Bapogana

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Offenbar wusste Miss Leema nicht, wie sie sich von Mr. Shuttler verabschieden sollte; eine solche Stelle im Protokoll, die das geregelt hätte, kannte sie nicht. Sie umschiffte die Klippe aber geschickt, indem sie ihm gegenüber eine leichte Verbeugung andeutete und seinen Namen nannte. Kaum hatte sie den Raum verlassen, meinte David leicht enttäuscht: „Wenn du jetzt den Gouverneur empfängst, ist der Besuch bei deinem Vater wohl fürs erste auf Eis gelegt.“ „Unsinn; bis Lord Mc Bride hier eintrifft, ist unsere Visite schon längst beendet. Mein Vater rechnet jetzt mit dir in meiner Begleitung. Außerdem kann der Gouverneur warten, mein Vater nicht.“ David nickte zufrieden. „Also suchen wir ihn sofort auf; habe ich das richtig verstanden?“ „So ist es.“

Er wurde sich plötzlich bewusst, keinen Schimmer davon zu haben, was er beim Nagadsha sagen und wie er sich verhalten sollte. Die entsprechende Frage an Daila wurde nicht gerade umfassend beantwortet. „Sag irgendetwas. Sprich vom Heiraten und so etwas in der Richtung.“ Kopfschüttelnd kommentierte David ihre Worte: „Du weiß es also auch nicht. Wegen dem Heiraten suchen wir deinen Vater ja schließlich auf. Die Frage lautet, wie ich es formulieren soll. Mit der Tür ins Haus fallen? Eine stundenlange Erklärung abgeben, um dann endlich gnadenlos auf den Punkt zu kommen?“ „Ganz genau.“ „Gern, Daila; deine Erklärungen sind umwerfend. Du bist die Nagadshi und nicht das Orakel von Delphi.“ Sie musste über den Vergleich lachen. „Suche den Mittelweg zwischen „Tür ins Haus fallen“ und „stundenlanger Erklärung“. So und jetzt lass uns zu ihm gehen.“

Erstaunt stellte David fest, dass sie diesmal einen anderen Weg wählte, als beim ersten Besuch. Sie betraten nicht den offiziellen Teil des Palastes, sondern benutzen Wege, auf denen ihnen kein einziger Soldat der Palastwache begegnete. „Hält sich dein Vater heute in einem anderen Raum auf?“ „Nein, er weilt in demselben Raum wie beim letzten Mal.“ „Aber der Weg dorthin ist ein anderer“, stellte David fest, „gibt es hier keine Wachen?“ „Nein, es verhält sich genauso wie in den Privatgemächern.“ „Aha. Das bedeutet, meine Nase wäre heil geblieben, wenn du mich schon das letzte Mal diesen Weg entlang geführt hättest.“ Schmunzelnd widersprach sie: „Deine Nase wäre heil geblieben, wenn du an Ort und Stelle auf mich gewartet hättest und nicht so vorwitzig gewesen wärst.“ David wollte nicht unmittelbar vor dem Besuch beim Nagadsha eine Diskussion mit ihr vom Zaun brechen, deshalb sagte er nichts darauf.

Als sie den Raum betraten, traf David dieselbe Konstellation wie beim ersten Besuch vor. Er sah sie nur von einer anderen Perspektive, da sie nicht den offiziellen Eingang benutzt hatten. Kaum hatte er sich verbeugt, winkte der Nagadsha mit der Hand. „Kommen Sie an mein Bett, Mr. David Shuttler. Meine Tochter berichtete mir, Sie wollten mir eine wichtige Mitteilung machen. Also bitte, ich warte, wenn ich auch nicht sonderlich gespannt bin. Eine Überraschung werden Sie für mich kaum bereit halten.“ David wusste die Worte des Nagadsha nicht recht zu deuten. Hatte Daila ihm gegenüber das Geheimnis schon gelüftet oder erwartete er banale Informationen, zum Beispiel über die Nemang-Schlucht. „Nehmen Sie Platz, Mr. David Shuttler.“ Neben dem Bett stand ein Stuhl für ihn bereit. „Eure Hoheit“, begann David mit klopfendem Herzen, „In der letzten Zeit haben sich die Dinge so entwickelt, ...“ Er wurde noch nervöser, da der alte Herr zu schmunzeln begann, „... dass sich Ihre Tochter und meine Wenigkeit entschlossen haben, die komplizierte Beziehung zwischen uns beiden endgültig auf klare Bahnen zu lenken.“ Aus dem Schmunzeln des Nagadshas wurde ein Lachen. Völlig verunsichert schaute David zu Daila, die die Stirn runzelte und mit der Schulter zuckte. „Daila, will dein Verehrer damit mitteilen, dass er die Nagadshi zu Heiraten gedenkt?“ Jetzt wurde auch ihr etwas mulmig. „Ja Vater, so ist es.“ Der alte Herr lachte erneut auf. Dann wurde er plötzlich sehr ernst. „Daila, komm zu mir“, forderte er seine Tochter auf. Sie trat an sein Bett. „Gebt mir eure Hände.“ Die beiden gehorchten wie zwei kleine Kinder. „Haltet euren Entschluss mindestens so lange geheim, bis ihr mit dem Zeremonienmeister gesprochen habt. Hört auf seinen Rat und schlagt ihn auf keinen Fall in den Wind. Ich vertraue euch; die Götter mögen eure gemeinsame Zukunft segnen.“ Danach herrschte Schweigen; weder Daila noch David waren in der Lage, die richtigen Worte zu finden. Nach einer Weile beugte sie sich zu ihrem Vater und küsste ihn auf die Stirn, worauf er lächelte und meinte: „Lasst mich jetzt bitte alleine, ich bin müde.“

Die beiden standen auf. David überlegte, ob er sich verbeugen sollte, aber sie deutete mit einer Handbewegung an, es nicht zu tun. Nach dem Verlassen des Zimmers griff sie nach seiner Hand. Schweigend gingen sie nebeneinander her. Als sie schon den Flur Dailas Privatgemächer erreicht hatten, fragte er sie: „Aber jetzt sind wir doch wirklich verlobt, oder?“ „Ja, das darf man wohl jetzt so sehen, wenn auch noch nicht für die Öffentlichkeit“, bestätigte sie. Sie hielten sich noch gegenseitig verliebt anlächelnd bei den Händen, als Miss Leema den Flur betrat und ihn am liebsten direkt wieder verlassen hätte. Doch das konnte sie sich der Nagadshi gegenüber nicht leisten. Also verbeugte sie sich und sagte: „Eure Hoheit, darf ich eine Mitteilung machen?“ „Selbstverständlich, Leema, nur zu!“ „Der Gouverneur ist eingetroffen.“ „Befindet er sich schon im Audienzraum?“ „Nein, Eure Hoheit.“ „Dann führen Sie ihn bitte dorthin. Während der Audienz soll keine Palastwache anwesend sein.“ „Wie Eure Hoheit wünschen.“ Miss Leema verbeugte sich wieder und entschwand. „Sag mal, Daila, Miss Leema und du, ihr beide lauft euch doch ziemlich oft über den Weg, nicht wahr?“ „Ja, natürlich; sie ist meine Privatsekretärin, Bürochefin und engste Mitarbeiterin. Wieso fragst du danach?“ „Muss sie sich dann wirklich jedes Mal, wenn ihr euch begegnet und sie sich danach wieder verabschiedet, verbeugen? Muss in jedem Satz, den sie mit dir spricht, „Eure Hoheit“ vorkommen?“ Schmunzelnd erwiderte sie: „Aha, der künftige Ehemann der Nagadshi beginnt zaghaft, auf das Palastleben Einfluss zu nehmen. Dabei hat er seine Verlobung noch nicht einmal mit einem Kuss besiegelt.“ „Oh, entschuldige, mein Liebling.“ Mit diesen Worten zog er sie zu sich heran. „Jetzt bin ich schon eher bereit, über dieses Thema zu reden“, meinte sie anschließend lächelnd, während er sie noch fest in den Armen hielt. Sie löste sich langsam von ihm. „Du hast Recht, Liebster. Ich habe darüber noch nie so richtig nachgedacht, weil es eingespielt war. Aber es ist in der Tat Unsinn, ein Ritual durchzuführen, das niemandem etwas nützt. Ich werde mit Leema reden und entsprechende Änderungen im formellen Umgang vornehmen. Aber jetzt sollten wir deinen Freund, den Gouverneur, nicht länger warten lassen.“ „Wir?“, fragte er erstaunt. „Natürlich „wir“. Es geht ja auch im dich, David.“

Miss Leema wartete bereits vor dem ausschließlich für die Nagadshi reservierten Eingang des Audienzraumes, als Daila und David dort eintrafen. Der Weg dorthin hatte wieder über Privatflure geführt. Leema betrat den Raum mit der lauten Ankündigung „Ihre Hoheit, die Nagadshi“, erst danach folgten zunächst Daila und dann David. Der Gouverneur stand in gebeugter Haltung. „Willkommen, Lord Mc Bride, bitte nehmen Sie Platz.“ Dailas Stimme klang sehr weich. Zu Miss Leema gewandt erklärte sie: „Sie können sich anderen Aufgaben widmen, Ihre Anwesenheit ist nicht vonnöten.“ David blieb zunächst stehen, während die Nagadshi auf ihrem Sessel Platz nahm. Der Gouverneur nahm die Anwesenheit Davids schmunzelnd zur Kenntnis. „Lord Mc Bride, ich bin äußerst gespannt, was Sie mir mitzuteilen haben.“ „Ich hoffe, Eure Hoheit werden darüber erfreut sein. General Carter wurde von der britischen Regierung Seiner Majestät seines Postens als Oberbefehlshaber der Royal Army in Bapogana enthoben und nach London zurück berufen. Ich erwarte in den nächsten Tagen die offizielle, schriftliche Bestätigung Seiner Majestät.“ Die Nagadshi lächelte zufrieden. „Dafür hätten Sie einen Orden verdient, Lord Mc Bride. Ich bedanke mich für Ihre Bemühungen. General Carters Benehmen war nicht akzeptabel. Außerdem hatte ich den Eindruck, dass er auch in Zukunft dieselbe Verhaltensweise an den Tag legen würde; ein Umstand, der früher oder später sowieso zu diplomatischen Verwicklungen geführt hätte.“ „Eure Hoheit, ich möchte mich noch einmal im Namen Seiner Majestät entschuldigen.“ „Ich nehme diese Entschuldigung an, Lord Mc Bride. Ihre umsichtige Art hat größeren Schaden verhindert.“ Lord Mc Bride antwortete nicht, sondern deutete lächelnd eine Verbeugung an. „Ich stelle also hiermit fest, dass der Expedition von Mr. Shuttler in die Nemang-Schlucht nichts mehr im Weg steht“, stellte die Nagadshi zufrieden fest. „Zumindest von diplomatischer Seite.“ Sie schaute David auf seinen Einwand hin erstaunt an und fragte: „Wie soll man das verstehen? Sind organisatorische Schwierigkeiten in Sicht?“ David begann, langsam im Raum auf und ab zu gehen, während er redete. „Nun, ich bin noch weit davon entfernt, ein schlüssiges Konzept vorlegen zu können ...“ „David“, unterbrach ihn die Nagadshi, „würdest du dich bitte hinsetzen? Es macht mich nervös, wenn du umher läufst. Das bin ich nicht gewohnt.“ Nickend schaute er sich nach einem geeigneten Stuhl um, fand bald einen und zog ihn neben den Sessel Dailas, die seine Bemühungen grinsend beobachtete.

Eine solche Audienz hatte sie bisher noch nicht erlebt, aber das Unkonventionelle gefiel ihr. „Ich glaube, alles was man über die Nemang-Schlucht weiß, zusammen getragen zu haben. Aber jetzt gehen die Vorbereitungen erst richtig los: Die Logistik muss erarbeitet werden. Ich werde in den nächsten Wochen eine Liste der Ausrüstungsgegenstände erstellen. Auch die Frage der Teilnehmer muss geklärt werden. Auf jeden Fall benötige ich erfahrene, einheimische Führer, die sich in dem bereits erforschten Teil der Nemang-Schlucht auskennen.“ „Letzteres soll kein Problem darstellen“, erwiderte die Nagadshi. „Das Unternehmen wird einiges kosten“, David wandte sich an Thomas, „wird das British Empire die Mittel großzügig zur Verfügung stellen?“ „Es kommt sicherlich darauf an, was du unter großzügig verstehst. Mit vollen Händen kann ich das mir zur Verfügung stehende Geld natürlich nicht verteilen.“ „Wollen Sie damit andeuten, man erwartet, dass sich der bapoganische Palast entsprechend an den Kosten beteiligen wird?“ „Eure Hoheit, es liegt mir völlig fern, solch eine Forderung zu stellen.“ David interpretierte die Worte des Lords schmunzelnd: „Aber wenn Eure Hoheit von sich aus auf eine entsprechende Idee käme, hätte der Gouverneur sicherlich nichts dagegen.“ Lord Mc Bride wollte protestieren, aber David ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Siehst du eine Möglichkeit, die Expedition finanziell zu unterstützen?“ „Diese Frage kann ich erst beantworten, wenn ich mit meinem Finanzminister gesprochen habe.“ „Deinen Worten entnehme ich, dass du vorhast, es zu tun.“ Erst schaute die Nagadshi David so streng wie möglich an. Er hielt ihrem Blick schmunzelnd stand, worauf sie den Kopf zur Seite drehte und grinste. Ohne die Anwesenheit des Gouverneurs wäre sie um entsprechende Kommentare an die Adresse Davids nicht verlegen gewesen, aber so zog sie es vor, darüber hinwegzugehen: „Nun gut, meine Herren; wie wir sehen, gibt es noch einiges zu klären, was bei dieser Audienz nicht geschehen kann. Ich schlage daher vor, sie zu beenden.

 

Wenn Mr. Shuttler so forsch an seine Arbeit geht, wie er heute hier aufgetreten ist, dürfen wir ja wohl bald konkrete Ergebnisse erwarten. Dann können wir ja über die finanzielle Seite reden.“ David schmunzelte immer noch. Ihm lag auf der Zunge, zu erwidern: „Wenn ich nicht zu sehr von privaten Angelegenheiten abgelenkt werde, steht dem Fortgang meiner Arbeit nichts im Weg.“ Ihrem warnenden Blick nach schien sie seine Gedanken zu erraten; entsprechend hielt er seinen Mund. „Lord Mc Bride, ich erkenne nochmals Ihre erfolgreichen Bemühungen an. Sprechen Sie Ihrer Gattin meine Empfehlung aus.“ „Danke, Eure Hoheit.“ Damit war die Audienz beendet. Daila und David verließen den Raum auf demselben Weg, wie sie gekommen waren. „Frech“, murmelte sie im Flur. „Wieso? Finde ich nicht. Thomas hat sich doch ausgesprochen korrekt verhalten.“ „Und albern bist du obendrein.“ „Meinetwegen.“ Sie griff nach seiner Hand, während sie den Flur in Richtung Privatgemächer gingen. Dort angekommen, meinte er: „Tja, dann muss ich mich wohl auf dem schnellsten Weg nach Hause begeben, um meine Arbeit aufzunehmen, wenn ich die Nagadshi nicht verärgern will.“ „Untersteh dich! Du verärgerst sie noch viel mehr, wenn wir jetzt nicht gemeinsam zu Mittag essen.“ „Überredet.“ Diese Bemerkung fiel David wirklich nicht schwer. Zunächst begaben sie sich aber in den Salon. Kaum war die Tür hinter ihnen geschlossen, nahm er sie in die Arme. „Daila, ich kann´s noch gar nicht richtig fassen. Wir zwei gehören tatsächlich für immer zusammen. Die Audienz mit deinem Vater steckt mir noch immer in den Knochen.“ „Ja, mir auch Liebster, aber es handelte sich nicht um eine Audienz, sondern um einen sehr, sehr privaten Besuch.“ „Als solchen habe ich ihn auch empfunden; es war ein zutiefst berührender Augenblick.“ Selig lächelnd nickte sie. „Ich liebe dich, Daila.“ „Ich dich auch, David.“ Sie flüsterten beide.

Während des gemeinsamen Mittagessens zeigte David Interesse an der Vergangenheit von Dailas Familie und des Landes Bapogana. Auslöser dazu war Dailas Antwort auf seine Äußerung, er habe befürchtet, der Nagadsha könne ihre Zukunftspläne und eine Heirat seiner Tochter mit einem „No-name“ missbilligen. Sie erwiderte nachdenklich: „Zu den Zeiten meines Urgroßvaters hätten wir sicherlich mit erheblichen Wiederständen der Familie rechnen müssen. Aber mein Vater würde seinen eigenen Ansichten zuwider handeln, wenn er sich gegen unsere Verbindung ausspricht.“ Stirnrunzelnd hakte er nach: „Warum erwähnst du in diesem Zusammenhang besonders deinen Urgroßvater?“ Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und fragte ihn: „Willst du wirklich etwas darüber hören? Langweilen dich alte Familiengeschichten denn nicht?“ „Überhaupt nicht, vor allem dann, wenn es sich um deine Familie handelt.“

Bevor sie anfing zu erzählen, holte sie tief Luft. „Die Dynastie der Nagadshas ist Jahrhunderte alt und nicht immer mit einer ruhmreichen Vergangenheit in Verbindung zu bringen. Die Herrscher dieses Landes beuteten Bapogana teilweise hemmungslos aus und ließen die Bevölkerung oft darben. Dieser Palast ist auch ein Zeugnis dafür, Prunk und Protz waren die Leitfäden der Nagadshas, zu Lasten der hier lebenden Menschen. Obwohl Bapogana reich an Bodenschätzen ist, verarmte die Bevölkerung zunehmend, während die Nagadshas, ihre Familien und der Adel in Saus und Braus lebten. Deshalb ist es völlig verständlich, dass sich unter den Einwohnern Unmut breitmachte. Aber niemand wagte sich zu widersetzen, denn der jeweilige Nagadsha übte seine Macht mit heftiger Gewalt aus. Umso erstaunlicher war es, dass ausgerechnet eine Palastrevolution zu Veränderungen führte. Meine Großmutter, Nagadshi Nona I, war es, die Reformen anmahnte und eine Änderung in der Regierungsweise der Nagadshas verlangte. Bei ihrem Gatten, meinem Großvater, Nagadsha Luampa II, fand sie dabei ein offenes Ohr. Das Dumme war nur, dass dies zu einem Zeitpunkt geschah, als mein Urgroßvater noch in der Blütezeit seiner Macht stand und von solchen reformerischen Thesen überhaupt nichts hielt. Er regierte mit eiserner Hand und ohne Rücksicht auf Verluste. Die verbalen Aktivitäten seiner Schwiegertochter waren ihm ein Dorn im Auge und er empfand es als Verrat, seinen eigenen Sohn auf derselben Linie zu finden. Er verbot den beiden jegliche Äußerungen, die Zweifel an seinem Machtgehabe und seinem Absolutismus aufkommen ließen. Aber er konnte sie nicht mundtot machen. Im Gegenteil, der Thronfolger wurde immer aufmüpfiger. Unterstützt von seiner Frau stellte er öffentlich für die damalige Zeit atemberaubende Forderungen, wie mehr Rechte für die Bevölkerung, unabhängige Gerichte, Verteilung der Gewinne aus den Bodenschätzen Bapoganas an die Bürger, Kampf gegen Hunger und Armut und weitere. Du kannst dir vorstellen, wie mein Urgroßvater vor Wut kochte. Als dann noch in einigen Teilen des Landes Protestkundgebungen stattfanden, die sogar die Hauptstadt Isara erreichten, war das Fass zum überlaufen gebracht, insbesondere durch Rufe aus der Bevölkerung, der alte Nagadsha solle zugunsten seines Sohnes zurücktreten. Meine Großeltern wurden kurzerhand verhaftet und ihnen der Prozess gemacht.

Zum Entsetzen aller verurteilte der Nagadsha seinen eigenen Sohn und seine Schwiegertochter zum Tode. Landesweit nahm man Aufmüpfige fest und erschoss sie. Doch dann geschah etwas Ungewöhnliches. Immer mehr Soldaten weigerten sich, an solchen Gräueltaten teilzunehmen, ihre Offiziere verzichteten wiederum darauf, den Ungehorsam zu bestrafen. Der Nagadsha drängte nun auf den schnellen Vollzug der Hinrichtung meiner Großeltern. Doch an dem festgelegten Tag wendete sich das Blatt urplötzlich. Der Nagadsha befahl dem Oberbefehlshaber der bapoganischen Armee, General Hora, alle wichtigen Orte im Lande von Soldaten besetzen zu lassen, um aufkommende Unruhen im Keim mit Gewalt zu ersticken. General Hora kam der Aufforderung nach, jedoch, wie sich herausstellen sollte, aus einem anderen Grund. Trotz der Ermahnung vieler Priester und Priesterinnen, den Frevel der Ermordung seines eigenen Sohnes und dessen Frau nicht zu begehen, blieb der Nagadsha hart. Die geistlichen Frauen und Männer verkündeten, die Rache der Götter werde angesichts solch einer Bluttat und des Unrechts gegenüber den Menschen im Lande nicht auf sich warten lassen. Daraufhin drohte der Nagadsha, alle Priesterinnen und Priester, die derartiges verbreiten, ebenfalls hinrichten zu lassen; er legte sich also mit den Göttern höchstpersönlich an. Zur Demonstration seiner Macht beauftragte er direkt General Hora, die Tötung meiner Großeltern zu vollziehen. Dieser rückte, wie ihm befohlen, mit einem Trupp zum Palast. Doch jetzt passierte, was niemand erwartet hatte. General Horas Männer überrumpelten in einem Handstrich die Palastwache, er selbst putschte gegen den völlig überraschten Nagadsha. Man sagt, das Ganze habe nicht länger als eine halbe Stunde gedauert. Sämtliche Soldaten hatten die Order, keinem einzigen Bürger des Landes auch nur ein Haar zu krümmen.“

An dieser Stelle hielt Daila inne, denn sie befürchtete, ihre Stimme würde versagen. Aber auch David schwieg, er war so beeindruckt, dass er kein einziges Wort hervorbringen konnte. Es war nicht nur die Geschichte an sich, die ihn bewegte, sondern vor allem die Tatsache, sie praktisch aus erster Hand präsentiert zu bekommen; die historischen Fakten Bapoganas und dessen Nagadsha Luampa II, erzählt von der Enkelin, Nagadshi Luna I, seiner geliebten Daila. Er ergriff ihre Hand und drückte sie zärtlich, worauf sie ihn liebevoll anlächelte.

Schließlich ergriff sie wieder das Wort. „Meine Großeltern wurden umgehend frei gelassen, während mein Urgroßvater nun seinerseits verhaftet wurde, genauso wie alle, die ihn in seinen Schandtaten tatkräftig unterstützt hatten und nun nicht rechtzeitig die Flucht ergreifen konnten. Noch unter dem Eindruck der vorangegangenen Ereignisse trat mein Großvater an der Seite meiner Großmutter und General Horas auf den Repräsentier-Balkon des Palastes und erklärte den bisherigen Nagadsha für abgesetzt und sich selbst zum neuen Herrscher Bapoganas. Auf dem Platz vor dem Palast hatte sich eine riesige Menschenmenge versammelt, denn die Nachricht von den jüngsten Turbulenzen war wie ein Lauffeuer verbreitet worden. Der Versuch meines Großvaters, eine kurze Rede zu halten, ging gründlich in die Hose. Die Menschen brachen in einem nicht enden wollenden Jubel aus. Selbst die sonst so disziplinierten Soldaten unter ihnen stimmten mit ein. Immer wenn sich mein Großvater anschickte, mit seiner Frau und dem General den Balkon wieder zu verlassen, ertönten ohrenbetäubende, schrille Pfiffe, bis er sein Vorhaben aufgab und an seinem Platz verharrte. Keiner weiß, wo die Menschen die vielen Blumen aufgetrieben hatten; auf jeden Fall warfen sie jetzt mit der bunten Pracht in Richtung Palast. Man sagt, das Gefühl der Befreiung, das die Menschen überkam, hätte man förmlich greifen, riechen und schmecken, auf jeden Fall hören können. Einige ganz Schlaue unter den Jubelnden hatten Blumen in Wachs getaucht und damit so beschwert, dass sie bei entsprechend geschicktem Wurf ihren Weg auf den Balkon fanden, wo sie General Hora auflas und meinen Großeltern überreichte. Sie winkten damit den tosenden Massen zu. Wenn du weißt, David, dass wir Bapos eher zu Trägheit und Zurückhaltung neigen, kannst du dir vielleicht die Bedeutung dieses Ausmaßes vorstellen. Genauso gut hätten an diesem Tag die Schweine fliegen und die Adler schwimmen können. So etwas war vorher noch nicht und auch nachher nie wieder geschehen.“

Daila legte wieder eine Pause ein. „Hat dein Vater die Ereignisse miterlebt?“ Daila schaute David merkwürdig berührt an, als sie seine Frage beantwortete: „Wie man´s nimmt. Mein Urgroßvater war so grausam, nicht davor zurückzuschrecken, eine Schwangere unschuldig hinrichten zu lassen. Ohne den mutigen Putsch des Generals säßen wir beide heute nicht hier an diesem Tisch.“ David lief ein kalter Schauer über den Rücken. „Was ist aus General Hora geworden?“, wollte er wissen. „Ein hochdekorierter Mann, vom Nagadsha und dem Volk gleichermaßen verehrt und geachtet. Nach seinem Tod in hohem Alter wurde ein Mausoleum für seinen toten Körper errichtet. Sein Geist aber lebt weiter, er wird auf immer und ewig zusammen mit den Göttern die Geschichte Bapoganas beeinflussen.“ Daila sprach die Worte mit so viel Nachdruck aus, dass David nicht die geringsten Zweifel an ihrem Wahrheitsgehalt aufkamen. Nach ein paar Sekunden des Schweigens stellte er erneut eine Frage: „Willst du mir den weiteren Verlauf der Geschichte noch erzählen? Oder bist du jetzt zu aufgewühlt dazu?“ „Wenn es dich nicht langweilt, Liebster, fahre ich gerne fort.“ „Langweilen?“ David klang fast entsetzt. „Nein, davon kann nicht im Geringsten die Rede sein. Faszinieren wäre eher das richtige Wort.“

Sie waren schon längst mit dem Essen fertig; daher schlug Daila vor, sich in den Salon zu begeben. Nachdem sie es sich dort gemütlich gemacht hatten, kam Daila wieder ohne Umschweife auf das vorangegangene Thema zu sprechen: „Unter der Regentschaft meines Großvaters kam es zu den umfassendsten Reformen, die das Land je erlebt hatte. Die bisherigen Nagadshas hatten unfassbar viele Reichtümer für sich angesammelt, sie hätten das ganze British Empire damit kaufen können. Nagadsha Luampa II griff nun in die Vollen. Er modernisierte die Landwirtschaft, die Erzgewinnung von Gold und Silber und deren Verhüttung, ließ Land an die Bauern verteilen, erhöhte die Hungerlöhne der Arbeiter, ließ Krankenhäuser und Bildungseinrichtungen erbauen und noch vieles mehr. Dabei bat er das Ausland um Hilfe. Das zaristische Russland wandte sich allerdings von uns ab, die dortigen Machthaber fürchteten, unser Beispiel könne auch in ihrem Land Schule machen. Aber die Briten waren mit Rat und Tat sofort zur Stelle. Vor allem Fachkräfte wie Ärzte, Ingenieure und Agrar-Spezialisten aus dem UK halfen bei der Umkrempelung Bapoganas auf vorbildliche Weise. Der Nagadsha schnitt auch alte Zöpfe ab, ließ jedoch die für das Volk Halt gebenden Traditionen neu aufleben. Die Priester und Priesterinnen Bapoganas kamen zu neuen Ehren, Tempel für die Götter wurden erbaut, aber auch anglikanische und katholische Kirchen und Synagogen für die britischen Helfer. Das Land erlebte einen nie dagewesenen Umbruch. Da, wo früher Krankheit, Armut und Elend herrschten, machte sich ein zunächst bescheidener, danach schon ganz ansehnlicher Wohlstand breit. Die Reichtümer der Nagadsha-Familie schmolzen zwar dahin, doch es reicht, wie du ja selbst beurteilen kannst, immer noch für ein repräsentatives und luxuriöses Leben. Wer allerdings vom Adel nicht bereit ist, durch Arbeit zum Sozialprodukt beizutragen, hat keinen Anspruch auf finanzielle Unterstützung, nur weil er der Nagadsha-Dynastie loyal gegenüber steht. Regierungsämter werden fürstlich entlohnt, aber nicht mit Reichtümern überschüttet. Unabhängige Gerichte sorgen für Recht, das diesen Namen auch verdient. Mein Großvater wollte nach Einleitung und Durchführung aller Reformen die Macht an das Volk übergeben, aber noch sind all die gesetzten Ziele nicht erreicht. Kaum jemand in der Bevölkerung wünscht, dass die Nagadshi abdankt. Das braucht seine Zeit, bis Machtstrukturen völlig umgekrempelt werden können.“ Die letzten Sätze Dailas klangen fast wie eine Entschuldigung oder wie eine Erklärung, dass sie von ihrer eigenen Macht keineswegs besessen war.

 

David hatte mit sich gerungen, ob er die nächste Frage überhaupt stellen sollte, weil er sich vor der Antwort fürchtete, aber er stellte sie dennoch: „Was ist aus dem gestürzten Nagadsha und seinen Anhängern geworden?“ „General Hora wurde von meinem Großvater beauftragt, ein Gericht zusammenzustellen, das nach einem fairen Prozess ein gerechtes Urteil fällen sollte. Die Hauptangeklagten wurden zum Tode verurteilt, einige zu lebenslanger Haft, andere des Landes verwiesen.“ Daila schmunzelte bei ihrer Antwort: „Ich sagte dir doch schon einmal, dass man in unserer Familie zu drastischen Maßnahmen greift, wenn man eines Mitglieds überdrüssig wird. Also, nimm dich in Acht!“ „Ha ha! Diesmal lasse ich mich nicht von dir auf den Arm nehmen. Also, was ist mit den Delinquenten passiert?“ „Mein Großvater begnadigte sie; die meisten wurden des Landes verwiesen, der gestürzte Nagadsha unter strengen Hausarrest gestellt. Sein Zimmer hier im Palast existiert bis heute unverändert, so als würde er noch darin leben. Ich werde es dir bei Gelegenheit zeigen.“ David lachte „ Damit ich mich schon mal darauf einstellen kann, wenn es auch bei mir so weit ist, um darin für den Rest meines Lebens zu wohnen.“ „Ganz genau, Liebster, du hast es erfasst.“ Sie lachten jetzt beide. Daila fuhr fort: „Die meisten der Landesverwiesenen gingen nach Russland. Die Reaktion des Zaren und seiner Familie auf die Geschehnisse in unserem Land war das Äußern von tiefsten Bedenken. Meinem Großvater wurde eine düstere Zukunft prophezeit, seine Staatsaktionen führten unweigerlich zu einer Revolution, er würde selbst bald aus Bapogana fliehen müssen, wenn er seine Haut retten wollte. Nun ja, die Geschichte hat, wie ja allgemein bekannt ist, einen anderen Weg bestritten. Die Zarenfamilie wurde ermordet, ich regiere als Nagadshi Luna I unser Land in der dritten Generation nach dem Umsturz. Ich will damit keine Häme zum Ausdruck bringen. Aber irgendwann erntet jede Dynastie das, was sie gesät hat. Man kann sein Land nicht zu den eigenen Gunsten ausbluten lassen, egal ob es riesengroß oder so klein wie Bapogana ist. Auch unsere Familie wird eines Tages abdanken müssen, das sind die Zeichen der Zeit. Aber dann sollte es freiwillig und in Würde geschehen.“ „Sieht dein Vater das genauso?“ „Von ihm habe ich diese Sichtweise übernommen. Wir arbeiten daraufhin, nicht mehr benötigt zu werden. Ich bereite also die Absetzung, beziehungsweise den Rücktritt der Nagadshi vor. Aber das ist noch ein sehr langer Weg.“

Der Geschichts- und Politikunterricht Dailas war für David nicht nur hochinteressant, sondern als eine Art Familienchronik auch für seine eigene Zukunft von Bedeutung, zumal er ein Mann ohne Vergangenheit war. Sie konnte über mehrere Generationen zurück detailliert über ihre Familie berichten, bei ihm war da nur ein schwarzes Loch. Seine Erinnerungen reichten nicht sehr weit, auch wenn sie schon recht erlebnisreich waren. Bei diesem Gedanken fasste er sich unwillkürlich an die Nase, die Gott sei Dank nicht mehr schmerzte und auch optisch kaum Spuren von dem Schlag mehr aufwies. „Die Palastwache scheint aber immer noch vom alten Kaliber zu sein“, bemerkte er, „an ihr sind die Reformen offenbar vorbeigegangen.“ „Das stimmt nicht!“, protestierte sie, wurde aber dann etwas kleinlauter. „Naja, es würde vielleicht nicht schaden, ein etwas genaueres Augenmerk auf sie zu richten. Ich werde mit Hauptmann Rigota reden. Aber jetzt beenden wir das Thema.“ „Schade, ich finde es hochinteressant. Es würde mich zum Beispiel interessieren, ob sich der Soldat inzwischen freiwillig gemeldet hat, der für den vorübergehenden Zustand meiner Nase verantwortlich war.“ Daila seufzte; man merkte ihr an, dass ihr dieses Thema unangenehm war. „Und, hat er?“, hakte David nach. „Jaaa“, druckste sie herum, „aber wir wollten doch über etwas anderes reden.“ „Wir? Ich nicht. Aber, was ist mit ihm passiert? Du hast ihn doch nicht etwa ...“ „Doch, hab ich“, unterbrach sie ihn sofort. Da er sie ziemlich entgeistert anschaute, erklärte sie: „Herrje, der Mann hat sich vor Angst beinahe in die Hose gemacht, als er vor mir stand. Außerdem hat er eine Frau und ein kleines Kind. Deshalb habe ich es dabei belassen, ihm eine ordentliche Standpauke zu halten und angedroht, er werde bei dem kleinsten Vergehen vor ein Militärgericht gestellt. Ich weiß, das war lasch, aber ich habe es einfach nicht fertig gebracht, ihm und seiner Familie“, bei diesen Worten hob sie den rechten Zeigefinger, „die gesamte Zukunft zu verbauen.“ „Oh Daila, Liebste!“, David erhob sich, um sie zu umarmen, „ich bin ja so froh, dass dem Mann nicht mehr widerfahren ist.“ „Es beruhigt mich, dass du das so siehst, David. Ich habe befürchtet, du wärst sauer, wenn der Soldat, der dir so weh getan hat, praktisch straffrei wegkommt. Hauptmann Rigota schien damit überhaupt nicht einverstanden zu sein.“

David wäre gerne noch länger bei Daila in ihrem Salon geblieben, aber der Gedanke an die Arbeit zu Hause veranlasste ihn, sie nun allein lassen wollte. Er hatte jedoch nicht mit ihrem heftigen Protest gerechnet. „Wie bitte? Du bleibst schön hier im Palast. Wir lassen jetzt den Zeremonienmeister kommen, um mit dem zu besprechen, wie wir bezüglich unserer Pläne verfahren sollen.“ Schmunzelnd erwiderte er: „Ich habe der Nagadshi das Versprechen geben müssen, mich forsch an meine Arbeit zu begeben.“ „Das kannst du auch morgen noch machen. Die Nagadshi kann warten, ich nicht.“ David seufzte laut und stieß hervor: „Mögen die Götter dieses Land Bapogana beschützen, es wird von einem Kind regiert.“ Daila schaute ihn mit grimmigem Blick an und sagte leise, aber stechend: „Das geht entschieden zu weit. Zieh das sofort wieder zurück!“ „Also gut“, erwiderte er, „ich wiederrufe. Das Kind regiert gar nicht.“ Daila ergriff das erstbeste Kissen und warf es nach ihm; er lachte, sie stand auf, immer noch bemüht grimmig zu schauen, ging zu einer Wand, an der sich mehrere Schaltknöpfe befanden und drückte auf einen. „Was machst du?“, wollte David wissen. „Ich rufe die Palastwache.“ „Aha, du willst mich demnach verhaften lassen.“ „Natürlich, du hast die Nagadshi beleidigt.“ „Hab ich nicht, meine Feststellung lautete lediglich, dass sie sich wie ein trotziges, kleines Kind benimmt. Es handelt sich dabei um eine Tatsache und nicht um eine Beleidigung.“ Sie ging mit geballten Fäusten auf ihn zu. „Daila, lass das!“

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