Blutsbande

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Sari: Lindemanns #208
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„Es erwartet Sie das andere Deutschland, das aber nicht so ist, wie es von der gelenkten imperialistischen Presse dargestellt wird. Wir sind ein demokratischer Staat und die internationale Solidarität aller friedliebenden Staaten liegt uns besonders am Herzen. Wir freuen uns, wenn wir Sie und die Welt von unseren guten Absichten überzeugen können.“

„Ich möchte mich gern etwas frisch machen. Zum Gedankenaustausch haben wir sicherlich noch ausgiebig Gelegenheit.“

„Aber natürlich, entschuldigen Sie, dass ich nicht daran gedacht habe und Sie gleich mit Worten überfallen habe. Das zeigt aber doch, wie sehr ich mich auf Ihren Besuch gefreut habe. Ich lasse Sie in Ihre Zimmer bringen. Wäre es Ihnen Recht, wenn wir uns in einer Dreiviertelstunde im Salon wieder treffen?“

„In Ordnung, also um 16 Uhr 30.“

Das Gästehaus der Stadt Halle war komfortabel eingerichtet, wenn auch etwas kleinbürgerlich. Odenwald fühlte sich um Jahrzehnte zurückversetzt, eher in die Wohnstube der Großmutter als in ein modern eingerichtetes Domizil. Es roch nach Desinfektionsmittel und Bohnerwachs, was nicht den Eindruck minderte, dass alles etwas vernachlässigt und heruntergekommen wirkte. Kein Hotel der Mittelklasse in der Bundesrepublik hätte seinen Mitarbeitern eine solch schlampige Reinigung durchgehen lassen. Hier schien in der Tat der Arbeiter mehr Herrscher als Knecht zu sein.

Ein mürrischer Werktätiger führte ihn die Treppe hinauf in die Beletage der Villa, ohne ihm anzubieten, den Koffer für ihn zu tragen, was er natürlich abgelehnt hätte, und öffnete ihm das ihm zugewiesene Zimmer. Odenwald traute seinen Augen nicht, denn mitten in dem sehr geräumigen Raum mit herrlichem Blick auf die Saale stand eine Duschkabine. Schüssel und Wände waren aus echter DDR-Plasteproduktion, und weder ihre Konstruktion noch ihr Erscheinungsbild schienen ihm geeignet, als Ausstellungsstück einem offiziellen Gast präsentiert zu werden. Niemand im Westen konnte an diesem Meisterwerk der DDR-Produktion auch nur den geringsten Gefallen finden. Odenwald fragte sich, was für einen Grund es geben könnte, eine Dusche mitten in ein Zimmer zu bauen.

Er musterte die übrige Einrichtung: das Mobiliar hatte den Charme der typischen VEB-Produktion, schmucklos, funktional und ohne jede handwerkliche Qualität, die sein damals in einfacheren Etablissements noch durchaus gängiges westliches Pendant, das Gelsenkirchener Barock, auszuzeichnen pflegte. Die Schubladen ließen sich nur mit Anstrengung öffnen und die Schranktüren quietschten. Die Auslegeware des Fußbodens war vorschriftsmäßig mit WofaSept desinfiziert.

Um 16.30 Uhr traf man sich im Salon des ehemals herrschaftlichen Hauses und nahm ein Glas Rotkäppchensekt zu sich. Es waren noch andere Herrn und auch einige Damen gekommen, die sich dem Bürgermeister zwar vorstellten, deren Namen er aber umgehend vergaß.

Bevor das Essen serviert wurde, hielt Bürgermeister Schreiner eine kleine Begrüßungsansprache und brachte einen Toast auf den Staatsratsvorsitzenden und die Städtepartnerschaft aus. Bürgermeister Odenwald erwiderte in gesetzten Worten, ohne jedoch seinerseits den Bundeskanzler oder gar den Bundespräsidenten zu erwähnen. Er wollte damit deutlich machen, dass die Stadt Karlsruhe und ihr Oberbürgermeister aus eigener Souveränität heraus die Partnerschaft beschlossen hatten.

Sehr bald wurde zu Tisch gebeten, obwohl erst später Nachmittag war. Odenwald hatte den Eindruck, als fühlten sich seine Gastgeber gedrängt, und er überlegte, ob auch die Nomenklatura auf die Einhaltung der Dienstzeiten Wert lege, damit deren Mitglieder sich am Feierabend um ihre Familien kümmern könnten. Seine Gastgeber peitschten ihn förmlich durchs Essen; der nächste Gang wurde bereits aufgetragen, bevor der vorherige beendet war. Dennoch betonte Bürgermeister Schreiner immer wieder, man habe den ganzen Abend Zeit für Gespräche.

Überraschenderweise war auch Herr Roth geladen und wurde ebenso zu Tisch gebeten wie die hohen Funktionäre und die Bürgermeister, wenn auch nicht an einen besonders exponierten Platz. Das war in der Bundesrepublik nicht üblich; offenbar waren Klassenschranken im Osten radikaler abgebaut worden.

„Warum essen wir denn so früh und in einem solchen Tempo?“, flüsterte Odenwald seinem Fahrer zu, als er einmal kurz zum Luft holen seinen Stuhl verlassen konnte.

„Aber Herr Bürgermeister, das ist doch klar; wir sind hier in einem Arbeiterstaat und das Küchenpersonal und die Bedienung wollen, nein, sie müssen Dienstschluss haben, bevor die HO-Läden leergekauft sind. Ich bin davon überzeugt, dass die Funktionäre mit gutem Beispiel vorangehen müssen, wenn es um die Rechte der Werktätigen geht.“

„Ihnen scheint das System hier zu gefallen!“

„Dass man die Bedürfnisse von uns einfachen Leuten respektiert und das Servicepersonal überhaupt wahrnimmt, das finde ich schon positiv. Ich könnte mich dran gewöhnen.“

„Ich hatte keine Ahnung von Ihrer Begeisterung für den real existierenden Sozialismus.“

„Ich bisher auch nicht.“

Trotz der Hast wurden im Laufe des Essens mehrere Trinksprüche formuliert, welche sowohl die unerschütterliche Freundschaft zur Sowjetunion betonten als auch die Offenheit gegenüber Andersdenkenden. Die Bürger der DDR hatten sich, was die Tischreden anbelangt, ihrem großen Brudervolk angepasst und am Ende des Dinners gab es keinen männlichen Gast, der nicht eine belanglose Mitteilung geäußert hätte. Nur Roth weigerte sich standhaft, den Wünschen seiner Gastgeber nachzukommen und auch etwas zu sagen. Er war noch nie öffentlich aufgetreten und hatte auch nicht vor, dies zu ändern.

Das Essen war für den Genießer Odenwald, der selbst gerne kochte und als Feinschmecker bekannt war, eine Qual. Von der allgemein beklagten Mangelversorgung war zwar nichts zu spüren, aber die Zubereitung der Speisen erinnerte ihn an die 50er-Jahre. Die Suppe war ungenießbar, lauwarm und nicht gewürzt. Die Gemüse waren völlig verkocht und mit einer undefinierbaren Soße übergossen, die mittels einer Mehlschwitze eingedickt worden war. Und er hörte zum ersten Mal in seinem Leben den Begriff „Sättigungsbeilage“, unter dem die DDR-Küche alle Bestandteile einer Mahlzeit subsumierte, die nur die Aufgabe zu erfüllen hatten, dass der Gast satt werde. Das Fleisch war völlig durchgebraten und zäh. Der Nachtisch bestand aus einer glibberigen Masse ohne Geschmack, die aussah, als käme sie auf direktem Wege aus Leuna. Die Weine waren trinkbar, aber viel zu süß, weshalb er um Bier bat. Das schmeckte, denn es war die Premiummarke der Republik, die nur den Kadern angeboten wurde. Der Wodka als Digestiv war ausgezeichnet. So wurde der anspruchsvolle Gaumen am Ende beruhigt.

Die Tischgespräche waren belanglos und unterschieden sich nicht von denen, die er im Westen tagtäglich mit Mitbürgern zu führen hatte; Persönliches kam nicht zur Sprache und Odenwalds Fragen über das alltägliche Leben in der DDR wurden nichtssagend beantwortet. Jeder versuchte nett zu dem Gast zu sein, war aber auf der Hut, dem Klassenfeind nicht etwa Einblick in die eigene Befindlichkeit, geschweige in seine Gedanken und ins Herz zu gewähren.

Dem Bürgermeister war rasch klar, dass er durch seinen Besuch kein wirkliches Bild von der Situation in der DDR würde gewinnen können. Er konnte sich nie alleine und unkontrolliert bewegen, und die Gastgeber umfuhren offenbar stets bewusst gewisse Stadtteile auf dem Weg durch die Innenstadt.

Die Hallenser, die wenigen, mit denen Odenwald in Kontakt kam, waren äußerst zuvorkommend und zeigten sich auch offen in Gesprächen; leichte Kritik an der Staats- und Parteiführung der DDR war zwar nicht in klaren Worten, aber in versteckten Anspielungen zu vernehmen. Er hatte erfahren, dass die DDR in der Welt führend sei in Planung und Bau von Plattenbauten, die ohne Zweifel die Zukunft des Wohnungsbaus weltweit revolutionieren und der DDR eine exzellente Ausgangslage auf dem Weltmarkt eröffnen würden; er musste sich, obwohl zu Hause nicht für Bau- und Städteplanung zuständig, einige dieser Exemplare in Halle-Neustadt ansehen. Ihm gefielen die Platten nicht, auch wenn seine Betreuer versicherten, dass die Bevölkerung in die Objekte drängte und nichts lieber täte, als aus alten Häusern, von denen es viele gab, in die neuen, hellen, zentral beheizten Wohnungen einzuziehen. Sie seien die Keimzelle der sich entwickelnden sozialistischen Gesellschaft.

„Wenn die sozialistische Gesellschaft in solchen Wohnsilos hausen wird, dann kann ich auf diese Zukunftsperspektive verzichten und bleibe lieber im Einflussbereich des Kapitalismus“, raunte Odenwald seinem ihn begleitenden Fahrer zu.

„Von einem Liberalen hätte ich auch nicht erwartet, dass ihn die Lebensumstände in der DDR in die Arme des Kommunismus treiben würden“, antwortete Roth grinsend.

Über konkrete Maßnahmen für eine west-östliche Zusammenarbeit wurde nicht gesprochen. Auch wurden Themen gegenseitiger Besuche von Gruppen von Bürgern oder Sportvereinen betreffend vermieden oder auf die Gesetzeslage verwiesen, die eben gewisse Einschränkungen bedinge. Als einziges konkretes Projekt wurde angesprochen, man könne sich eine Kooperation in Fragen der Medizin vorstellen und habe Interesse an medizinischen Hilfsmitteln.

Im Ganzen gesehen war der Besuch wenig erfolgreich und Odenwald war froh, als er das ungastliche Land jenseits von Mauer und Stacheldraht wieder verlassen konnte.

„Es lässt sich gut leben im Südwesten der Bundesrepublik, und ich bin froh, dass es mich ins Ländle verschlagen hat“, dachte er, als er sich auf dem Rücksitz seines Dienstwagens zurücklehnte und seinem Fahrer bedeutete, vorsichtig und langsam zurück an den Rhein zu fahren.

7

Prof. Heinrich Valentin ließ sich über die Befunde Bericht erstatten, welche bei der Sektion von Opfer Nummer 17 erhoben wurden. Sie entsprachen denen, die bei früher verstorbenen und sezierten Drogentoten gefunden worden waren. Auch der letzte Tote war ein Wrack, gezeichnet vom Leben in der Gosse, dem jahrelangen Drogenmissbrauch und von AIDS. Von dem jungen Mann war nicht viel an Substanz übrig geblieben, so dass der letzte Schuss eher als Erlösung gedeutet werden musste denn als großes Drama, als das die Gesellschaft den Tod in so jungen Jahren gerne sieht. Die Leber war zerstört, wahrscheinlich durch eine Entzündung; es hatten sich Tumore gebildet im Bereich des Unterbauchs und die Lungen waren durch Tuberkulose in einem Ausmaß zerfressen, wie man es in Westeuropa schon seit Jahrzehnten nicht mehr kannte. Es war alles so, wie es in der internationalen Literatur beschrieben und jetzt schon seit einigen Monaten auch den Mitarbeitern des Instituts bekannt war. Nur die Blutbefunde waren anders, höchst auffällig und schwer zu interpretieren.

 

„Sie hatten recht, Herr Professor, der Tote litt unter einer massiven Gerinnungsstörung. Zunächst dachte ich, das sei bei dem Zustand der Leber durchaus erklärlich; Frau Maier-Pfisterer, die neue Laborassistentin, machte mich jedoch darauf aufmerksam, dass die vorliegende Gerinnungshemmung sich so darstelle wie bei einer Heparinisierung. Sie hat dann auch tatsächlich Heparin im Blut des Toten nachgewiesen.“

„Heparin im Blut eines toten Junkies, wie soll das denn möglich sein?“

„Es wird noch rätselhafter, Rother kam auf die Idee ...“

„Nein, nicht schon wieder Rother mit seinen Ideen!“, unterbrach ihn der Chef. „Seine letzten haben mir völlig ausgereicht.“

„Also Rother hat einen Schnelltest gemacht, ob das Blut überhaupt von einem Menschen stammt, – und er hat eine ganz erhebliche Verunreinigung mit artfremdem, wahrscheinlich mit Blut von Rindern festgestellt.“

„Das ist das Verrückteste, was ich je gehört habe. Das kann doch nicht sein!“

„Herr Professor, das habe ich auch gedacht, und ich habe den Test selbst noch dreimal wiederholt mit unterschiedlichen Reagenzien, aber mit demselben Ergebnis. Der Befund ist so ungeheuerlich und abstrus, dass er wahrscheinlich gerichtlich nicht verwertbar ist. Deshalb sollten wir auf eine Klärung durch ein humangenetisches Institut drängen. Ich wollte Sie hierzu um Erlaubnis bitten.“

„Was Sie glauben gefunden zu haben, klingt so unwahrscheinlich, dass ich fürchte, wir machen uns ein zweites Mal lächerlich, wenn wir diesen Auftrag erteilen.“

„Wir müssen nicht erklären, auf welche Weise wir die Probe gewonnen haben. Wir fragen einfach an, ob man uns helfen könne herauszufinden, von welcher Spezies das Blut stammt.“

„Aber die Humangenetiker wissen doch genau, dass das reine Routine bei uns ist; die Fragestellung, ob Blutspuren vom Menschen oder einem Tier stammen, kommt doch täglich vor.“

„Wir behaupten einfach, unsere Tests lieferten in diesem Fall kein eindeutiges Ergebnis – was ja der Wahrheit entspricht – und wir benötigten ausnahmsweise die Hilfe der Genetik.“

„Gut – so können wir es machen. Schicken Sie die Probe zu Müller nach Mainz, den kenn’ ich noch gut aus meiner Zeit in Münster.“

„Unter welcher Fragestellung?“

„Da können wir doch völlig offen sein. Wir berichten, dass unsere Tests den Verdacht ergeben hätten, es liege bei der zugesandten Probe eine Verunreinigung von menschlichem mit tierischem Blut vor. Das wollten wir zweifelsfrei prüfen, um damit vor Gericht bestehen zu können.“

„Und im Übrigen, Herr Professor, rehabilitiert der heute erhobene Befund vielleicht den Rother nach seinem Missgeschick mit dem Artikel in ‚Blood‘ vom vergangenen Jahr“, sagte der Oberassistent im Hinausgehen und ließ Valentin grübelnd zurück.

Mathias Rother war hartnäckig hinter einer Beobachtung her gewesen, die in dieser Form bisher tatsächlich noch nicht publiziert worden war: dem regelmäßigen Auftreten einer mikrozytären, normochromen Anämie bei AIDS-Patienten im Endstadium. Es wäre schon einer wissenschaftlichen Sensation gleichgekommen, wenn aus einem deutschen gerichtsmedizinischen Institut ein hämatologischer Befund erstveröffentlicht worden wäre, den die Internisten jahrelang übersehen hatten. Sein Chef, erfahrener Wissenschaftler, warf ein, dass ein solch ungewöhnlicher Befund den Hämato-Onkologen überall auf der Welt hätte auffallen müssen, denn Veränderungen an den Blut bildenden Zellen ist deren eigentliches Fachgebiet, und die Befassung mit AIDS war ihnen eher zufällig zugewachsen. Aber andererseits machte gerade ein solches Versäumnis die Publikation zur Sensation und die Veröffentlichung der Befunde quasi zur wissenschaftlichen Pflicht.

Der junge Kollege hatte schon recht: Wenn sich die Blutbildung im Rahmen von AIDS regelhaft hin zu kleinen roten Blutkörperchen entwickelt und dies bei normalem Gehalt an Hämoglobin und normalem Gehalt des Serums an Eisen, dann hätte das den Hämatologen auffallen müssen. Aber niemand hatte das Phänomen bisher beobachtet, keiner kannte den Zusammenhang zwischen Erythropoese, also der Bildung der roten Blutkörperchen, und HIV-Infektion – und dennoch war der Befund bei fast allen an AIDS Verstorbenen des vergangenen Jahres eindeutig nachweisbar. Zugegeben, nicht bei allen, aber doch bei zu vielen, so dass ein Zufall statistisch zweifelsfrei auszuschließen war.

Valentin hatte damals Rother erlaubt, die Befunde aufzuarbeiten und darzustellen. Rother hatte in bestem Englisch eine wirklich gute Arbeit geschrieben: Die Methodik war unangreifbar, die Statistik stimmte, die Ergebnisse waren eindeutig, aber mit dem notwendigen und von den Angelsachsen geschätzten Understatement vorgetragen; die Diskussion war zurückhaltend und ohne jede Wertung oder gar Vorwurf gegenüber den Kollegen, denen durch die Arbeit offenbar ein gravierender Fehler hätte nachgewiesen werden können. Alle wichtigen internationalen Vertreter des Fachgebietes waren zitiert, die Ausstriche in sündhaft teuren Farbbildern dargestellt. Das kleine Werk erschien ihm rund und stimmig.

Nach langem Abwägen hatte Valentin dann auch dem Assistenten gestattet, seinen Namen als Zweitautor ins Manuskript aufzunehmen. Dieses war dann, mit Empfehlungsschreiben seines alten Studienfreundes Junkermann, dem man allgemein gute Beziehungen zu den Herausgebern vieler amerikanischer Fachzeitschriften nachsagte, an das Editorial Board von „Blood“, dem offiziellen Organ der amerikanischen Gesellschaft für Hämatologie, geschickt worden in der Hoffnung, ein lange übersehenes Detail als Erste erkannt und veröffentlicht zu haben.

Eine Publikation in einer amerikanischen Zeitung genießt sowohl in Deutschland als auch weltweit ein höheres Prestige, weil sie wesentlich häufiger gelesen und deshalb auch später mehr zitiert wird als z. B. deutschsprachige Artikel. Außerdem saß sein Intimfeind in fast allen wichtigen Herausgebergremien deutscher Magazine und der hätte eine wissenschaftliche Arbeit aus der eigenen Fakultät nicht durchgehen lassen, besonders da es sich um das eigene Fachgebiet handelte und er weder informiert noch in irgendeiner Weise eingebunden gewesen war. Eine gewisse Schadenfreude hätte Valentin sich nicht versagen können, wenn, wie geplant, gerade er als Gerichtsmediziner die überheblichen Hämatologen einer Nachlässigkeit hätte überführen können, was nicht nur seinen Erzfeind in der Fakultät traf, sondern auch dessen gesamte Zunft – und das auf deren eigenem Terrain, in deren eigenem wissenschaftlichen Journal.

Die Antwort aus Philadelphia war prompt gekommen und so direkt und schonungslos, wie dies bei renommierten internationalen Zeitschriften bekannt ist und für Europäer häufig arrogant, ja unverschämt klingt: Alles Nonsens, was Sie da entdeckt zu haben glauben. Die hämatologisch eindeutigen Befunde sind in dieser Form noch nicht erhoben worden, und zwar nicht deshalb, weil die wissenschaftliche Gemeinschaft (will sagen: die amerikanischen Forscher) dies übersehen hätten, sondern weil es solche Befunde gar nicht gibt. Wir können diese Arbeit leider nicht zur Publikation akzeptieren, selbst wenn sie einer völligen Revision unterworfen würde.

„Lieber Kollege, Sie müssen einem Irrtum aufgesessen sein. Möglicherweise ist Ihr Analysegerät defekt oder Sie haben das falsche Material untersucht. Schauen Sie sich Ihre Ausstriche, von denen Sie Fotografien beigelegt haben – zu deren Qualität ich Sie ausdrücklich beglückwünsche – unter dem Mikroskop noch einmal an oder lassen Sie Ihren hämatologischen Kollegen sie noch einmal beurteilen. Die Bilder vermitteln mir den Eindruck, als seien die Erythrozyten in ihrer Morphologie verschieden von normalen menschlichen Erythrozyten oder sie haben sich post mortem entscheidend verändert.“

Valentin war damals zutiefst gekränkt gewesen. Seine Wut hatte sich nicht nur gegen die Redaktion von „Blood“ und gegen die amerikanische Dominanz in Fragen der medizinischen Wissenschaft gerichtet, sondern schloss auch Rother mit ein, der ihn in diese peinliche Situation gebracht hatte. Er hätte ihm nicht nachgeben sollen und – aber das war an die eigene Adresse gerichtet – er hätte seinen makellosen wissenschaftlichen Namen nicht in Zusammenhang bringen dürfen mit einem solchen Misserfolg. Er stand jetzt in den Augen seines Mitarbeiters da wie ein begossener Pudel, und er überlegte, wie er den Unglücksraben auf geschickte Art und Weise loswerden könnte, denn unbefangen würde er mit Rother in Zukunft nicht mehr umgehen können; deshalb wäre es für beide Seiten besser gewesen, der Assistent suchte sich eine andere Stelle.

Dies war aber unter den herrschenden Bedingungen der Medizinerschwemme selbst in der wenig beliebten Gerichtsmedizin fast aussichtslos.

Und andererseits war Valentin ja von seinem jüngsten Assistenten durchaus angetan. Dieser hatte neuen Schwung ins Institut gebracht und hatte auf das erlahmende Interesse der etablierten Assistenten und Oberassistenten an wissenschaftlichen Fragen durchaus belebend gewirkt. Rother war neugierig, hatte Biss und erinnerte den alternden Chef in vielen Aspekten an seine eigene Assistentenzeit. Es steckte durchaus Potenzial in diesem jungen Mann, und es wäre ein Verlust, wenn das Institut einen solchen Mitarbeiter verlieren würde, der sich wirklich für das Fach zu interessieren schien und nicht nur deshalb in der Gerichtsmedizin gelandet war, weil er sonst nirgendwo unterkam. Die Arbeit im Institut stellte für ihn keine Parkstelle dar, von der man abspringt, sobald sich ein besseres Angebot auftut. Von solchen Assistenten hatte er schon viele kommen und gehen gesehen, und dieser Zustand hatte ihn mehr und mehr belastet. Er hatte resigniert und sich damit abgefunden, dass die Internisten immer hoch motivierte Assistenten zur Auswahl hatten und er nur die Leute bekam, die kein anderer hatte haben wollen. Dies sollte sich mit Rother endlich ändern, und nun fuhr der für ihn und das Institut diesen Misserfolg ein, und das gerade vor den Augen der Hämatologie. Der „Kollege“ Baron von Ferner war auf direktem Wege von den Herausgebern informiert worden, denn diese Hämatologenbande hing ja wie die Kletten zusammen. Er fühlte sich gedemütigt und vor der gesamten Fakultät lächerlich gemacht, denn natürlich hatte Ferner allen Kollegen sofort von diesem Misserfolg erzählt.

8

Das Interesse Sylvies an Mathias beschränkte sich offensichtlich ausschließlich auf dessen Körper. Sie fragte gelegentlich nach, wie er sich fühle, brach das Gespräch aber regelmäßig ab, wenn es um andere Dimensionen seiner Person als die körperliche ging. Sie erkundigte sich nie nach seinen Gefühlen, das Thema Liebe vermied sie und über Familie und Freunde wollte sie auch nichts wissen. Zum Thema Glaube und Religion hatte sie keinen Zugang, weigerte sich das Wort „Gott“ überhaupt auszusprechen.

Zunächst fand Mathias diese Haltung ganz in Ordnung, denn es schmeichelte ihm durchaus, dass eine attraktive und in Liebesdingen erfahrene Frau ihn körperlich so anziehend fand, dass sie darüber den Rest seiner Persönlichkeit völlig übersehen konnte. Ihre Fixierung auf das Körperliche erklärte er sich aus der Sozialisierung seiner Geliebten, ihrer Ausbildung, ja Abrichtung auf sportliche Höchstleistungen und aus der frühen Trennung von den Eltern, die keine emotionalen Bindungen hatte entstehen lassen.

Als sie wieder einmal klagte, sie sei das ungewollte Kind einer ehrgeizigen Mutter gewesen, begann Mathias über seine eigene Familie einige Worte zu verlieren.

„Meine Eltern haben mir immer wieder erzählt, wie sehr sie sich auf mich gefreut haben. Obwohl der eine oder andere wohlmeinende Verwandte manchmal etwas anderes andeutete, bin ich sicher, dass ich ein Wunschkind war.“

Da irrte Mathias Rother aber. Er wurde am 23. Februar 1961 als ältester Sohn des praktischen Arztes Dr. Friedrich Rother und dessen Ehefrau Maria, geborene Gerlach, in Horb am Neckar geboren. So die offizielle Lesart, aber eigentlich war er nicht das Produkt aus dieser Ehe, sondern deren Anlass. Dr. Friedrich Rother hatte sich nach dem Studium im nahen Tübingen und einer Weiterbildung am Hospital zum Heiligen Geist, dem Städtischen Krankenhaus der Stadt, in seiner Heimatstadt niedergelassen und eine Praxis gegründet. Im Krankenhaus hatte er die Krankenschwester Maria kennen und lieben gelernt – auch dies die offizielle Lesart oder das, was Vater und Mutter Rother ihrem Sohn mit auf den Weg gaben. In Wirklichkeit war die Geschichte für die katholische Kleinstadt mit ihren damals 5.000 Einwohnern ein gesellschaftlicher Skandal.

 

Maria stammte aus sehr einfachen Verhältnissen und war im Krankenhaus als unnahbar und äußerst sittenstreng bekannt. Sie kam, im Gegensatz zur Mehrheit der Bevölkerung, aus einer pietistischen Familie von der Schwäbischen Alb. Und plötzlich, für alle, auch für Friedrich Rother völlig unerwartet, war Maria schwanger und forderte den mutmaßlichen Vater auf, sie nun sofort zu heiraten. Der Assistenzarzt Dr. Friedrich Rother konnte zwar nicht leugnen, dass er der Vater des werdenden Kindes hätte sein können, aber er war wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass eine erfahrene Krankenschwester zu verhüten wisse, zumal die junge Frau doch nicht so sittenstreng zu sein schien, wie es ihr nachgesagt wurde; sie war bei ihrem ersten und einzigen intimen Zusammensein während eines gemeinsamen Nachtdienstes im Krankenhaus mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr im Stande der Jungfräulichkeit gewesen. Vater Rother wollte zunächst die Vaterschaft nicht anerkennen, aber das brachte die Oberin des Hospitals zum Heiligen Geist auf den Plan, und diese machte dem Jungarzt gehörige Vorwürfe, dass er ihre sittsame und unschuldige Mitarbeiterin verführt habe, und es würde mit der sofortigen Kündigung geahndet, wenn er sich jetzt aus seiner Verantwortung stehle.

Das war die eine Seite der Geschichte. Die andere war das Problem der Mischehe, das, in weiten Teilen Deutschlands ad acta gelegt, im Neckartal und besonders im kleinstädtischen Horb auch Anfang der 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts noch durchaus relevant war. Ein gläubiger Katholik und eine gläubige Pietistin stellten eine Verbindung dar, die hier nicht nur von den Kirchenoberen als des Teufels angesehen wurde; in der Tat konnte das zur gesellschaftlichen Katastrophe ausarten. Auch für Friedrich Rother und besonders seine weit verzweigte und in der Stadt fest verwurzelte Familie war eine solche Verbindung undenkbar. Andererseits gab es da nicht nur die Drohung der Oberin, es gab auch die bürgerliche Konvention: Schwängerte ein junger Mann eine junge Frau, dann musste geheiratet werden, gleichgültig, ob sich die zukünftigen Ehepartner liebten oder nicht.

Der Konflikt schien unlösbar bis die Schwangerschaft nicht mehr zu verheimlichen war und Maria, wie in den meisten solcher Fälle, in der Frage der Religion nachgab; sie hatte einfach die schlechteren Karten gezogen und die Zeit drängte. Es wurde also vereinbart, dass die Ehe vor einem katholischen Priester geschlossen würde, das Kind auf jeden Fall katholisch getauft und erzogen würde und Maria – das bedeutete den absoluten Bruch mit der eigenen Familie – konvertierte. Die Rother-Sippe siegte sozusagen auf ganzer Linie und Maria musste sich fügen, wenn sie nicht auf ewig der Schande ausgesetzt sein wollte, Mutter eines unehelich geborenen Kindes zu sein. Solche „gefallenen Mädchen“ fanden damals in pietistischen Kreisen keinen ehrlichen Ehemann mehr, und es war noch nicht lange her, dass Bauerntöchter ein Leben lang als einfache Mägde auf dem heimischen Hof arbeiten und beim Gesinde oder im Stall schlafen mussten. Auch deren unschuldige Kinder waren ein Leben lang geächtet.

Mathias machte Sylvie den Vorschlag, sie könnten einmal gemeinsam seine Eltern besuchen, aber davon zeigte sie sich nicht begeistert. Er kam nicht wieder darauf zurück. Er erkannte die Zurückweisung nicht als solche, weil die körperlichen Expeditionen in seiner neuen Beziehung so überwältigend waren, dass er alle ihre anderen Aspekte als nebensächlich ansah. Sylvie war für ihn da, ganz und gar, und sie wollte offenbar diese Beziehung durch nichts gestört oder überlagert sehen. Diese Absolutheit machte ihn glücklich, denn eine solche Bedingungslosigkeit hatte er in noch keiner Beziehung erleben dürfen.

9

Die Ostpolitik der Bundesrepublik, von Willi Brandt und seiner SPD/FDP-Koalition Anfang der siebziger Jahre eingeleitet, wurde nach dem Sturz seines Nachfolgers Helmut Schmidt von der Regierung Helmut Kohl und dessen CDU/FDP-Koalition weitergeführt. Garant für die Konstanz in der bundesdeutschen Außenpolitik war Außenminister Genscher, der bekanntlich beiden Regierungen in gleicher Funktion gedient hat. In der Sowjetunion und allen Ostblockstaaten – die DDR ausgenommen – machten sich ab 1986 Glasnost und Perestroika breit, und Michael Gorbatschow betrieb aus wirtschaftlichen Gründen die Beendigung der andauernden Konfrontation mit dem Westen.

Die veränderte Weltlage hatte zwar noch nicht auf Erich Honecker und seine greise Garde im Politbüro des Zentralkomitees der SED Einfluss nehmen können, das tägliche Leben in den beiden deutschen Staaten hatte sich jedoch hin zur friedlichen Koexistenz entwickelt. Wettbewerb gab es noch auf dem Gebiet des Sports, welches die DDR eindeutig beherrschte; wirtschaftlich war die DDR kein ernst zu nehmender Konkurrent, auch wenn immer wieder behauptet wurde, sie sei die stärkste Volkswirtschaft im gesamten Ostblock. Die westdeutsche Industrie beklagte zwar die Industriespionage, die allenthalben betrieben wurde, die DDR-Planwirtschaft war aber offensichtlich nicht in der Lage, aus ihren Erkenntnissen wirtschaftliche Vorteile zu ziehen. So hatte sich ein Klima der nachsichtigen Toleranz gegenüber den Brüdern und Schwestern in der „Zone“ entwickelt, und sogar konservative Zeitungen verzichteten zunehmend auf das Präfix „sogenannte“ oder auf die Anführungszeichen bei Nennung des Namens des ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden. Es war die Zeit der „Politik der kleinen Schritte“, und die Bundesregierung war bemüht sicherzustellen, dass den eingesperrten Bürgern durch ihre Politik konkrete Vorteile erwüchsen. Sie förderte den Handel, aber auch den Kontakt zu den DDR-Bürgern und drängte, wie im Fall Karlsruhe, auf die Ausweitung von Städtepartnerschaften.

Hemmschuh für den Ost-West-Handel war der chronische Mangel an konvertierbarer Währung auf Seiten der DDR. Es begann jedoch ein reger Warenaustausch, auch auf niedrigster Ebene, diesen Eindruck hatten wenigstens die Bürger der Bundesrepublik, auch wenn sich später herausstellte, dass jedes Geschäft allein durch die Firma KoKo des Herrn Schalk-Golodkowski eingefädelt und abgewickelt wurde. Die Partner im Westen jedoch waren dagegen davon überzeugt, sie unterstützten direkt Kleinstbetriebe und sogar einzelne Bürger, wenn sie Handel trieben, und trügen somit zur Hebung des Lebensstandards in der DDR bei. Die Bundesrepublik wurde zeitweise überschwemmt mit billigen Angeboten, denn die Lohnkosten waren ja niedrig im Osten, und Wirtschaftlichkeit oder Wettbewerbsfähigkeit sind Fremdwörter, wenn durch die Verfassung das Recht auf Arbeit für alle garantiert ist.

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