Bapogana

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Nach dem Verlassen des Ladens fiel ihm ein, dass er keinen Beleg für das Hinterlegen der Uhr bekommen hatte. Der Goldschmied konnte aber ohne Konsequenzen behaupten, das Stück nie zu Gesicht bekommen zu haben. Der Verlust der Uhr wäre sicherlich nichts im Vergleich zum Verlust Davids Gedächtnis gewesen, dennoch würde er ihn schmerzen. Der Chronograph war ein Teil seiner eigentlichen Identität, hinüber gerettet in eine fremde Welt.

Am Abend beschloss er, die Mahlzeit in der Herberge einzunehmen. Mc Bride hatte nichts von einem Dinner bei seiner Einladung gesagt und er wollte den Besuch nicht hungrig absolvieren. David erkundigte sich bei dem Wirt nach dem Weg zum Sitz des Gouverneurs. Die folgende Beschreibung war kompliziert, er musste nochmals nachfragen, um durchzublicken. „Nehmen Sie doch einfach eine Droschke, Sir“, schlug der Wirt schließlich vor, „dann besteht nicht die Gefahr, Ihr Ziel zu verfehlen. Am besten einen Kraftwagen, die Dinger sind sehr bequem.“ Er machte keinen Hehl daraus, Davids Einladung beim Gouverneur zu bewundern, in den Augen des Wirtes musste David demnach eine bedeutende Person sein. „Wenn Sie wünschen, Sir, bestelle ich Ihnen eine Droschke.“ David nahm das Angebot gerne an.

Zum vereinbarten Termin stand dann auch tatsächlich ein solches Kraftfahrzeug vor der Herberge, ein riesiges, fast viereckiges Ungetüm. David nahm auf dem Rücksitz Platz und stellte fest, dass der Wirt nicht übertrieben hatte – die Bequemlichkeit war kaum zu überbieten. Außerdem war es ein besonderes Erlebnis, die Stadt mit ihrer regen Betriebsamkeit durch die Fenster eines PKW zu beobachten. Der Chauffeur verschaffte sich durch regelmäßiges Hupen freie Bahn. Dennoch kamen sie nur sehr langsam voran. Erst als sie die Innenstadt verlassen hatten, konnte der Chauffeur an Tempo zulegen und hatte dann recht schnell ihr Ziel erreicht. Als David vor der Villa des Gouverneurs stand, kamen ihm Bedenken, ob er die Einladung wirklich annehmen sollte. Vielleicht geriet er in einen Hinterhalt und Mc Bride hatte alles arrangiert, um ihn von hier direkt in eine Irrenanstalt schaffen zu lassen. Doch er überwand sich und zog an der Türglocke. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ein Butler öffnete und nach seinem Anliegen fragte. „Mein Name ist David Shuttler, seine Lordschaft erwartet mich.“ Der Butler blieb ungerührt stehen, dann bat er um eine Visitenkarte. „Tut mir leid, ich habe das Etui mit den Karten zu Hause vergessen.“ Daraufhin führte ihn der Butler in den Flur, der einem riesigen Empfangssaal glich und verschwand. David vertrieb sich die Wartezeit, indem er sich das Treppenhaus bewundernd anschaute. Die Architektur imponierte ihm. Er staunte über die Tatsache, den Baustil einer bestimmten Epoche zuordnen zu können. Hatte er diese Fähigkeit aus seinem bisherigen in das jetzige Leben hinüberretten können?

Er kam nicht mehr dazu, darüber weiter nachzudenken, denn der Butler kehrte zurück, um ihn in einen kleinen Salon zu führen, in dem Mc Bride bereits auf ihn wartete. „Guten Abend, Mr. Shuttler. Es freut mich, dass Sie meine Einladung angenommen haben. Nehmen Sie Platz.“ Dabei deutete er auf einen Sessel, in dem es sich David bequem machen sollte. „Haben Sie schon zu Abend gegessen?“ David bejahte die Frage und erwähnte dabei, wie köstlich die Speisen in der Herberge schmecken würden. „Ja“, bestätigte der Gouverneur, „und nicht nur dort. Sie werden es schwer haben, in Bapogana einen Ort zu finden, wo die Mahlzeiten nicht schmecken. Gegen ein paar Snacks zu einem Drink haben Sie doch sicher trotz eingenommenem Dinner nichts einzuwenden?“ David war zwar bis oben hin satt, widersprach aber aus Höflichkeit nicht. Dann wurde die Frage des Drinks geklärt. Mc Bride hatte bereits ein Glas Cognac vor sich stehen und David schloss sich dem an. Danach kam der Gouverneur auch schon direkt auf das eigentliche Thema zu sprechen. „So so, Sie sind also Ihrer Meinung nach aus einer anderen Welt hierher katapultiert worden. Ihr Fall interessiert mich.“ „Um genau zu sein“, erwiderte David, „ich weiß es nicht genau. Ich habe immense Erinnerungslücken.“ Das weitere Gespräch lief sehr angeregt. Mc Bride vertrat die Ansicht, David sei höchstwahrscheinlich im Rahmen eines beruflichen Auftrages nach Bapogana gereist und habe einen Unfall erlitten, bei dem er Teile seines Erinnerungsvermögens eingebüßt hatte. „Das mit der Zeitreise glaube ich auf keinen Fall. So etwas gibt es nicht. Vielleicht sind sie tatsächlich Schriftsteller und daher mit einer reichen Fantasie gesegnet. Zu allen Zeiten versuchten Menschen, die Zukunft vorauszusagen, mit mehr oder weniger gutem Erfolg. Einiges kann man sogar prophezeien, ohne Hellseher zu sein. Betrachten Sie zum Beispiel die automobile Entwicklung. Als der Kraftwagen vor gut 20 Jahren erfunden wurde, bewegte er sich im Schritttempo, heute kann man damit sogar reisen. In weiteren 20 Jahren wird es vielleicht Straßen geben, auf denen sich nur noch Kraftfahrzeuge bewegen dürfen, die in hohem Tempo darüber hinweg rasen. Pferdekutsche, Reiter und Fahrräder haben dann nichts mehr dort zu suchen. Oder die Flugzeuge – möglicherweise werden sie eines Tages ganz gewöhnliche Transportmittel für Reisende und Waren.“

David verkniff es sich, diese Prognosen zu kommentieren. Für ihn waren die Bilder dieser Vorstellungen keine Visionen, sondern verdammt konkret. Aber ihm kamen Zweifel. Waren diese Bilder womöglich tatsächlich das Produkt seiner ausladenden Fantasie? Die Themen für ihre Unterhaltung gingen nicht aus. Nach dem dritten Cognac war David froh, dass der Butler für ein paar Snacks gesorgt hatte und griff entsprechend zu. Im Laufe des Abends stellte er fest, dass der Gouverneur immer sympathischer wurde, was offensichtlich auf Gegenseitigkeit beruhte.

Zu später Stunde wurde die Tür ohne vorheriges Anklopfen geöffnet und eine elegante, wenn auch etwas müde wirkende, junge Dame trat ein. Mc Bride war mit einem Satz aufgesprungen und zu ihr geeilt. „Mary, mein Liebes, ist der Bridge-Abend beendet?“ Er ab ihr einen Kuss. „Ja, Gott sei Dank“, erwiderte sie matt lächelnd. „Darf ich dir Mr. Shuttler vorstellen?“ Inzwischen war auch David aufgestanden und ging auf sie zu. Site streckte ihm den rechten Arm entgegen und er deutete einen formvollendeten Handkuss an. „Sehr erfreut, Mr. Shuttler.“ Mc Bride stellte ihm die Dame als seine Gattin vor. „Ganz meinerseits, Mylady.“ „Seien Sie in unserem Haus Willkommen.“ Die Stimme der Lady klang wohltuend weich. „Vielen Dank, aber ich glaube, ich werde sie beide jetzt nicht länger stören.“ Lachend hob sie die Arme und meinte: „Umgekehrt wird ein Schuh daraus, ich werde Sie und meinen Mann nicht länger stören.“ „Aber das tust du nicht, mein Liebes. Hast du keine Lust, uns Gesellschaft zu leisten?“ Sie strich ihrem Mann zärtlich über die Wange und erwiderte: „Sei mir nicht böse, Liebster, aber ich bin furchtbar müde. Auch wenn ich davon überzeugt bin, dass Mr. Shuttler ein hervorragender Unterhalter ist, in meiner Gegenwart würdet ihr euch nur langweilen. Mr. Shuttler.“ Sie hielt ihm wieder den Arm entgegen, worauf er den Handkuss wiederholte. „Bis nachher“, hauchte sie anschließend ihrem Mann zu und schien regelrecht aus dem Raum zu schweben. Die Männer setzen sich wieder zu ihren Cognac-Gläsern. „Ihre Gattin ist bezaubernd, Sie sind zu beneiden, Mylord.“ „Was reden Sie da, Mr. Shuttler!“ David missverstand Mc Brides Worte und starrte ihn entsetzt an. Der merkte jetzt selbst, wie das eben Gesagte geklungen haben musste und korrigierte sich sofort. „Natürlich haben Sie Recht, Mary ist für mich das bezauberndste Wesen der Welt. Aber Ihre Anrede „Mylord“ gefällt mir nicht.“ David runzelte die Stirn und schaute ihn fragend an, worauf Mc Bride erklärte: „Mylord ist zwar formell richtig, aber furchtbar unpersönlich.“ Der nun folgende Vorschlag kam sicherlich auch unter dem Einfluss des reichlich konsumierten Cognac zustande: „Das Einfachste wäre, wir nennen uns beim Vornamen. Ich heiße Thomas.“ „Und ich David.“ „Darauf müssen wir noch einen trinken, David. Eine ordentliche Zigarre wäre auch nicht schlecht, was meinst du?“ „Ich werde beides nicht ablehnen.“

Als sich David gegen Mitternacht endlich verabschiedete, spürte er die Wirkung des Cognacs ganz ordentlich. Aber auch an Thomas war er nicht spurlos vorbeigegangen. „Ich rufe dir eine Droschke“, bot er an, wobei er das „sch“ der Droschke besonders in die Länge zog. Während sie auf das Fahrzeug warteten, fragte Thomas: „Kannst du reiten?“ „Ich weiß es nicht“, antwortete David wahrheitsgemäß. „Probieren wir es doch aus.“ „Jetzt?“, entfuhr es David mit Entsetzen. „Nein, natürlich nicht. Mary und ich wollen morgen Nachmittag ausreiten. Sie hätte bestimmt nichts dagegen, wenn du uns begleitest. Sagen wir um drei Uhr?“ „Okay, ich bin bereit. Und wenn ich vom Pferd falle, finde ich vielleicht mein Gedächtnis wieder.“

Am nächsten Morgen wachte David etwas später auf, das war der Tribut für den feuchten Abend. Ansonsten fühlte er sich aber wohl, sogar seine Psyche ließ nicht zu wünschen übrig. Er fing langsam an, sich in seiner neuen Rolle wohl zu fühlen, was auch immer er vorher getan haben mochte. Für ein Frühstück war es bereits zu spät, also entschied er sich, direkt zu Mittag zu essen. Danach unternahm er noch einen kleinen Bummel durch die Innenstadt. Er ließ sich einfach ohne Hektik von der Menge treiben. Als er eine Weile umhergeschlendert war, fiel ihm eine junge Frau auf, die es offensichtlich auch nicht eilig hatte. Sie trug ein bodenlanges, elegantes Kleid und einen dazu passenden Hut mit einem Schleier, der ihr Gesicht nur schemenhaft erkennen ließ. Sie zog ihn irgendwie in ihren Bann. David ertappte sich selbst dabei, wie er sie regelrecht anstarrte. Sie war gut fünf Meter von ihm entfernt auf der anderen Straßenseite, als sich zufällig ihre Blicke trafen. David drehte reflexartig den Kopf herum und spürte, wie er rot im Gesicht anlief. Dennoch wagte er es, wieder in ihre Richtung zu schauen, aber sie war verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Das leuchtend hellblaue Kleid hätte man in der Menge sofort erkennen müssen. Er beschleunigte seinen Schritt, versuchte durch die Schaufenster in das Innere der Läden zu schauen und blickte in jede Seitengasse – vergeblich. Schließlich gab er es auf, nach ihr zu suchen und beschloss, den Heimweg anzutreten. Kaum hatte er Kehrt gemacht, da stach ihm das helle Blau wieder ins Auge. Auch sie ging jetzt in die andere Richtung, immer noch mit derselben Ruhe und Gelassenheit. Er hätte sie trotz der Menschenmassen mühelos einholen können. Sollte er sie ansprechen? Aber ihm fiel nichts ein, außer ein paar Floskeln, mit denen er sich nur blamiert hätte. In diesem Moment blieb sie vor einem Schaufenster stehen, holte aus einem Täschchen eine Dose und nutzte offenbar die Glasfront als Spiegel, um sich ihre Nase zu pudern.

 

Beim Wiedereinstecken der Dose fiel, von ihr unbemerkt, ein weißes Taschentuch auf den Boden. „Das ist die Gelegenheit!“, schoss es David durch den Kopf, eilte zu ihr und hob das Tuch auf. „Entschuldigen Sie bitte, Mylady, ich glaube, Sie haben etwas verloren.“ Er hielt es ihr entgegen. „Oh, tatsächlich, das ist meines. Vielen Dank, Sir.“ Während sie es an sich nahm, fragte David: „Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Sie ein Stück begleite?“ „Warum sollte ich? Dies ist eine öffentliche Straße, da kann jeder laufen, wo er will.“ Mit dieser Antwort konnte er wenig anfangen. War sie zustimmend oder ablehnend? Die junge Frau setzte sich wieder langsam in Bewegung. David ebenfalls. „Wissen Sie“, fing er unbeholfen an zu reden, „ich halte mich noch nicht sehr lange hier in der Stadt auf.“ „Nein, weiß ich nicht.“ Ihre Stimme klang sehr weich und mild, aber ihre Worte waren wenig aufmunternd. Trotzdem wagte er einen weiteren Versuch. „Kennen Sie sich hier gut aus?“ Sie blieb abrupt stehen und drehte sich zu ihm um. „Hören Sie, Sir, wenn Sie eine Auskunft von mir wollen, sagen Sie es mir direkt. Ansonsten steht mir im Moment nicht der Sinn nach einer banalen Konversation.“ David erwiderte grinsend: „Sie muss ja nicht banal sein.“ Aber seine Hartnäckigkeit wurde nicht belohnt. Sie blieb noch ein, zwei Sekunden stehen und sagte dann: „Guten Tag, Sir“, drehte sich um und ging. „Naja“, dachte David, „wenigstens bin ich um eine Erfahrung reicher: Es gibt doch nicht nur freundliche Menschen an diesem Ort.“ In diesem Moment fiel ihm seine Verabredung ein. Unwillkürlich schaute er auf sein linkes Handgelenk, um dann den Kopf ob seiner Vergesslichkeit zu schütteln. Daraufhin suchte er die Straße nach einer öffentlichen Uhr ab und wurde auch fündig. Erschrocken stellte er fest, dass es schon zwei Uhr nachmittags war. Um in die Herberge zurückzukehren, war es schon zu spät. Er musste sich hier in der Nähe eine Droschke suchen, um direkt zu den Mc Brides zu fahren. Gleichzeitig kam ihm die Frage in den Sinn, wie er mit seiner Aufmachung an dem Ausritt teilnehmen sollte. Er besaß keinerlei Ausrüstung. Aber das Problem musste vor Ort gelöst werden, jetzt sah er zu, die Gouverneursvilla zu erreichen. Eine freie Droschke war bald gefunden, sodass er pünktlich der Einladung folgen konnte. David dachte während der Fahrt darüber nach, ob Mc Bride das vertrauliche Du, das er in weinseliger Laune angeboten hatte, bereits wieder bereute. Doch das war nicht der Fall. Er öffnete ihm sogar persönlich die Tür und begrüßte ihn, mit dem Vornamen ansprechend, sehr freundlich. Der Anblick des Lord in seiner Reiterkluft war imposant, er wirkte darin wirklich aristokratisch und erinnerte David an sein Problem. „Ich fürchte, Thomas, an eurem Ausritt nicht teilnehmen zu können.“ „Oh, wie schade, aber was ist der Grund?

Doch nicht etwa die Folgen des gestrigen Cognac-Konsums? Ich habe erheblich mehr getrunken als du und fühle mich fit.“ „Damit hat es auch nichts zu tun. Mir fehlt schlicht und einfach die richtige Ausrüstung.“ Thomas lachte. „Dass du nicht in Reiterkluft sozusagen aus dem Jenseits gekommen bist, war mir schon klar. Wir beide haben in etwa die gleiche Statur. Deshalb habe ich dir bereits etwas Passendes zurecht legen lassen.“ Er führte David in ein Gästezimmer, wo er sich umziehen konnte. Danach begaben sie sich zu den Stallungen hinter der Villa, wo Lady Mc Bride auf sie wartete. Auch die Pferde standen schon bereit. Nach der Begrüßung durch die Dame des Hauses gab David höflich seine Bedenken von sich: „Ich hoffe, Mylady, ich störe wirklich nicht. Sicherlich würden Sie auch gerne mit Ihrem Mann alleine ausreiten.“ Sie legte lächelnd den Kopf schief und erwiderte: „Wenn mich Ihre Anwesenheit stören würde, hätte ich bestimmt eine Ausrede gefunden, die Einladung abzusagen. Unterschätzen Sie mich nicht, Mr. Shuttler.“ „Das hatte ich auch keinesfalls vor.“ „Bevor wir noch lange palavern, bitte ich ums Aufsitzen“, mischte sich Thomas ein und fügte, seine Frau ansprechend hinzu: „Mr. Shuttler muss uns erst noch beweisen, ob er überhaupt mit einem Pferd umgehen kann.“ Doch David machte schon instinktiv das Richtige und spürte, dass es für ihn nichts Ungewöhnliches war.

Im Schritt verließen sie den Hof in Richtung einer Wiese, wo sie in Trab fielen – auch das ohne Probleme für David. Sie ritten dicht nebeneinander und konnten sich daher mühelos unterhalten. „Du sitzt aber keineswegs heute das erste Mal im Sattel. Sieht alles sehr routiniert bei dir aus“, meinte Thomas anerkennend. „Passen Sie auf, Mr. Shuttler, meinem Mann in der Reitkunst nicht den Rang abzulaufen. Er wird sich möglicherweise ärgern, wenn Sie ihn von seiner Spitzenposition verdrängen.“ Mc Bride würdigte seine Frau mit einem strafenden Blick und kommentierte ihre Worte mit „Ha, ha, ha, sehr witzig.“ „Du bist also ein wahrer Meister in der Reitkunst?“, wollte David wissen, aber Thomas widersprach: „Meine Künste diesbezüglich sind äußerst mager. Ich habe den Sport Mary zuliebe erlernt. Es macht mir zwar Spaß, aber dennoch bin ich froh, mich überhaupt im Sattel halten zu können.“ „Jetzt übertreibst du, Liebster, du bist ein begabter Schüler.“ „Demnach darf ich annehmen, dass Sie Ihrem Mann das Reiten beigebracht haben, Mylady.“ „So ist es“, antwortete Thomas für seine Frau. „Dazu bedurfte es viel Geduld und Ausdauer. Mary saß wohl schon auf dem Rücken der Pferde, als sie noch gar nicht laufen konnte.“ Die Unterhaltung wurde unterbrochen, weil Lady Mc Bride das Pferd in den Galopp brachte und die Männer ihr folgten.

Im Nu waren zwei Stunden vergangen und sie zu den Stallungen zurückgekehrt. „Sie werden doch sicherlich noch einen Tee mit uns trinken, Mr. Shuttler.“ David kam erst gar nicht dazu, eine Antwort zu geben, weil Thomas das übernahm. „Natürlich wird er, das ist doch klar. Er ist schließlich ein Gentleman und wird deine Einladung nicht ablehnen.“ Lachend stimmte David zu. Sie begaben sich in denselben Salon wie am Vorabend. „Das ist unser Lieblingszimmer“, erklärte der Lord fast entschuldigend, so, als ob es sich in der besseren Gesellschaft nicht geziemte, einen Gast zwei Mal hintereinander in denselben Raum einzuladen. Erst bei dem heutigen Besuch fiel David die weitere Größe der Villa auf. Sie glich eher einem Schlösschen. In Anbetracht der Tatsache, dass sie sicherlich nicht nur Wohn-, sondern auch Amtssitz des Gouverneurs war, wunderte er sich nicht darüber. Die Mc Brides waren es zweifellos gewohnt, hier offizielle Veranstaltungen durchzuführen, so wie sie es auch gewohnt waren, sich ständig von Personal bedienen zu lassen. Während es sich die drei im Salon bequem machten, brachten der Butler und ein Stubenmädchen Tee und Gebäck. Zu Beginn der Unterhaltung war David noch etwas unsicher, da er nicht wusste, inwieweit die Dame des Hauses über sein Schicksal informiert war und wenn nicht, wie sie seine abstruse Geschichte bewerten würde. Aber im Laufe des Gesprächs stellte sich heraus, dass Thomas sie offenbar in groben Zügen aufgeklärt hatte und Lady Mc Bride unbefangen mit den Gegebenheiten umging. David empfand dies als große Erleichterung. „Sie wohnen also in einer Herberge, Mr. Shuttler?“, wollte Lady Mc Bride wissen, als sie auf das Thema seiner Unterkunft zu sprechen kamen. „Ist das auf Dauer nicht ziemlich beengend?“ „Nun, eine Wohnung wäre mir natürlich lieber, aber die Umstände zwingen mich dazu.“ Sie überlegte eine Weile und wandte sich dann an ihren Mann: „Steht nicht das Gästehaus in der Nähe der britischen Kasernen zur Zeit leer?“ „Ja, natürlich“, erwiderte dieser und griff sich mit der flachen Hand an die Stirn, „dass ich nicht selbst schon darauf gekommen bin. Was hältst du davon, dort einzuziehen?“ „Ich weiß nicht“, antwortete David zögerlich. „Meine Mittel sind derzeit etwas begrenzt und die Herberge ist preisgünstig. Außerdem besitze ich, soweit ich weiß, keine Möbel.“ „Beide Probleme sind schon gelöst. Das Gästehaus stelle ich dir im Namen des Britischen Empire kostenlos zur Verfügung, es ist im Übrigen voll möbliert.“ Doch David war noch keineswegs davon überzeugt.

„Das kann ich nicht annehmen, Thomas. Ich käme mir vor wie ein Schmarotzer.“ „Nehmen wir mal an, Mr. Shuttler, Sie sind Reiseschriftsteller.“ Sie wandte sich bei ihren folgenden Worten an ihren Mann: „Gibt es nicht noch sehr viel über Bapogana zu berichten, was man in Großbritannien aufsaugen wird, wie ein Schwamm? Du hast doch kürzlich darüber geklagt, dass zu wenig geeignete Leute für solche Berichterstattungen existieren, was einen wahrlichen Mangel für das Empire darstellt.“ „Du liebe Güte“, stöhnte der Lord auf, „ich glaube, mein Liebling, ich sollte meinen Posten als Gouverneur von Bapogana besser dir übertragen. Die wirklich guten Ideen tragen sowieso deine Handschrift. David, wärst du bereit, in die Dienste Seiner Majestät Georgs V. zu treten?“ Das kam für ihn absolut überraschend. „Meinst du das völlig im Ernst, Thomas?“ Er wusste wirklich nicht, ob der Gouverneur ihn jetzt auf den Arm nehmen wollte. „Natürlich meine ich das im Ernst. Wir machen das ganz offiziell, mit Vertrag. Als Berichterstatter für das UK würdest du in die Position eines Diplomaten rücken, natürlich verbunden mit einer entsprechenden Besoldung.“ David konnte den Vorschlag immer noch nicht fassen. „Ich bin aber, soweit ich weiß, Deutscher. Wie kann ich da britischer Diplomat werden?“, gab er zu bedenken. Doch Mc Bride ließ seinen Einwand nicht gelten. „In den europäischen Königshäusern wurde auch nie nach der Nationalität gefragt. Man fühlt sich dem Land verpflichtet, dem man dient und nicht dem, in dem man geboren wurde. So einfach ist das. Im Zweifelsfall besorge ich dir einen britischen Pass.“ Es bedurfte aber noch einiges an Überredungskunst von beiden Mc Brides, bis David endlich zustimmte.

Im weiteren Verlauf ihres Gesprächs erfuhr er noch viel über die noch wenig oder gar nicht erforschten Seiten Bapoganas. Dabei stieß die Schilderung einer bestimmten Region, der Nemang-Schlucht, auf sein besonderes Interesse. „Man nimmt an, dass der gleichnamige Fluss dort seinen Ursprung hat.“ Lord Mc Bride legte etwas Geheimnisvolles in seine Erzählungen. „Außerdem soll es der Sitz vieler Geister und Götter der Bapos sein. Sie huldigen nämlich einer Naturreligion und sämtliche britische Versuche, die Menschen hier zu missionieren, sind weitgehend fehlgeschlagen. Die Nemang-Schlucht hat noch niemand, weder Einheimischer, noch Forscher, erforscht. Das Gebiet ist extrem unwegsam. Tosende Wasserfälle und wilde Flussläufe prägen das Bild. Dennoch übt die Schlucht eine immense Faszination aus. Aber kaum jemand wagt sich dort hinein, geschweige denn, sie ganz und gar zu durchqueren.“ David kam ins Grübeln. Sollte er darin vielleicht eine, seine, Herausforderung sehen? Eine Expedition in die Nemang-Schlucht? Wäre ein ausführlicher Bericht darüber nicht eine Bereicherung für die Menschen in Bapogana und die britische Nation? Mary Mc Bride schien Gedanken lesen zu können, denn sie sprach ihn direkt darauf an: „Sie erwägen doch nicht etwa, sich solch einer Aufgabe zu widmen?“ „Was meinen Sie damit, Mylady?“ „Die Erforschung der Nemang-Schlucht.“ Bevor er die Frage beantworten konnte, klopfte es an der Tür und der Butler trat nach Aufforderung ein, um anzukündigen, dass das Dinner bald fertig sei. „Oh je“, meinte David, „ist es schon so spät. Dann will ich Sie und Ihren Gatten nicht länger stören, Mylady. Wenn Sie gestatten, ziehe ich mich noch schnell um und verschwinde dann.“ „Ja und nein“, erwiderte die Dame des Hauses lächelnd und fügte dann auf Davids fragenden Blick hinzu: „Wir werden uns jetzt alle umziehen und danach gemeinsam das Dinner zu uns nehmen. Sie werden uns doch sicher nicht durch eine Absage enttäuschen wollen.“ „Natürlich nicht, mein Liebes. Du hältst doch Mr. Shuttler nicht etwa für einen unhöflichen Menschen?“ Was blieb David bei diesen Worten anderes übrig, als die Einladung anzunehmen? Mary ordnete an, das Dinner im „kleinen Speisezimmer“ zu servieren.

 

Der Butler wartete vor Davids Umkleideraum, um ihn dann in den richtigen Raum zu begleiten. Dort wartete bereits Thomas und meinte augenzwinkernd: „Bei meiner Gattin dauert es etwas länger, aber es kann sich nur um Stunden handeln.“ Doch ganz so schlimm war es dann nicht. Sie erschien in bezaubernder Abendrobe und David gab sich viel Mühe, sie nicht allzu bewundernd anzuschauen. Beim Dinner wurde das Gespräch von vorhin fortgesetzt. Im „kleinen Speisezimmer“ war es üblich, dass kein Personal anwesend war, um sie zu bedienen. Für David ein angenehmer Umstand, denn man konnte ungestört reden. „Also, Mr. Shuttler, spielen Sie wirklich mit dem Gedanken, die Nemang-Schlucht zu erforschen?“ „Wenn mir der Gouverneur den Auftrag dazu erteilt, werde ich nicht nein sagen. Ich würde mich darüber freuen.“ „Der Gouverneur kann dir nicht so ohne Weiteres den Auftrag dazu erteilen“, wandte Lord Mc Bride ein. „Ihre Hoheit, die Nagadshi, muss ihre Zustimmung geben. Das ist eine bindende Voraussetzung.“ „So wie du es sagst, klingt es ziemlich aussichtslos“, stellte David fest und war schon bereit, die Sache abzuhaken. Aber Thomas wiegelte ab. „Nein, aussichtslos ist es nicht. Doch die Nagadshi muss natürlich darauf achten, dass die religiösen Gefühle ihres Volkes geachtet werden. Daher ist es notwendig, ihr den Sinn einer solchen Expedition schmackhaft zu machen. Reine Abenteuerlust wird sie kaum überzeugen können.“ Sie diskutierten noch eine Weile darüber, bis David dem Gouverneur schließlich die Frage, die ihm besonders am Herzen lag, stellte: „Würdest du dich denn bereit dazu erklären, bei der Nagadshi ein gutes Wort für eine solche Expedition einzulegen?“ Thomas lachte kurz auf. „Natürlich, aber überschätze meinen Einfluss nicht. Wenn sich die Nagadshi ein genaues Bild von einer solchen Aktion machen will – und das wird sie – ist es unvermeidlich, dass derjenige, der die Expedition zu leiten gedenkt, persönlich bei ihr vorspricht. Wenn du also an deinem Vorhaben festhalten willst, musst du dich um eine Audienz bei ihr bemühen.“ Diese Vorstellung war David allerdings nicht sonderlich angenehm. Bei einer diktatorisch herrschenden Königin zu Kreuze zu kriechen war überhaupt nicht nach seinem Geschmack. „Außerdem bist du auf ihre Hilfe angewiesen“, fügte Thomas hinzu. „Du brauchst einheimische Führer, die sie zur Verfügung stellen muss. Ich kann dir bei solchen Dingen wenig von Nutzen sein. Einen Termin für eine Audienz zu beschaffen liegt allerdings in meinen Möglichkeiten, ebenso wie die Sammlung so vieler Informationen, wie verfügbar sind.“ Danach begannen sie Pläne zu schmieden, die in den folgenden Stunden immer konkreter wurden. Der Abend endete wieder spät, allerdings mit einer Vielzahl tiefgreifender Änderungen für David. Als er sich mit einer Droschke auf den Heimweg machte, war er zwar ein Mann ohne Vergangenheit, aber mit einer durchaus Erfolg versprechenden Zukunft.

In den folgenden Tagen war er aber hauptsächlich mit seinem Umzug beschäftigt. Sein neues Zuhause lag einen Steinwurf von britischen Kolonialkasernen und Exerzierplätzen entfernt. Tagsüber konnte er die militärischen Kommandos mit verfolgen, dafür herrschte am Abend himmlische Ruhe. Das Gästehaus verfügte über mehrere Zimmer, war aber durchaus überschaubar. Ein kleiner Garten rundete die Idylle ab. David fühlte sich von Anfang an wohl hier, die Einrichtung des kleinen Hauses war durchaus nach seinem Geschmack. Langsam aber sicher fand er sich mit dem Umstand seiner fehlenden Erinnerung ab. Er wollte nur noch nach vorne schauen, um sein Leben sinnvoll gestalten zu können. Nach ein paar Tagen fand er Zeit und Ruhe, sich mit der Planung seiner Expedition zu beschäftigen. Dazu stand ihm unter Anderem die Bibliothek der Gouverneursvilla zur Verfügung, der er viele nützliche Informationen entnehmen konnte. Darunter auch Erfahrungsberichte über ähnliche Unternehmungen wie die, die er sich vorgenommen hatte. Er wollte bei seiner Vorbereitung so gründlich wie nur irgend möglich sein.

Thomas stellte ihn eines Tages den Offizieren der Kaserne als neuen Diplomaten des Gouverneurs vor. Auch andere gesellschaftliche Kontakte wurden geknüpft, darunter zur einheimischen High Society. Die erste Gelegenheit ergab sich schon wenige Tage nach seinem Umzug. Das Gouverneurs-Ehepaar lud zu einer kleinen Soiree mit Umtrunk ein. Die Frage Davids, ob auch der Nagadsha oder die Nagadshi an diesem Abend erscheinen werden, belustigte Thomas. „Nein, natürlich nicht. Die Hoheiten nehmen an derartigen gesellschaftlichen Treffen niemals teil. Sie geben Empfänge zu entsprechenden Gelegenheiten. Solche Ereignisse sind hochoffiziell und unterliegen einem peinlich genauen Zeremoniell. Dabei ist die Nagadshi praktisch unnahbar, der Nagadsha zieht sich in der letzten Zeit aufgrund seines Gesundheitszustandes sowieso weitgehend zurück. Seine Tochter übernimmt dessen Aufgaben.“ „Und bei so einer muss ich um Audienz bitten“, dachte David missmutig.

Der Abend bei den Mc Brides verkündete hingegen recht locker abzulaufen. Es wurde sogar hin und wieder zu den Klängen eines Grammophons getanzt, Charleston war angesagt. David selbst hielt sich zurück, es machte ihm sowieso mehr Spaß, den amüsierten Beobachter zu spielen. Thomas und Mary ließen jedoch keine Gelegenheit aus, kräftig mitzumischen. Sie gingen miteinander um, als wären sie ein frisch verliebtes Paar.

Als David alleine mit einem Glas in der Hand das Geschehen beobachtete, sah er sie. Wenn ihn nicht alles täuschte, handelte es sich um jene Dame, die er ohne Erfolg neulich auf der Straße seine Begleitung angeboten hatte. Ganz sicher war er allerdings nicht, denn auch diesmal umwitterte sie etwas Geheimnisvolles, da sie, wie neulich in der Stadt, einen eleganten Hut mit Schleier trug. Er rang mit sich, ob er sie ansprechen sollte. Auch sie stand, einige Meter von ihm entfernt, alleine da. Schließlich gab er sich einen Ruck und ging zu ihr. „Haben Sie heute auch keine Lust auf banale Konversation?“ Zunächst erschrak sie und zuckte kaum merkbar zusammen. Doch dann meinte David trotz des Schleiers ein Lächeln zu erkennen. „Ich habe nie Lust auf banale Konversation. Habe ich etwa wieder ein Taschentuch verloren?“ In der einen Hand das Glas, demonstrierte sie, dass die andere leer war. „Nein, diesmal habe ich nichts anzubieten.“ „Wirklich nicht? Neulich haben Sie behauptet, auch anspruchsvolle Konversation führen zu können.“ „Tatsächlich? Stimmt, jetzt fällt es mir wieder ein. Aber Sie schienen kein Interesse daran zu haben. Sollte sich das etwa geändert haben?“ Sie zögerte etwas mit ihrer Antwort. „Probieren Sie es doch einfach aus.“ „Nicht, bevor ich mich vorgestellt habe. Gestatten, David Shuttler.“ Er deutete eine leichte Verbeugung an. „Miss Daila Pherson“, erwiderte sie. „Aha“, dachte David, „das Eis hat einen winzigen Riss bekommen.“ „Wollen wir uns nicht irgendwo hinsetzen? Ich hole Ihnen auch gerne etwas zu trinken“, bot er an. Sie schaute sich um und deutete auf eine der wenigen freien Sitzgruppen. „Ist es Ihnen dort recht?“ David stimmte zu und sie begaben sich dorthin. „Was darf ich Ihnen besorgen? Vielleicht einen Champagner?“ Miss Pherson nickte. „Gerne.“ Er beeilte sich, einen der Dienstboten mit Tablett und Getränken zu erwischen, um ihnen das Gewünschte zu bringen. „Sind Sie eine Freundin der Mc Brides?“, fragte er ungeniert, selbst auf die Gefahr hin, indiskret zu wirken. Aber sie hatte offenbar nichts dagegen einzuwenden. „Nein, das wäre maßlos übertrieben. Man kennt sich, mehr nicht.“