die Intimität von Paaren, überhaupt den Erwartungen und Vorgaben der Gesellschaft entspricht? Das Intime ist ja per Definition verborgen. Nur die Vermutungen darüber sind öffentlich. Das heißt, die Moral endet in jeder Gesellschaft am Eingang zum Intimen. Moral ist für die Öffentlichkeit gemacht. Erst wenn es im intimen Bereich zu Problemen und Krisen kommt, die einen der Beteiligten dazu veranlassen, die Vertraulichkeit des Paares aufzukündigen, erfährt man mehr. Prahlereien sagen hingegen wenig darüber aus, was wirklich stattfindet. Es empfiehlt sich deswegen, bei der Beurteilung einer Sexualkultur, der man nicht selbst angehört und der Einschätzung der sexuellen Praxis eines Paares eine gewisse Vorsicht walten zu lassen. Das, was gesprochen wird, deckt sich nicht unbedingt mit dem, was ist.

»Unter Freunden hat er einen unglaublichen Ruf als Liebhaber. Weiß der Teufel, wie er sich den erworben hat. Natürlich tut er auch nichts dazu, diesen Ruf zu zerstören. Aber ich weiß, was scheinbar niemand sonst weiß, dass er nämlich ziemliche Probleme im Bett hat. Es tut mir leid, das so sagen zu müssen, aber so ist es nun mal. Von Anfang an hat er sich darum gedrückt, wo es nur ging; eine Ausrede nach der anderen. Ich war das bis dahin nicht gewohnt. Andere Männer fanden es immer besonders aufreizend, dass mit mir wirklich was los ist, ich meine sexuell gesehen. Letztens hat er zu mir gesagt, er hätte nichts dagegen, wenn ich mir dafür einen anderen suche, wenn es nur dabei bliebe. Ich überlege wirklich, ob ich das mache, denn langsam fange ich an, an mir selbst zu zweifeln. Ich weiß gar nicht, ob ich für Männer noch attraktiv bin?«

Liebevolle Intimität schützt vor der Zurschaustellung des Faktischen und wahrt unangenehme Geheimnisse. Diese der öffentlichen Moral abgewandte Seite einer Liebesbeziehung ist ein explizit privates Terrain und sie liegt außerhalb gesellschaftlicher Bewertungsgremien, sofern sich beide über ihre Praxis einig sind. Im Verborgenen können zwei mehr als üblich ausleben, aber auch weniger. Sofern sie es unter sich ausmachen und die Nachbarn keinen Einblick in den fremden ›Saustall‹ haben. Die Ergebnisse sieht im Normalfall keiner (Schwangerschaften ausgeschlossen).

Die New Yorker Schriftstellerin Lily Brett beschreibt in ihren Romanen das diffizile Spannungsfeld zwischen sexueller Ausstrahlung und Zurücknahme, zwischen Zeigen und Verhüllen, selbst gewollter Öffnung und schamloser Ignoranz des Intimen.6 In Lola Bensky geht sie noch einen Schritt weiter und konfrontiert das radikale Naive, die sexuell aufgeladene Atmosphäre der Hippie-Ära mit den sadistischen Experimenten und Exzessen der Konzentrationslager, dem industriellen Vernichtungskalkül der Nazis. Die Hauptfigur des Romans, Lola Bensky, ist eine junge jüdische Reporterin, welche die angehenden Stars der damaligen Musikszene interviewt. Diesen erzählt sie während der Gespräche in Andeutungen vom familiären Drama ihrer Mutter, die sämtliche Angehörige in Auschwitz verloren hat. Der Leser gerät auf eine Achterbahn der Gefühle, bis kaum noch etwas Unschuldiges übrig bleibt und auch die sinnlichen Selbstversuche der Beatgeneration nicht mehr nur als ein risiko behafteter Ausdruck ungebremster Neugierde erscheinen, sondern auch als Flucht vor der aufgebürdeten Last der Elterngeneration. Am Schluss des Romans zählt sie ihre an Drogen verstorbenen Interviewpartner auf. Man kennt alle Namen.

Jedes Paar braucht den Schutz uneinsehbarer Freiräume. Es ist für eine liebevolle und würdevolle Entwicklung gezwungen, sich von außen ungestört hingeben oder verweigern zu dürfen. Die Empfänglichkeit für die Wirklichkeit des anderen kommt schließlich durch Hinhören, Hinsehen und Ausprobieren. Hier entscheidet sich aber auch, ob man zusammen passt und die Summe der Erfahrungen überwiegend als positiv bewertet. Wo kein intimes Wohlbefinden und keine exklusive Magie entstehen, passt es nach den Maßstäben der leidenschaftlichen Liebe nicht lange. Oder es ist was ganz anderes, was zwei verbindet.

Das Unpassende und Fehlende im Intimleben eines Paares, der Zwiespalt zwischen Sehnsucht und Realität, Versprechung und Einlösung ist eine wesentliche Quelle von Krisen. Krisen entstehen, weil etwas zu viel ist oder zu wenig, etwas nicht passt, fehlt oder sich überholt hat. Die Krise ist immer ein Hinweis, dass Teile des bisherigen Arrangements oder das Ganze an seine Grenzen gestoßen sind. Allgemein betrachtet sind Krisen Zeiträume zwischen dem

Ende des Alten und dem Finden des Neuen. Hier kann also eine Beziehung enden. Im ungezügelten Chaos kann sich eine Beziehung aber auch wiederfinden und hierüber kann sie sich weiter entwickeln. Wer Krisen gemeinsam meistert, wächst. So einfach und zugleich schwer ist das.

»Irgendwann war es nicht mehr alles, so alleine ohne Kinder. Es war, als hätten wir uns genügend ausgelebt und als stünden wir jetzt vor der nächsten Etappe. Wenigstens habe ich das so empfunden. Meine Frau hat die Panik gekriegt, als ich ihr gesagt habe, dass es jetzt an der Zeit ist, Kinder zu kriegen. Das war unglaublich, wie sie darauf reagiert hat. Ich durfte es nicht in den Mund nehmen, es war tabu, sofort hat sie angefangen zu schreien. Und dann ging das mit ihren Affären los. Sie hat mit mehreren Männern was angefangen und war auch sonst viel weniger zu Hause. Angeblich war gerade zu diesem Zeitpunkt ihr volles Engagement im Job verlangt. Sie hat nur noch über ihren Beruf gesprochen. Unsere Zukunft war kein Thema mehr. Bis ich ihr dann klar gesagt habe, sie müsse sich jetzt sofort wieder besinnen, sonst würde ich mich scheiden lassen.«

Ruhige und aufregende Zeiten

Damit an dieser Stelle kein Missverständnis entsteht: Krisen sind der Indikator und das Schwungrad von Entwicklungen, und dennoch kann es natürlich gute Gründe geben, über Vertrautes nicht hinauszugehen und Konflikte zu vermeiden. Selbst gesteckte Grenzen sind nicht automatisch Ausdruck von Erfahrungsdefiziten. Treue fußt etwa auf freiwilliger Begrenzung. Insbesondere in Verbindung mit einer erfüllten Sexualität ist Treue ein erheblicher Wohlfühlfaktor und erhöht das Empfinden, dass es der Beziehung an nichts mangelt.

Umgekehrt ziehen viele, die etwas vermissen, das Fremde schneller der gewohnten Heimat vor. Eifersucht auf mögliche Nebenbuhler und sexuell Erfahrene ist daher beileibe kein Hirngespinst. Je mehr Willkommenes eine Beziehung enthält, desto weniger kommt es zu neidvollen Blicken und Motiven, die sich im Außen erfüllen wollen. Die gute Balance zu finden zwischen einengender Moral und der potenziellen Freiheit individuellen Handelns, zwischen meinen und deinen Bedürfnissen, zwischen Gewohntem und Unbekanntem ist für die Praxis der Liebesbeziehung essenziell.

Selbstverständlich stimmt aber auch die Binsenweisheit, dass eine Beziehung nicht für alles aufkommen kann und nicht immer anregend ist. Sonst käme es gar nicht zu Defiziten, Konflikten und Krisen. Die Lust aneinander, die herausgehobene Wertschätzung füreinander und das erkennbare Bemühen um den anderen sind zwar entscheidende Trümpfe, der fühlbare Stoff, aus dem sich Bindungen momentan vorwiegend festigen. Die besondere Herausforderung heutiger Paare liegt aber darin, ihren Bestand nicht nur mit emotionalen Mitteln zu sichern, sondern immer wieder auch neue Wege zu suchen, die das Alte und Gewohnte stören. Das bekannte Terrain muss ab und an einer kritischen Inventur unterzogen werden.

Das war früher beileibe nicht so wichtig. Hinter den Ehen der Vergangenheit standen weniger die liebevollen Gefühle der Eheleute und die Hinterfragung des eigenen Lebenskonzepts als mächtige Familientraditionen, die zur Begründung und Fortbestand einer Beziehung verpflichtet haben. Der Anker der modernen Paarbeziehung liegt auf der persönlichen Bevorzugung des anderen und dem freiwilligen Spiel zu zweit.

Wenn zwei sich mit dem Herz finden, dann führt das anfänglich zu einer fröhlichen Anarchie. Die leidenschaftliche Liebe ist dann anfangs normalerweise ein sinnlicher Selbstläufer. Längerfristig bedarf es zum Gelingen aber auch heute einer höherrangigen Ernsthaftigkeit. Dabei ist es im Grunde egal, ob es weitere sinnstiftende Perspektiven neben der Liebe gibt, wichtig ist vielmehr, ob für den gemeinsamen Weg genügend Motivation existiert. Beispielsweise kann das Engagement eines Paares für ökologische Lebensthemen, an sich ein löbliches Unterfangen, als Bereicherung erfahren werden oder am Wohlbefinden zehren, je nachdem, wie es die Beziehung beeinflusst. Gemeinsame Anstrengungen stärken nicht automatisch eine Beziehung. Das folgende Beispiel zeigt, wie die Entwicklung der Beziehung aber auch von der Überwindung einer individuellen Krise profitieren kann.

Ein erfolgreicher Industrieller erleidet kurz nacheinander mehrere Herzinfarkte. Der behandelnde Arzt warnt davor, das bisherige Leben ungebremst fortzusetzen, sonst könne er für nichts mehr garantieren. Nach dem sich der Patient eindringlich mit seiner Frau beraten hat, beschließt das Ehepaar, die Zelte in Deutschland abzubrechen, nach Namibia auszuwandern und dort ein neues Leben anzufangen. Die beiden sind zu diesem Zeitpunkt bereits Mitte fünfzig. Man erwirbt ein Stück Land und baut sich ein Haus und lebt zurückgezogen. Von Anfang an sind sie überzeugt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Bald erkennen sie auch, dass in der neuen Heimat einiges im Argen liegt, und gründen eine Ausbildungsstätte für junge Frauen. Diese ist bald so erfolgreich, dass sie heute als Vorzeigeprojekt gilt. Das Paar hat zu einem eher ungünstigen Zeitpunkt des Lebens einen Neuanfang gewagt und viel gewonnen. Nach einem erfüllten Leben sterben Mann und Frau im hohen Alter kurz hintereinander.

 

Grenzen und Grenzgänge

Meiner Meinung nach kommt eine tragfähige Beziehungsethik erst nach der Erfahrung leidenschaftlicher Grenzgänge zustande. Nur wer sich erforscht und dabei auch in zweifelhafte Bereiche gerät, erfährt den Sinn selbst gewählter Grenzen, spürt das Gute an der Vertiefung und das Ungute der Untiefen. So beackert die Leidenschaft unter Risiken, Scham- und Schuldgefühlen der Beteiligten den ästhetischen Grund einer langfristigen Beziehung. So wie man eine fremde Kultur nicht kennen lernt ohne zu reisen, so schafft man sich kein leidenschaftliches Zuhause, ohne seine Unschuld und Naivität aufzugeben.

Das gemeinsame Liebesleben verlangt Unbedachtheit und Entdeckergeist, die lustvolle Neugier, hinter den blassen Spiegel des Bekannten schauen zu wollen. Mögliche Verwicklungen löst man nicht, weil man erst gar keine Fehler begeht, sondern durch nachträgliche Korrekturen und Reue. Die Praxis der Liebe kommt ohne eine ausgeprägte Kultur der Wiederbelebung und Entschuldung nicht aus, denn Leidenschaft will vorwärts. Verstand und Moral sollen das Unvereinbare dabei so gut es geht in Bahnen halten. Und gelingt es nicht immer, muss man den Fehlern ins Auge sehen und mitunter auch Buße tun. Das hilft.

Aber selbst die ausgeklügeltste Kultur liebevollen Umgangs schützt uns nicht vor Blödsinn und Problemen. Beziehungen erfüllen schließlich nicht jede Sehnsucht und jedes Bedürfnis. Die konfliktträchtige Ausgangslage und der voranschreitende Wandel bescheren von Zeit zu Zeit Situationen, die sich zu Krisen auswachsen. Anders ausgedrückt: Egal welche Kompetenzen ein Paar besitzt und in welchem Zustand sich die Beziehung aktuell befindet, wenn einmal die Zeit reif und das bisher Bewährte überholt ist, stellt sich automatisch eine Notlage ein, der man nicht deshalb entgehen kann, weil man sich für schlauer, besonnener oder sogar krisenfes ter wähnt als andere. Krisen sind ein unvermeidliches Signal für das anstehende Ende des Alten. Sie erfordern einen anderen Blick und neue Herangehensweisen.

Krisendynamik und Veränderung

Im Folgenden interessieren uns daher nicht vordringlich die Inhalte möglicher Konflikte und Probleme, sondern eine zugespitzte Beziehungsdynamik, die darauf hindeutet, dass es Zeit wird für Änderungen des Paares. Wie jede Entwicklung verläuft auch die Krise nach einer linearen Choreografie, die sich als Krisenablauf auf allen Entwicklungsstufen einer Beziehung wiederholen kann.7

Abbildung 1 veranschaulicht modellhaft, wie sich eine Krise anbahnt und wie sie sich auswirkt. Es ist prinzipiell sinnvoll, das eigene Krisenmanagement durch das Wissen um das Besondere von Krisenverläufen anzureichern. Wer seine Krisenmuster kennt, verfügt über die Signatur seiner wichtigsten Erfahrungen und kann sich adäquater auf belastende Herausforderungen einstellen. Dann wundern die Dinge, die passieren, weniger.


ABB. 1: DER PSYCHOLOGISCHE KRISENVERLAUF UND THERAPEUTISCHE OPTIONEN (→)

Atmosphären, Gefühle und Umgangsformen – praktisch jeder Zustand und jedes Stadium einer Beziehung sind von vorübergehender Natur. Das meiste hält sich länger als anderes, manches scheint immer gleich zu bleiben, verschiedenes hängt vom Alter der Beteiligten ab, auch von sozialen Umständen, und allerhand findet nur kurzfristig statt. Jedes Paar pegelt sich auf eine bestimmte Weise aufeinander ein. Das geht so lange gut, bis irgendwann ein Zustand erreicht ist oder Ereignisse eintreten, die das momentane Selbstverständnis in ein ungewohntes Licht rücken.

Gelingt es nicht, der Störung in gewohnter Weise Herr zu werden, spitzt sich das Querstehende zu. Die Atmosphäre wird angespannt, es folgen polarisierende Auseinandersetzungen zwischen den Beziehungspartnern. Meist drängt der eine mehr auf Erneuerung und der andere verteidigt den Status quo. Das Paar steht vor der Frage, was es bereit ist zu ändern. Lässt das Problem keine Kompromisse zu, läuft die Sache auf eine grundlegende Wandlung hinaus. Etwas, das Bisherige, nunmehr hinderlich, muss aufgegeben werden. Man ist gezwungen, von Gewohnheiten abzulassen, um wieder Bewegung in die festgefahrene Situation zu bringen.

Dem steht aber das vertraute Selbstverständnis gegenüber, das weiterhin kräftig am Alten klammert. Dadurch lädt sich ein Konflikt zur Krise auf. Prinzipiell vertiefen sich Krisen, weil trotz einer manifesten Problemstellung mehr Energie in die Aufrechterhaltung des Bekannten gesteckt wird, häufig aus der Angst heraus, eine Auflösung der Gewohnheiten nicht zu bewältigen. Es fehlt zu diesem Zeitpunkt noch die Zuversicht für neuartige Schritte. Wo zu wenig Absicht ist und kein Vertrauen in das Ungewohnte, stellt sich meist erst dann eine Lösung ein, wenn die eintretende Krise nicht mehr ausgehalten wird. Aber im Aushalten unterscheiden sich die Menschen. Manche halten ein Leben lang aus, was andere nicht einen Tag akzeptieren würden.

Aufzugeben – unabhängig, wie das zustande kommt – ist das Wagnis und der energetische Wendepunkt. Erst im Loslassen und Sich-der-Situation-Überlassen zeigt sich der tiefste Grund einer Krise und füllt sich die abgesoffene Bewegungsunfähigkeit mit neuer Energie auf. Dann kann sich psychisches Leid mit neuer Kraft in eine risikoreiche Chance verwandeln. So merkwürdig es klingen mag, das Blatt wendet sich in einer Krise durch Hingabe an die Situation und manchmal auch erst durch Aufgabe. Plötzlich kommt frischer Mut in die Starre und Depression, das Kommende wird zur spannenden Herausforderung. Fraglich ist allerdings bei Zweien, ob das Paar zusammen oder nur einer von beiden die Sache in die Hand nimmt. Einer bekommt dann unter Umständen auch die Kraft, sich zu trennen, wenn es zusammen nicht vorwärts geht.

Wird die zunächst ausweglose Situation angenommen und blickt man wieder neugierig nach vorne, gerupft und zuversichtlich zugleich, kann man Hilfe vertragen. Jetzt braucht es auch Unterstützung, nicht zuletzt vom Partner, sofern ich ihn noch an meiner Seite weiß. Dann muss man langsam lernen, mit dem Neuen umzugehen, das Neue im Alten zu integrieren. Dann kann es wieder eine Zeit lang gut so weitergehen, solange es so hält. Bis erneut etwas eintritt, dass zum Umdenken zwingt.

Mitten in der Krise steht noch nicht fest, ob es zu einer Entwicklung kommt. Mittendrin kann man immer noch aus dem Prozess ausscheren. Man kann vor der Situation flüchten, Operationen können misslingen, Leiden kann chronifizieren, es kann schlecht ausgehen. Eine Krise ist nur der unweigerliche Hinweis, dass etwas zusammengebrochen ist, unter Umständen sogar ein Ende gefunden hat und es noch an neuen Mitteln und Perspektiven fehlt, sich wieder aufzurichten. Häufig genug ergibt sich daraus nur dann eine Entwicklungschance, wenn die eingetretene Dynamik nicht mehr aufzuhalten ist und man gezwungen ist hinzunehmen, was nicht länger vermieden werden kann.

Im Film The Mission (mit Robert de Niro und Jeremy Irons; Regie: Martin Scorsese) schleppt ein Missionar aus Buße ein riesiges Kreuz durch den Dschungel. Dann lässt er sich von Indianern darauf festbinden und in einen Fluss werfen. Bewegungsunfähig treibt er auf dem Holzkreuz auf einen Wasserfall zu und stürzt hinunter.

Die Szene ist eine Metapher für den beschriebenen Krisenprozess. Die Wandlung beginnt, wenn die bisherigen Kräfte nicht mehr ausreichen oder aufgewendet werden, das Bevorstehende zu verhindern. Darin liegt die eigentliche Transformation von der Krise zur Chance. Wie der Film zeigt, fühlt es sich mitunter an wie auf Leben und Tod und natürlich können Dinge gründlich schiefgehen. Bleibt jemand dem Alten verhaftet, aus welchen guten oder wenigen guten Gründen auch immer, blockiert er anstehende Entwicklungen. Manchmal trägt es dann nicht weiter und geht zu Ende.

Was das Paar selbst und was Therapeuten von außen zur Lösung beitragen können, hängt – wie das Schaubild zeigt – davon ab, zu welchem Zeitpunkt sich ein Paar beraten lässt und in welchem Zustand beziehungsweise in welcher Entwicklungsphase (vgl. Kapitel 1 bis 5) sich die Partner befinden. Dies soll in den folgenden Abschnitten ausführlich dargestellt werden.

Leseempfehlung

Adorno, T. W. (2002): Minima Moralia. Suhrkamp, Frankfurt/M.

Brett, L. (2006): Ein unmögliches Angebot. Suhrkamp, Frankfurt/M.

Brett, L. (2007): Chuzpe. Suhrkamp, Frankfurt/M.

Brett, L. (2012): Lola Bensky. Suhrkamp, Berlin

Fuhr, R. (1998): Persönlichkeitsentwicklung und Gestalttherapie. In:

GestaltZeitung, 11. Ausgabe, 3-10

Gennep, A. van (1999): Übergangsriten. Campus, Frankfurt/M.

Karl, M. (2011): Noch ein Martini und ich lieg’ unterm Gastgeber. Residenz, St. Pölten

Klöckner, D. (2001): Übergangsphasen – Zur Kulturanthropologie gestalttherapeutischer Prozessmodelle. In: GESTALTTHERAPIE, 15. Jg., H. 2

Klöckner, D. (2007): Phasen der Leidenschaft. Klett Cotta, Stuttgart Perls, F. / Baumgardner, P. (1990): Das Vermächtnis der Gestalttherapie. Klett Cotta, Stuttgart

Retzer, A. (2002): Passagen. Systemische Erkundungen. Klett Cotta, Stuttgart

Roth, H. (2011): Der Amerikaner, Hoffmann und Campe, Hamburg

Schopenhauer, A (1997): Die Welt als Wille und Vorstellung. 1. und 2. Band zu je 1. und 2. Teilband, Könemann, Köln.

Turner, V. (2000): Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Campus, Frankfurt/M.

Entwicklungen und Verwicklungen

Wem nie durch Liebe Leid geschah,

dem ward auch Lieb’ durch Lieb’ nie nah;

Leid kommt wohl ohne Lieb’ allein,

Lieb’ kann nicht ohne Leiden sein.

Gottfried von Straßburg

Liebesbeziehungen sind voller Fallstricke, in denen man sich verheddern kann, und voller Untiefen, an denen man Scheitern kann. Das Leiden an der Liebe hängt entscheidend davon ab, wie gut oder schlecht es uns gelingt, gegensätzliche Gefühlslagen zu befrieden und den Beziehungspartner bevorzugt zu behandeln. Das wird nicht durchgehend zu schaffen sein. Oft geht man sich selbst vor und oft ist man zu kleinkariert. Manche Bürde ist nur mit letzter Kraft zu meistern, und dabei kann der andere aus dem Blick geraten.

Die Liebe beruht aber auf der zugewandten Einstellung, und dazu ist von Zeit zu Zeit nötig, sich ›dir zuliebe‹ den unbeachteten, vernachlässigten und gemiedenen Inhalten zu stellen. Manchmal wird man der Beziehung wegen über sich hinaus wachsen müssen. Jeder Mensch und jedes Paar besitzt natürlich Gedulds- und Kompetenzgrenzen. Die gilt es in Erfahrung zu bringen und sich nicht davor zu drücken. Viel mehr Pflege verlangt die Liebe eigentlich gar nicht, aber das schon und unter allen Umständen; und dabei wird’s schnell eng.

Wie im vorigen Kapitel dargestellt, entstehen Krisen aus unbefriedeten Konflikten und bohrenden Grenzverletzungen, entspringen persönlichen Unterschieden und erwachsen aus der Tatsache, dass die Dinge des Lebens nicht auf ewig gleich bleiben. Die Frage ist also nicht, ob ein Paar es schafft, sich ›treu zu bleiben‹, was in dem Falle bedeuten würde, ein unvergängliches Liebesmuster aufrecht zu erhalten; die Frage ist vielmehr, in welche Richtung es langfristig abweicht und wie es auf seine dabei auftauchenden Themen und Entwicklungen reagiert.

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