Bapogana

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Sie sah in den Männern Untertanen, die ihrer absoluten Befehlsgewalt unterlagen. Deshalb versuchte er, das Ganze in ruhige Bahnen zu lenken. „Es handelt sich um Lady Pherson, für die ich mich verbürgen kann.“ Die Polizisten machten sich Notizen. Dann fragten sie nach Dailas Adresse. David nannte sofort die des britischen Gästehauses. Sie schien vor Wut zu kochen und kurz davor zu sein, die Männer energisch zurechtzuweisen. Aber David kam ihr zuvor: „Darf man fragen, warum die Herren ausgerechnet uns kontrollieren?“ Seine Stimme klang extrem freundlich. „Es sollen an diesem Tisch Äußerungen gefallen sein, die mit einem möglichen Verbrechen in Verbindung gebracht werden müssen.“ David lachte jovial: „Das muss ein Irrtum sein, Gentlemen. Aber wir verstehen natürlich, dass Sie der Sache auf den Grund gehen wollen. Das spricht für ein hohes Verantwortungsgefühl der bapoganischen Polizei.“ Seine Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. „Vielen Dank, Sir. Ich bitte Sie daher um Verständnis, dass wir den Vorgang der Polizei-Kommandantur melden werden.“ Jetzt schaltete sich Daila wieder in das Gespräch ein. „Unsinn! Zeigen Sie es direkt dem Büro der Nagadshi vor.“ Den Polizisten war diese Bemerkung wohl in die falsche Kehle geraten, denn der eine von ihnen antwortete in barschem Ton: „Auch wenn Sie eine britische Lady sind, gibt Ihnen das noch lange nicht das Recht, Ihre Hoheit, die Nagadshi, in abfällige Bemerkungen einzubeziehen.“ Daila holte tief Luft und wollte dem Mann entsprechend antworten, aber auch diesmal kam ihr David zuvor: „Lady Pherson lag es völlig fern, Ihre Hoheit, die Nagadshi, auch nur im Geringsten zu beleidigen. Lady Pherson ist noch nicht so lange in Bapogana und kennt sich dementsprechend mit den Gepflogenheiten dieses wunderschönen Landes noch nicht so recht aus.“

In diesem Moment verspürte David einen nicht unbeträchtlichen Schmerz am Schienbein, der von einem beachtlichen Tritt Dailas herrührte. Die Polizisten warfen noch einen missbilligenden Blick auf sie und verabschiedeten sich dann. Kaum waren sie verschwunden, schaute David Daila kopfschüttelnd und breit grinsend an: „Wie kannst du es wagen, offiziellen Vertretern Bapoganas so respektlos gegenüber aufzutreten, mein Liebling?“ Sie erwiderte seinen Blick eine Zeit lang wortlos. Dann sagte sie: „Ich werde dich heute Abend besuchen, Liebster. Ich hoffe, mir fallen noch tausend Dinge ein, um dich zu drangsalieren.“

Trotz des schlimmen Verdachtes, den die Bedienung gegen sie hegte, bekamen sie nach dem Zwischenfall mit den Ordnungshütern doch noch ihr Essen serviert.

Beim Verlassen der Herberge bot David Daila seinen Arm an und fragte: „Darf ich Sie auf Ihrem Heimweg begleiten, Miss Pherson?“ Sie schaute zum Himmel und meinte: „Strahlendes Blau; es herrscht ideales Wetter für einen Spaziergang. Was halten Sie davon, Mr. Shuttler?“ „Wie? Bis zum Palast laufen? Das ist ein verdammt langer Weg, Daila.“ Schmunzelnd erwiderte sie: „Ich kenne sogar jemanden, der die gesamte Nemang-Schlucht durchqueren will.“ David stöhnte, konnte aber ihrem Argument nichts entgegen setzen.

Die Strecke kam ihm dann tatsächlich gar nicht so weit vor, zumal sie sich angeregt unterhielten und dabei viel lachten. Vor einem Tempel, der nur durch einen nicht allzu großen Platz vom Palast getrennt war, blieb Daila stehen und verkündete: „So, hier ist unser Spaziergang beendet.“ David nahm an, sie wolle in den Tempel, um zu beten oder meditieren und dabei nicht von ihm gestört werden. „Ich kann hier auf dich warten, mein Liebes.“ Lächelnd strich sie ihm über die Wange und erwiderte: „Das wäre ein Bisschen zu viel von dir verlangt. Wer weiß, wann ich den Tempel wieder verlasse; heute? Morgen?“ Jetzt verstand er, zu welchem Zweck ihr dieser Tempel diente. Sie würde ihn als Miss Pherson betreten und am Ende eines Ganges als die Nagadshi wieder im Palast auftauchen. Die Wachen hatten den Sakralbau nicht ständig in den Augen, sodass es nicht auffiel, wenn eine junge Frau ihn betrat, aber nicht wieder verließ.

David wollte sie an sich ziehen, um ihr einen Kuss zu geben, aber sie wehrte sich. „Nicht hier, vor den Augen der Nagadshi.“ „Schließ sie einfach, Liebes.“ Ihr Blick war Antwort genug. „Würde uns die Palastwache verhaften?“ „Das sicherlich nicht, aber einer der Soldaten könnte schon kommen, um uns darauf aufmerksam zu machen, diesem Ort den nötigen Respekt entgegen zu bringen.“ „Kann die Nagadshi das nicht ändern?“ „Doch, natürlich; aber sie will nicht, denn das Volk in Bapogana wünscht dieses respektvolle Verhalten.“

Sie strich ihm kurz über die Wange und ging zum Eingang des Tempels. Bevor sie ihn betrat, drehte sie sich noch einmal zu ihm um und winkte: „Bis heute Abend, David.“ Nachdenklich schlenderte er zur Straße zurück. Ihre Situation war nach der Lüftung Dailas Geheimnisses ihm gegenüber keineswegs leichter geworden. Sie hatten vereinbart, niemanden darin einzuweihen, zumindest zunächst einmal. Das bedeutete für beide, in wechselnde Rollen schlüpfen zu müssen, mal Liebespaar - was sie Gott sei Dank nicht spielen mussten - mal Nagadshi und unbedeutender, britischer Diplomat, der sich der Monarchin nur nach einem bestimmten Ritual und mit entsprechend respektvollem Verhalten nähern durfte. Waren da Pannen nicht schon vorprogrammiert? Die erste war ihm ja auch schon unterlaufen, als er nach der Audienz auf seinem Stuhl sitzen blieb, während die Nagadshi den Raum verlassen wollte. Dennoch war David glücklich. Er musste lachen, als er an Thomas Worte dachte, die ihn darauf hin wiesen, Daila könne vielleicht David nur dazu benutzen, in die bessere Gesellschaft aufgenommen zu werden. Einige Passanten schauten ihn verstohlen an, als er allein schlendernd vor sich hin lachte. Sollten sie ihn ruhig für verrückt halten, im Moment war ihm das gleichgültig.

David beschloss, die Mc Brides aufzusuchen. Er durfte zwar nichts über die jüngsten Ereignisse erzählen, aber ein Gespräch über andere Themen kam ihm im Moment auch sehr zu Passe. Eine freie Droschke war schnell gefunden.

Thomas empfing ihn voller Neugierde. „Wie ist die Audienz bei der Nagadshi verlaufen?“ Er hielt sich nicht mit langen Begrüßungsfloskeln auf. „Och, ganz gut.“ Mit fragendem Blick wartete Thomas auf weitere Informationen und hakte, als diese nicht sofort sprudelten, nach: „Das nenne ich eine ausführliche Berichterstattung. Kann es auch etwas genauer sein?“ David gab sich große Mühe, ernsthaft zu wirken, aber es fiel ihm doch sehr schwer. „Die Expedition ist genehmigt, allerdings mit einer besonderen Auflage.“ „Ja, ich höre. Mein Gott, muss man dir denn jedes Detail extra aus der Nase ziehen?“ „Ich muss sie barfuß durchführen.“ Thomas starrte ihn zunächst ungläubig an, grinste aber dann breit. „Du beliebst zu scherzen.“ „Ich denke auch, es war ein Scherz“, erwiderte David, „aber die Nagadshi bemerkte, sie wolle in der schriftlichen Genehmigung festhalten, dass ich auf jegliches Schuhwerk verzichten muss.“ Das war nicht gelogen. „Du willst mir doch nicht weismachen wollen, die Nagadshi habe Späße getrieben?“ „Vielleicht war sie heute ja besonders gut gelaunt.“ „Nimm mich bitte nicht auf den Arm, David. Die Nagadshi pflegt bei offiziellen Audienzen nie zu scherzen.“ „Ausnahmen bestätigen eben die Regel, Thomas. Sie ist übrigens eine bezaubernde Frau, findest du nicht auch? Man könnte sich glatt in sie verlieben.“ „Du hast getrunken, David, eindeutig, hoffentlich erst nach der Audienz.“ „Nein“, widersprach er, „ich bin bei der Nagadshi in genau demselben Zustand erschienen, wie jetzt bei dir.“ „Jetzt muss ich erst einmal etwas trinken“, stellte Thomas mit entsetztem Tonfall fest und ging zum Barschrank. „Gib mir bitte auch etwas, einen Cognac, zum Beispiel.“ „Wirklich, David? Hast du nicht schon genug zu dir genommen? Womöglich kippst du hier noch um.“ „Und wenn schon. Auf jeden Fall ist die Expedition genehmigt. Nur meine Bitte, Miss Pherson mitnehmen zu dürfen, hat die Nagadshi abgelehnt.“ Thomas wären beinahe Glas und Flasche aus der Hand geglitten. „Wie bitte? Das wird ja immer schöner!“ David hätte noch am liebsten hinzugefügt, sie habe auch seinen Vorschlag, die Nagadshi selbst könne stattdessen mitkommen, nicht angenommen; aber das wäre eindeutig zu weit gegangen. „Wechseln wir das Thema. Wir sprechen darüber, wenn du wieder nüchtern bist.“ Thomas schenkte die Cognacs ein und übergab David ein Glas mit den Worten „aber trink es bitte langsam“. Danach versuchte er, ein ernsthaftes Gespräch einzuleiten, indem er fragte: „Hast du mit Miss Daila gesprochen?“

David unterdrückte ein Grinsen. Thomas konnte schlecht wissen, dass er damit keineswegs das Thema gewechselt hatte. „Ja, habe ich. Wir haben gemeinsam zu Mittag gegessen.“ „Und? Was ist dabei herausgekommen?“ „Nicht viel. Weißt du, Thomas, ich möchte auch zurzeit nicht die Pferde scheu machen. Wer weiß, ob Miss Pherson und ich überhaupt eine gemeinsame Zukunft haben.“ Thomas schüttelte den Kopf. „Vorgestern hast du sie noch verteidigt wie deinen Augapfel und heute stellst du die Beziehung in Frage. Das ist schon ein bisschen merkwürdig, findest du nicht?“ Das hätte David unter anderen Umständen ohne mit der Wimper zu zucken bejahen können; aber er konnte zurzeit schlecht mit der Wahrheit herausrücken, auch wenn er es Thomas gegenüber gerne getan hätte. Doch das wäre ein eklatanter Vertrauensbruch gegenüber Daila gewesen. Also musste er wohl oder übel gute Miene zu lügnerischem Spiel machen. „Naja“, erwiderte David, „merkwürdig würde ich es nicht unbedingt nennen. Zurückhaltend ist der richtige Ausdruck.“ „Hör zu; wenn Miss Pherson oder Kotang oder wie sie auch immer heißen mag, sich ernsthaft in dich verliebt hat, wäre es sehr unfair von dir, nicht offen mit ihr zu reden. Sollte sie eine Hochstaplerin sein, hätte sie es nicht anders verdient. Aber nur die Tatsache, dass sie das Ergebnis einer illegalen Beziehung ist, rechtfertigt nicht, sie zu demütigen. Ich habe mir deinen Protest von vorgestern zu Herzen genommen. Sollte sie sich dir Gegenüber womöglich bei der ersten Begegnung als uneheliches Kind aus verarmtem Landadel vorstellen? Gib ihr wenigstens die Chance, sich zu rechtfertigen, David.“ Der Angesprochene versprach dafür zu sorgen, alle denkbaren Missverständnisse auszuräumen. „Bleibst du zum Dinner?“ „Nein Danke, Thomas, ich fahre nach Hause.“ In Wirklichkeit fuhr er in die Stadt, um noch Besorgungen für Dailas und sein Dinner bei ihm zu Hause zu machen. Es sollte mindestens so festlich ausfallen wie das letzte Mal.

 

Ins Gästehaus zurückgekehrt, machte er sich sofort an die Arbeit. Doch er war noch lange nicht fertig, als Daila bereits erschien. Nach der innigen Begrüßung meinte er enttäuscht: „Diesmal kann ich dich noch nicht überraschen, ich stecke noch mitten in den Vorbereitungen.“ „Mit anderen Worten, ich bin zu früh. Soll ich noch einmal verschwinden und später wieder kommen?“ „Untersteh dich“, protestierte er und zog sie an sich. „Hätte ich auch nicht getan.“ Sie lächelte verschmitzt und fügte hinzu: „Ich werde dir helfen, zu zweit macht es bestimmt auch mehr Spaß.“ „Gerne, Liebste. Aber ist die Nagadshi überhaupt dazu in der Lage, eine Dinnertafel zu decken?“ Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht. Sie löste sich von ihm und wandte sich ab. David stand völlig hilflos da, dann legte er vorsichtig seine Hände auf ihre Schultern. „Ich habe dich eben verletzt, nicht wahr? Es tut mir leid, mein Liebling.“ Zunächst reagierte sie nicht. Doch dann fing sie an, leise zu reden: „Was habe ich die Zeit mit dir genossen, als du die Nagadshi noch nicht kanntest. Jetzt schickt sie sich an, zwischen uns zu treten. Bitte lass das nicht zu, David. Verbanne sie, solange wir beide alleine sind, nur du hast die Macht dazu. Versprichst du mir das?“ Er drehte sie vorsichtig zu ihr um und erkannte, dass sie Tränen in den Augen hatte. Ganz sachte wischte er mit seinem Zeigefinger über ihre Lider. „Das bedeutet aber auch, dass unsere Beziehung nicht offiziell werden kann.“ „Warum?“, widersprach sie ihm heftig. „Wir werden einen Weg dorthin finden. Nur öffentlich darf sie nicht werden. Es braucht niemanden zu interessieren, was David und Daila tun, wenn sie alleine miteinander sind, ob sie lachen, diskutieren, herumalbern, sicherlich auch manchmal streiten oder... naja, du weißt schon.“

Bei den letzten Worten huschte wieder ein Lächeln über ihr Gesicht, das er genauso erwiderte. „Ich frage dich nochmal, schickst du die Nagadshi weg, wenn wir beide alleine sind? Versprichst du mir das?“ „Ja, ich tue es“, flüsterte er und küsste sie. „Jetzt sollten wir aber mit dem Zubereiten des Essens beginnen, Liebster.“ „Einen Moment.“ Ihre Lippen berührten sich erneut. „So, jetzt kann es losgehen.“ Schmunzelnd löste er sich von ihr. Als sie sich in Richtung Küche begaben, hielt er plötzlich inne. „Ich muss vorher noch etwas erledigen.“ Mit diesen Worten eilte er zur Haustür, öffnete sie einer imaginären Person, verbeugte sich und sprach: „Eure Hoheit, Sie sind hier unerwünscht, also bitte verlassen Sie das Haus.“ Er verharrte ein paar Sekunden in dieser Stellung. „Danke für Ihr Verständnis, Eure Hoheit. Auf Wiedersehen, man sieht sich.“ Danach ließ er die Tür schwungvoll in ihre Angeln fallen. Händereibend kehrte er zu Daila, die die Szenerie lachend und mit Kopfschütteln beobachtet hatte zurück und meinte: „So, das wäre erledigt; wir sind jetzt unter uns.“ Dann nahm er sie bei der Hand und führte sie in die Küche, wobei sie eher wie ein Kind neben ihm her hüpfte. „Ist das Thema „Nagadshi“ vollends tabu?“, fragte er vorsichtig. „Nein, natürlich nicht. Ich will diese Rolle bei dir aber vollends ablegen. Über nicht Anwesende kann man ja durchaus reden.“ Dann fügte sie noch schmunzelnd hinzu: „Manchmal macht es durchaus besonderen Spaß, über sie zu lästern.“

Schließlich hatten sie das Dinner zusammengestellt und den Tisch im Essraum gedeckt. Sie waren beide stolz auf das Ergebnis. „Im Palast könnte es kaum festlicher ausfallen, zumindest nicht so gemütlich“, urteilte Daila, worauf sich David auffallend im Zimmer umschaute. „Was ist?“, wollte sie wissen. „Kann es sein, dass sich die Nagadshi wieder unbemerkt hier eingeschlichen hat? Sie, liebe Miss Pherson, können wohl kaum wissen, wie ein Dinner im Palast aussieht.“ Daila lachte. „Ich sehe, du hältst dich peinlich genau an dein Versprechen.“

Beim Abendessen berichtete er ihr über sein Treffen mit dem Gouverneur. „Lord Mc Bride ist auf dem besten Weg, unserem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Noch tappt er im Dunkeln, denkt in eine andere Richtung, aber ich kann ihn nicht allzu lange im Unklaren lassen; er ist mein Freund.“ Daila presste die Lippen zusammen und nickte zustimmend. Man sah ihr an, dass unzählige Gedanken durch ihren Kopf rasten. David ergriff ihre Hand. „Ich muss dir übrigens auch noch das ein oder andere über mich erzählen, Liebste.“ „Oh je, eine Beichte“, ihre Stimme klang scherzhaft, „aber sicherlich wirst du nicht aus einem deutschen Zuchthaus ausgebrochen sein und bei deiner langen Flucht nach Bapogana verschlagen worden sein.“ David schaute sie mit ernster Miene an. „Oder etwa doch?“, hakte sie kleinlaut nach. „Das Schlimme ist, Daila, dass ich dir diese Frage noch nicht einmal eindeutig beantworten kann. Ich habe bezüglich meiner persönlichen Vergangenheit mein Gedächtnis verloren.“ Sie lehnte sich mit großen Augen in ihren Stuhl zurück, worauf er begann, seine Geschichte zu erzählen; wie er plötzlich in der Stadt Isara erwachte, ihm alles unbekannt vorkam und er vom Gouverneur praktisch von der Straße aufgelesen wurde. „Anfangs hatte ich das Gefühl, eine Zeitreise unternommen zu haben.“ „Eine Zeitreise?“, fragte sie ungläubig, „das ist doch nicht dein Ernst?“ „Inzwischen nicht mehr, aber in meinem Kopf kreisten merkwürdige Gedanken. Fantasien von utopischen Fahrzeugen, großen Flugbussen und ähnlichen Dingen. Zu allem Überfluss befanden sich in meiner Tasche merkwürdige Münzen, deren Herkunft niemand hier kannte. Nur der Goldschmied stufte sie als wertvolle, alte Geldstücke ein.“

Im Weiteren erzählte er noch, wie er sich mit Lord Mc Bride und Lady Mary anfreundete und wie die Idee mit der Expedition zur Nemang-Schlucht entstanden war.

Nachdem David seine Ausführungen beendet hatte, saßen sie eine Weile schweigend da. „Zwei geheimnisumwobene Menschen haben zueinander gefunden. Eine Miss Pherson und ein Mr. Shuttler, die es als solche gar nicht gibt. Das ist Schicksal, David. Die Götter haben uns zusammengeführt.“ Sie lächelte ihn auf einmal selig an. „Wenn das mal kein gutes Zeichen ist, Liebster.“ Die Erleichterung, dass sie jetzt auch seine Geschichte kannte, war grenzenlos.

In den nächsten Tagen sprach es sich wie ein Lauffeuer herum, dass die Nemang-Schlucht erkundet werden sollte. Die Zeitungen veröffentlichten die offizielle Genehmigung der Nagadshi, in der allerdings keine Bedingung an Davids Schuhwerk erwähnt wurde. In der Bevölkerung wurde Mr. Shuttler zum britischen Naturforscher und Abenteurer im Diplomatenrang befördert. Er war von heute auf morgen zur Person von öffentlichem Interesse geworden. Die Meinungen über diese Expedition waren allerdings gespalten. Ausgerechnet von britischer Seite kamen die meisten Bedenken, während die Bapos dem eher gelassen gegenüberstanden, frei nach dem Motto, die Nagadshi wird schon gewusst haben, was sie da genehmigt hat. Vor allem der Oberbefehlshaber der britischen Truppen von Bapogana, General George Carter, übte heftige Kritik aus.

Direkt nach Bekanntgabe der Genehmigung suchte er den Gouverneur auf, um seine Bedenken zu äußern. Das Gespräch fand in Thomas Büro statt. „Lord Mc Bride, Sie müssen verhindern, dass dieser Unfug stattfindet.“ Auf den fragenden Blick des Gouverneurs fügte er hinzu: „Ein solches Unternehmen kann zu schweren Verwicklungen führen. Die Nemang-Schlucht ist für Bapos ein heiliger Ort. Wenn dort irgendein dahergelaufener britischer Abenteurer herumstochert, sind Proteste seitens der Bevölkerung vorprogrammiert.“ „Sehr geehrter General, ich weiß gar nicht, warum Sie sich so aufregen. Erstens ist Mr. Shuttler kein dahergelaufener Abenteurer, sondern ein Diplomat Seiner Majestät. Zweitens hat Ihre Hoheit, die Nagadshi, das Vorhaben eingehend geprüft und genehmigt.“ „Bei allem Respekt, Mylord, aber sie ist eine Frau und hat von derlei Dingen keine Ahnung.“ Thomas holte tief Luft und erwiderte: „Diese Äußerung lassen Sie besser mal nicht öffentlich werden.“ „Natürlich nicht!“ Der General wirkte verärgert. „Wir sind doch hier unter uns. Unter Briten wird doch so eine vertrauliche Bemerkung erlaubt sein.“ Thomas konnte den General nicht leiden und fühlte sich darin ein weiteres Mal bestätigt. Er zollte der Nagadshi trotz ihres jungen Alters größten Respekt und empfand die abfällige Bemerkung des Generals über sie als unverzeihliche Beleidigung, ließ sich aber nichts anmerken. „Sie waren doch selbst schon in der Nemang-Schlucht, General. Damals haben Sie sich nicht um die Tatsache geschert, dass Sie ein Heiligtum betraten.“ „Und habe es bitter bereut, wie Sie ja sicherlich wissen, Mylord.“

Natürlich konnte sich Thomas daran erinnern. Carter war mit einem Trupp britischer Soldaten, begleitet von einem bapoganischen und deren Kommandeur, in die Schlucht eingedrungen, allerdings mit fatalen Folgen. Von den zwanzig Männern kamen nur fünf lebend zurück; Carter, zwei britische und ein bapoganischer Unteroffizier und deren Kommandeur. Die anderen hatten unerlaubterweise versucht, einen reißenden Flussarm zu überqueren und waren von der reißenden Strömung mitgerissen worden. „Ich bitte Sie daher, Mylord, bei Ihrer Hoheit zu intervenieren, um die Expedition zu verhindern.“ „Das werde ich nicht tun, General. Mr. Shuttler plant seine Tour sehr genau und wird nicht, wie in Ihrem Fall, im Herbst, wenn die starken Regenfälle einsetzen, die Expedition starten.“ „Nun, dann muss ich möglicherweise der jungen Herrscherin selbst ein wenig Nachhilfeunterricht geben.“ Das war eine bodenlose Frechheit. Mc Bride wollte zu heftigem Protest ansetzen, als Mary den Raum betrat. „Ah, wie ich sehe hast du Besuch, Thomas.“ Carter sprang sofort von seinem Stuhl auf und machte eine kurze Verbeugung. „Meine Verehrung, Mylady, Sie sehen wie immer bezaubernd aus. Nein, ich lüge, Sie sehen von Mal zu Mal bezaubernder aus.“ Mary lächelte scheinbar tief geschmeichelt. Thomas wusste die Geste seiner Frau richtig einzuschätzen. Der General fuhr fort: „Wie die aufgehende Sonne. Um nicht Gefahr zu laufen, geblendet zu werden, müsste man wegschauen.“ „Tun Sie es, Mr. Carter, tun Sie es.“ „Oh nein, Mylady, ich genieße lieber den reizenden Anblick.“ Er deutete eine leichte Verbeugung an.

Thomas konnte sich in etwa vorstellen, wie sich die weitere Unterhaltung entwickeln würde. Dennoch lehnte er sich entspannt zurück. „Wie charmant unser General doch ist“, meinte sie lächelnd, „haben Sie die Sätze aus einem zweitrangigen Benimm-Lexikon auswendig gelernt, Mr. Carter?“ Das saß, aber der General sparte dennoch nicht mit Komplimenten. „Mylady, ich meine es wirklich ernst. Einem Gentleman wie mir fällt es wirklich schwer, eine solch bezaubernde Lady nicht anzuschauen. Ihr Herr Gemahl ist zu beneiden.“ Obwohl Thomas klar war, dass die wenig damenhaften Antworten seiner Frau bei solchen Gelegenheiten ihnen eines Tages ein frühzeitiges, ruhiges Leben auf ihrem Landgut in Schottland bescheren würden, bewunderte, ja, liebte er sie darum. „Sehen Sie, Mr. Carter, hier offenbart sich der Unterschied zwischen uns in drei Dingen: Erstens fällt es mir nicht schwer, auf Ihren Anblick zu verzichten. Zweitens beurteilen wir beide Ihre Qualitäten als Gentleman grundsätzlich anders. Und drittens ist mein Mann, Entschuldigung, mein Herr Gemahl, nicht in jeder Hinsicht zu beneiden, jedenfalls nicht bezüglich seines Oberbefehlshabers der britischen Einheiten in Bapogana.“ Carter stand wie versteinert da. Es dauerte Sekunden, bis er reagierte. „Mylord, Mylady, ich verabschiede mich jetzt.“ „Wie rücksichtsvoll von Ihnen.“ Marys Stimme klang die ganze Zeit weich, fast sanft, auch wenn ihre Worte scharf wie das schärfste Messer waren.

Kaum hatte der General den Raum verlassen, seufzte Thomas und meinte: „Du kannst es nicht lassen, meine Liebe.“ „Warum sollte ich? Habe ich dir jetzt bezüglich irgendwelcher Verhandlungen irgendeinen Strich durch die Rechnung gemacht?“ Thomas stand lächelnd auf, trat zu ihr und umarmte sie. „Nein, mein Liebes, im Gegenteil. Einen dicken Strich hast du schon gemacht, aber du hast ihn unter meine Rechnung gesetzt.“ „Aha, worum ging es denn?“ Thomas schilderte ihr die Unterhaltung mit Carter. Sie nickte zufrieden und fragte dann: „Kannst du den General nicht irgendwie los werden?“ Kopfschüttelnd erwiderte er: „Leider nein; er hat zu viele einflussreiche Freunde in London.“ „Hältst du es für möglich, Thomas, dass der Kerl die Nagadshi überredet, ihre Genehmigung zurückzuziehen?“ „Natürlich. Andererseits ist sie so selbstbewusst und klug, sich nicht so leicht von leeren Phrasen beeinflussen zu lassen. Außerdem zieht eine Nagadshi ihre Entscheidung nicht so einfach auf eine Intervention hin zurück.“ „Wirst du Mr. Shuttler warnen?“ Er überlegte eine Weile, bis er antwortete: „Ich glaube nicht, das würde ihm nur unnötige Sorgen bereiten.“

 

Mary und Thomas waren während ihrer Unterhaltung in Richtung Terrasse geschlendert und nahmen nun dort Platz. „Was ist das für ein Vorfall in der Nemang-Schlucht gewesen, in den General Carter geraten war?“, wollte Mary wissen. Stirnrunzelnd fing Thomas nach kurzer Pause an zu erzählen: „Das war eine dubiose Angelegenheit. Ich kenne sie nur aus den Akten, denn es geschah lange vor unserer Zeit. Carter war damals noch nicht General, sondern Captain. Der Nagadsha beauftragte einen Trupp seiner Soldaten, bis zu einem bestimmten Punkt der Nemang-Schlucht vorzudringen. Den Grund kennt man bis heute nicht; es muss sich um eine geheime Mission gehandelt haben. Da dem bapoganischen Militär einige wichtige Ausrüstungsgegenstände und Spezialisten fehlten, bat der Nagadsha die Briten um Hilfe, die sie ihm in Gestalt Captain Carters und seinen Leuten gewährte. Nach Darstellung der Überlebenden handelte es sich um einen Unfall durch maßlosen Leichtsinn. Die betroffenen Soldaten sollen demnach ohne Erlaubnis bei einer Pausierung in einem Zwischenlager aus purer Abenteuerlust versucht haben, einen reißenden Fluss zu überqueren, der in einen Wasserfall mündete. Das leichtsinnige Unternehmen ging schief. Alle beteiligten Soldaten kamen ums Leben. Die restlichen fünf Überlebenden brachen natürlich die Mission ab und kehrten unverrichteter Dinge zurück.“ „Hatte das denn für die Offiziere und Unteroffiziere keinerlei Konsequenzen?“ „Nun, die Royal Army leitete eine Untersuchung ein und kam sehr schnell zu dem Schluss, dass Captain Carter und seine britischen Kameraden keinerlei Schuld, etwa Verletzung der Aufsichtspflicht gegenüber Untergebenen, treffe. Im Gegenteil, Carter bekam für seinen angeblich heldenhaften Einsatz beim Rettungsversuch der Verunglückten noch einen Orden und machte eine steile militärische Karriere. Die beiden Bapos waren da erheblich schlechter dran. Der Nagadsha stellte sie unter Ausschluss der Öffentlichkeit vor ein Soldatengericht. Wie die Anklage lautete, blieb streng geheim, auch das Urteil. Es ging damals wohl das Gerücht um, sie wurden wegen Hochverrats zum Tode verurteilt, aber anschließend vom Nagadsha begnadigt. Der Wahrheitsgehalt ließ und lässt sich nicht nachprüfen.“ „Wurde die Mission nachgeholt?“ „Soweit ich weiß, nein. Jedenfalls nicht mit britischer Beteiligung.“ Mary schaute Thomas mit bohrendem Blick an und stellte fest: „Wenn sich der Grund für die Mission nicht im Laufe der Zeit von alleine erledigt hat, könnte die Nagadshi David Shuttler damit erneut beauftragen.“

Thomas bekam große Augen. „Natürlich, Liebste, auf diesen Gedanken bin ich noch gar nicht gekommen!“ Dann fügte er etwas weniger aufgeregt hinzu: „Andererseits glaube ich nicht, dass ein Ausländer eine Aufgabe übertragen bekommt, die offenbar derart heikel ist. Aber er könnte einen einheimischen Offizier zur Seite gestellt bekommen.“ Mary schüttelte den Kopf. „Die ganze Geschichte kling verworren; mal geheimnisvoll, mal wie eine Posse. Was könnte denn so top secret sein, dass nur der Nagadsha, beziehungsweise die Nagadshi, davon weiß?“ „Vielleicht geht es um spirituelles“, erwiderte Thomas, „bekanntlich ist die Nemang-Schlucht ein Ort von Geistern und Göttern. Aber meistens stecken handfeste, materielle Dinge dahinter, Bodenschätze zum Beispiel.“ „Trotzdem lässt das alles einem den kalten Schauer über den Rücken laufen.“ Mary schüttelte sich bei ihren Worten. „Sind eigentlich die Leichen der verunglückten Soldaten jemals wieder aufgetaucht? Der Fluss müsste sie doch bis nach hier unten geschwemmt haben.“ „Das ist nie geschehen, Liebste, sie blieben bis heute vermisst.“ „Iiih!“, entfuhr es Mary, „das heißt, die Toten befinden sich noch irgendwo in der Schlucht, hängen womöglich an irgendeinem Geäst des Flussufers; wie gruselig.“ Sie schüttelte sich erneut. „Thomas, lass uns über etwas anderes reden, sonst schlafe ich die ganze Nacht nicht oder nur mit Alpträumen.“ Thomas nahm sie in die Arme. „Natürlich mein Liebes. Zum Beispiel darüber, dass General Carter in manchen Punkten durchaus Recht hat.“ „Inwiefern?“ „Du siehst wirklich von Tag zu Tag bezaubernder aus.“ „Danke“, erwiderte sie und stellte dann fest: „Es ist schon erstaunlich, welch großen Unterschied es macht, wenn ein und dasselbe Kompliment von zwei verschiedenen Personen ausgesprochen wird. Aus deinem Mund gefällt und schmeichelt es mir.“

An einem Abend dieser Tage brachte Daila eine Mappe mit dem Wappen der Nagadsha-Familie zum Besuch bei David mit. Ein sich anschleichender Berglöwe auf rotem, kreisrundem Hintergrund zierte das Schriftstück. David war natürlich neugierig, was es damit auf sich hatte. Spitzbübisch grinsend reichte sie ihm die Mappe und meinte: „Bitte sehr, lies selbst.“ Kaum hatte er sie aufgeschlagen, protestierte er: „Daila, was soll das?“ Ihm offenbarten sich völlig unverständliche Schriftzeichen, von denen er nicht einmal wusste, in welcher Richtung sie gelesen werden mussten. Daila lachte wie ein Kind, dem gerade ein Streich besonders gut gelungen war. „Offenbar bist du unserer Landessprache in Schrift und Bild nicht mächtig, Liebster.“ Er ließ die Mappe langsam sinken. „Das überrascht dich jetzt aber, stimmt’s?“ „Stimmt“, bestätigte sie und glich dabei in ihrer Haltung auffallend dem Berglöwen auf ihrem Wappen. Als sie dicht genug bei ihm war, stellte sie sich auf die Zehenspitzen, um ihn auf den Mund zu küssen. Dann nahm sie ihm die Mappe wieder ab und sagte: „Das ist eine Ermittlungsakte der Polizeikommandantur. Darin wird ein gewisser David Shuttler verdächtigt, ein Mordkomplott zu schmieden. Du erinnerst dich an den kleinen Zwischenfall mit den Polizisten vor dem Mittagsessen in der Herberge?“ „Natürlich erinnere ich mich. Aber wieso richtet sich der Verdacht nur gegen mich? Du warst es doch, die die Morddrohung ausgesprochen hat.“ „Das stimmt, Liebster, aber die Nagadshi hat darauf bestanden, dass mein Name aus der Akte gestrichen wird und die Ermittlungen sich nur gegen David Shuttler richten.“ So ernst, wie sie die Sachlage vortrug, musste er das Gesagte glauben und er starrte sie mit offenem Mund an. Sie schaffte es, noch ein paar Sekunden ihre Miene beizubehalten. Dann widerholte sich dieselbe Szene wie vorhin; Dailas Lachen über ihren besonders gut gelungenen Streich. Sie brauchte ein wenig Zeit, um sich vernünftig zu artikulieren. „Das war nur ein Scherz, Liebster. Natürlich werde ich, genauso wie du, erwähnt.“

David sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. „Wenn du willst, dass ich einem Herzinfarkt zum Opfer falle, mach nur so weiter.“ „Sei mir bitte nicht böse, Liebster.“ Sie formte dabei einen derartig betörenden Schmollmund, dass er unwillkürlich lächeln musste. Während er sie in die Arme nahm, flüsterte er: „Biest.“ Doch nun wollte er endlich wissen, was das mit der Akte zu bedeuten hatte. Dazu bedurfte es keiner langen Erklärung. „Ganz einfach: Nichts. Solange die Akte nicht der Kommandantur vorliegt, geht auch keine Gefahr von ihr aus.“ „Vermisst dort niemand dieses Schriftstück?“ „Nein, warum auch? Man weiß, dass es offiziell der Nagadshi ausgehändigt wurde. Und solange es nicht zurückkehrt, rührt sich bezüglich der polizeilichen Untersuchungen gar nichts. Und wenn es zurück kehrt, wird es mit der Unterschrift, dem Siegel und dem Vermerk der Nagadshi „Ermittlungen eingestellt“ versehen sein.“ Manchmal wurde David angesichts der Macht Dailas etwas mulmig zumute. „Es sei denn“, fügte sie hinzu, „du gibst mir den Anlass, die Akte doch wieder unverändert der Polizei zu übergeben.“ „Aha und was wäre ein solcher Anlass?“ „Zum Beispiel, wenn du mich nicht auf der Stelle in die Arme nimmst und küsst.“ „Das wäre dann aber ein erpresster Kuss.“ „Soll das etwa heißen, es fällt dir schwer, zärtlich zu mir zu sein?“ „Und wie!“ Er zog sie an sich und flüsterte: „Ich werde dir jetzt demonstrieren, welche Überwindung es mich kostet.“ Ihre Lippen berührten sich. „Ich liebe dich, Daila.“ Sie antwortete nicht, sondern hielt die Augen geschlossen und lächelte selig. David ergriff ihre Hand und führte sie ins Schlafzimmer.