Das Spiegelbild

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»Nein, nein. Ich habe ihn nur liegen lassen. Pure Schusseligkeit.«

Doch ganz so sicher war sich Christian bei seiner Antwort nicht. Womöglich war ihm der Schlüssel tatsächlich abhandengekommen. Dies würde auch erklären, dass jemand sein Auto benutzt hatte.

Nachdem der Hausmeister ihm die Tür geöffnet und Christian sich dankend von ihm verabschiedet hatte, stürzte er in die Küche, wo die Schlüssel für gewöhnlich lagen.

»Gott sei Dank«, entfuhr es ihm, als er den Bund auf dem Tisch liegen sah.

Aber, wie zum Teufel konnte jemand mit meinem Auto fahren? Der Reserveschlüssel! Dieser jemand musste irgendwie in den Besitz des Reserveschlüssels gekommen sein. Aber dies bestätigte sich nicht, denn Christian fand ihn im Wohnzimmer-Sekretär, genau an der Stelle, wo er hingehörte. Zusammen mit dem zweiten Haustürschlüssel. In der letzten Zeit passieren verdammt viele Merkwürdigkeiten. Zuerst entwickelt mein Spiegelbild ein Eigenleben, dann macht sich mein Auto selbstständig; mal sehen, wann meine Möbel um mich herum tanzen.

Das Erste, was er überprüfte, nachdem er sich ins Auto gesetzt hatte, waren die Zündkabel; sie waren in Ordnung; niemand hatte versucht, sie kurzzuschließen. Kopfschüttelnd startete er den Wagen, um ins Büro zu fahren.

»Ich habe nicht gewagt, noch einmal anzurufen«, empfing ihn seine Sekretärin. »Aber hab mir ganz ordentlich Sorgen gemacht, ob dir was passiert ist.«

»Ich stand ohne Schlüssel vor meiner Wohnungstür, musste den Hausmeister mobilisieren, damit er mir aufschließt.«

Kerstin quittierte dies mit einem kurzen »Aha!« und fügte dann hinzu: »Wolfgang möchte mit dir sprechen; wegen der neusten Präsentation. Soll ich ihn holen?«

»Das wäre nett von dir.«

Die Besprechung dauerte bis zum Nachmittag. Sie verlief völlig harmonisch und konnte mit einem positiven Resultat beendet werden.

»Meinst du, wir könnten um diese Uhrzeit noch irgendwo so eine Art Mittagessen bekommen? Ich lad dich ein.«

»Gerne«, antwortete Wolfgang. »Der Chinese gegenüber gibt nonstop Essen aus.«

Zwischen Frühlingsrolle und Hauptgericht meinte Christian zu bemerken, dass sein Begleiter ihm etwas mitteilen wollte, aber nicht wusste, wie er es formulieren sollte. Deshalb sprach er ihn direkt an: »Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen? Wenn ja, spuck’s aus.«

Wolfgang druckste noch ein wenig herum, fragte aber schließlich: »Was war eigentlich gestern mit dir los?«

»Ich hatte ein kleines Tief, so ’ne Art Hänger, verstehst du?«

»Klar, so was kommt vor. Aber dass du mir über deine Sekretärin den Rausschmiss androhst, wenn ich nicht spure, finde ich nicht besonders aufmunternd. Es ist noch keine Woche her, da hast du mich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, als gleichberechtigter Partner in deinen Laden einzusteigen. Das ist schon ein ordentliches Kontrastprogramm, oder liege ich da falsch?«

Christian schaute verlegen unter sich, als er antwortete: »Nein! Du liegst nicht falsch. Mein Verhalten war nicht okay. Ich entschuldige mich hiermit dafür. Mein Angebot gilt natürlich immer noch, sofern du nicht die Nase von mir voll hast. Ich will’s dir kurz erklären.«

»Musst du nicht. Deine Entschuldigung reicht mir vollkommen aus. Kerstin hat mir ja schon gesagt, ich solle das nicht so ernst nehmen; du seist halt manchmal ein bisschen komisch.«

»Was? Das hat sie gesagt?«

»Ja, oder so ähnlich.«

»Na warte, der werde ich was erzählen.«

»Um Gottes Willen! Tu das bloß nicht. Sie reißt mir den Kopf ab, wenn sie erfährt, dass du das von mir hast. Außerdem kannst du dir sicher sein, deine Sekretärin immer loyal hinter dir stehend zu haben. Mach also besser keinen Ärger.«

»Hast ja recht, Wolfgang, also reden wir nicht mehr drüber. Aber dir bin ich noch eine Erklärung schuldig.«

Dann erzählte er seine gestrigen Erlebnisse. Wolfgang schaute ihn entgeistert an. Janine erwähnte Christian allerdings nicht, fügte aber die Beobachtung bezüglich seines Autos von heute Morgen hinzu.

»Deinem Blick nach zu urteilen, hältst du mich jetzt für verrückt, stimmt’s?«

»Nun, nicht wirklich. Aber ich glaube, dein Arzt hat recht. Du bist überarbeitet, siehst deshalb Gespenster. Ich würde an deiner Stelle eine Auszeit nehmen. Ich versprech dir, dass ich mich mit voller Kraft um deinen Laden kümmere.«

»Zugegeben, es gab ’ne Menge Arbeit in der letzten Zeit. Vielleicht bilde ich mir die Sache mit dem Spiegelbild wirklich nur ein. Aber wie ist das Phänomen mit meinem Auto zu erklären? Es ist definitiv gefahren worden, und zwar nicht von mir.«

»Bist du dir da sicher? Können nicht auch Gedächtnislücken auftreten, wenn man überarbeitet ist?«

»Ich bin nicht gefahren, Wolfgang, wie denn, ohne Autoschlüssel? Außerdem hat man mich in der in Frage kommenden Zeit im Bistro gesehen.«

»Der ominöse Unbekannte braucht aber auch die Autoschlüssel, um deinen Wagen zu lenken. Dann gibt es nur eine Erklärung: Du hast den Benz gestern vorwärts eingeparkt und die warme Motorhaube war Einbildung. Fahr in Urlaub, Christian.«

»Mmh.«

Christian überlegte, ob er diesem Rat tatsächlich folgen sollte. Aber er verspürte wenig Lust, irgendwo allein ein paar Tage rumzubummeln. Ihm fiel niemand ein, der ihn begleiten könnte. Ob er Janine fragen sollte? Bei diesem Gedanken musste er unwillkürlich lächeln. Eine Frau, die gerade eine Einladung zum Cappuccino abgelehnt hatte, würde ihn wohl kaum auf einer Reise begleiten; zumal ihre Bekanntschaft auf drei Begegnungen basierte, bei denen nur eine banale Plauderei stattgefunden hatte. War er tatsächlich auf dem besten Weg, seinen Verstand zu verlieren?

»Ich werd’s mir überlegen«, sagte er schließlich. »Auf jeden Fall werde ich in der nächsten Zeit kürzertreten.«

Christians Stimmung war alles andere als auf dem Höhepunkt, als er seine Wohnung betrat, was sich beim Abhören des Anrufbeantworters auch nicht bessern konnte. Die letzte Ansage lautete: »Hallo Chrissie, ich bin’s, Melanie. Ruf mich doch bitte zurück, wenn du nach Hause kommst.«

Den Teufel werd ich tun, heute Abend werde ich gar nicht mehr telefonieren.

Er ging ins Badezimmer, um sich die Hände zu waschen. Beim Blick in den Spiegel sah er sein müdes Gesicht. Während er selbst keine Miene verzog, begann sein Gegenüber zu lächeln. Nein, nicht schon wieder! Das Lächeln ging in ein breites Grinsen über. Aufhören, sofort damit aufhören! Sein Spiegelbild kannte offenbar kein Erbarmen. Zu seinem Entsetzen richtete es sich auf, lachte lautlos, drehte sich um und ging aus der Bildfläche.

Christian starrte fassungslos in den leeren Spiegel. Einem Vampir gleich fehlte sein Ebenbild. Das war eindeutig zu viel für ihn. Er stöhnte kurz auf, ihm wurde schwarz vor den Augen und er glitt langsam zu Boden. Als er wieder erwachte, fehlte ihm zunächst jegliche Orientierung. Bevor er registrierte, dass er im Badezimmer lag, wähnte er sich in seinem Bett und glaubte, einen Albtraum hinter sich zu haben. Dann stand er in Panik auf und schaute in den Spiegel, aus dem ihm aber niemand ansah.

Er hatte kein Spiegelbild mehr.

Hektisch rannte er in den Flur, um dort in den Spiegel zu sehen. Hier konnte er sich klar erkennen. Sein Gegenüber tat all das, was auch er machte.

Wieder zurück im Badezimmer wiederholte sich das Phänomen: Er konnte sich nicht sehen, obwohl alle Gegenstände des Badezimmers im Spiegel regelrecht und seitenverkehrt zu erkennen waren. Er brüllte ein lang gezogenes »Aah!« und fasste sich an den Kopf. Schließlich rannte er in die Küche, holte die Rotweinflasche aus dem Kühlschrank, machte sich gar nicht erst die Mühe, ein Glas zu benutzen, setzte sie an den Mund und trank die halbvolle Flasche in einem Zug leer, um sogleich eine weitere zu entkorken.

Diesmal gönnte er sich jedoch ein Weinglas als Trinkgefäß und ging ins Wohnzimmer. Eine wohltuende Wärme stieg in ihm auf, während sich gleichzeitig seine Muskeln entspannten und sein Kopf zu schweben schien.

Als er diese Flasche halb geleert hatte, was erheblich langsamer vonstattenging als bei der ersten, ergriff ihn eine angenehme Gleichgültigkeit. Der Gedanke an sein fehlendes Spiegelbild im Badezimmer ließ ihn völlig kalt. Er trank genüsslich und ohne Eile den restlichen Wein aus, um schließlich torkelnd ins Schlafzimmer zu schlurfen. Ihn übermannte plötzlich eine heftige Müdigkeit, so dass er sich nur noch auf sein Bett warf und in kompletter Kleidung einschlief.

Als er am nächsten Morgen spät erwachte, war das wohlige Gefühl vom Vorabend erheblich schlechteren Empfindungen gewichen. Sein Kopf dröhnte, als ob ein Krad im Schlafzimmer gestartet würde, zusätzlich schien jemand mit zwei Hämmerchen gegen seine Schläfen zu pochen. Zu allem Überfluss erfasste ihn eine Übelkeit, gepaart mit einem säuerlichen Geschmack im Mund.

Er hatte am Abend die Vorhänge nicht zugezogen, so dass jetzt helles Licht den Raum durchflutete. Normalerweise empfand er dies als sehr angenehm, aber heute blendete ihn das Licht auf unangenehme Art und Weise. Er kroch langsam aus dem Bett und bemerkte, dass er es gestern nicht einmal mehr geschafft hatte, sich umzuziehen.

Im Badezimmer angelangt, schaute er in den Spiegel und sah, was er bereits befürchtet hatte: nichts.

Genauer gesagt, er sah das Badezimmer seitenverkehrt, aber er selbst war im Spiegel nicht existent. Komischerweise schien ihm dies nichts mehr auszumachen, er registrierte es und nahm es hin, so wie man einen Regenschauer hinnimmt, obwohl man sich über Sonnenschein mehr freuen würde.

Nach einem Aspirin und einer ausgiebigen Dusche fühlte er sich schon etwas besser. Dann beseitigte er im Wohnzimmer die Spuren des Vortages: ein leeres Weinglas, eine ebensolche Flasche und einen dafür umso volleren Aschenbecher. Nachdem er diese Arbeit erledigt hatte, rief er im Büro an. Seine Sekretärin spulte ihr übliches Sprüchlein herunter, als sie sich meldete. Er ließ sie gewähren und fragte dann mit noch recht müder Stimme: »Hallo Kerstin, ist Wolfgang in der Nähe?«

 

Sie schrie förmlich in den Hörer: »Mein Gott, Chrissie, was ist passiert? Dein Handy ist abgeschaltet, ans Telefon zu Hause gehst du nicht. Wir hatten hier schon Angst, du tust dir was an und es gibt dich nicht mehr!«

»Stimmt ja auch zum Teil, virtuell bin ich nicht mehr existent.«

»Was redest du für wirres Zeug? Soll ich einen Arzt rufen? Ich war schon drauf und dran, Polizei und Feuerwehr zu alarmieren.«

»Vergiss die Luftwaffe und Marine nicht.«

Er hörte ein Rauschen und dumpfe Stimmen, offenbar verdeckte Kerstin das Telefon mit der Hand und redete mit jemandem.

»Hallo Christian!« Wolfgang meldete sich. »Kerstin sagt gerade, dir gehe es nicht gut und du benötigst einen Arzt.«

»Du meine Güte, sag ihr, dass sie sie nicht mehr alle hat.«

»Wörtlich?«

»Natürlich nicht.«

»Also, jetzt sag mir, wie du dich fühlst.«

»So wie nach ausgiebigem Alkohol- und Zigarettenkonsum am Vorabend: Beschissen, aber auf dem Weg zur Besserung. Hör zu Wolfgang, ich mach ein paar Tage blau und versuch, mich zu erholen. Du bist also in den nächsten Tagen der Boss. Geht das in Ordnung?«

»Selbstverständlich, war ja eh mein Vorschlag. Willst du verreisen?«

»Weiß ich noch nicht. Falls ja, werde ich dir mitteilen, wo ich zu erreichen bin.«

»Das kannst du gerne tun; aber sofern unsere Büroräume nicht abbrennen, werde ich mich nicht bei dir melden. Sogar dann nicht, wenn der US-Präsident persönlich hier erscheint, um mitzuteilen, dass die Agentur Maurer seinen nächsten Wahlkampf managen soll.«

»Gut, dass du dieses Thema erwähnst, Wolfgang. Richte in diesem Fall dem Präsidenten aus, dass wir schon seinen Konkurrenten am Haken haben, und beide zu managen, ist ein bisschen viel für uns.«

»Okay, Christian. Ich merke, du hast deinen Humor nicht verloren, also kann’s dir nicht allzu schlecht gehen. Wir alle hier wünschen dir gute Erholung. Bis demnächst.«

»Bis bald.«

Kaum hatte er aufgelegt, klingelte das Telefon.

»Hallo!«

»Hallo Chrissie! Ich bin’s Melanie.«

»Ah, Melanie, schön, dich zu hören.«

Sie war im Moment die Letzte, mit der er sprechen wollte.

»Ich wollte mich noch mal bei dir bedanken, Chrissie.«

»Bedanken? Wofür?« »Na hör mal, du weißt schon: für das liebe Telefongespräch gestern Abend.« »Ach so, keine Ursache.« Verflucht, schoss es ihm in den Kopf, hab ich gestern im Suff etwa Melanie angerufen?

Ich kann mich an nichts mehr erinnern.

»Ich freu mich schon auf unser Wiedersehen«, fügte sie noch hinzu.

Dann war das Gespräch beendet. Oh, mein Gott, was hab ich bloß angerichtet? Ich hab ihr doch wohl nicht irgendwelche Hoffnungen gemacht oder gar ein Date mit ihr vereinbart? Er verdrängte diesen Gedanken schnell wieder.

In den nächsten Tagen versuchte er, sich so gut wie möglich zu entspannen. An dem Phänomen seines fehlenden Spiegelbildes im Badezimmer änderte sich jedoch nichts. Es existierte einfach nicht, und Christian beschloss, das Problem bis auf weiteres dadurch zu lösen, indem er den Spiegel mit einem Handtuch verdeckte.

Fast jeden Morgen frühstückte er zu passender Zeit im Bistro, um mit Janine ein paar Worte wechseln zu können, immer in der Hoffnung, sie irgendwann zu einem Treffen zu bewegen.

»Wie steht’s mit Ihren Klausuren?«, fragte er sie eines Morgens.

»Hab sie bald hinter mir.« Sie lächelte ihn an und fügte hinzu: »Ich hab den Cappuccino nicht vergessen. Sie werden nicht darum herumkommen.«

»Das klingt so, als ob Sie annehmen, ich wollte nicht wirklich mit Ihnen einen Kaffee trinken; dem ist aber ganz und gar nicht so.«

Sie antwortete nicht, schenkte ihm aber nochmals ihr zauberhaftes Lächeln.

Am nächsten Tag unternahm er eine längere Fahrt mit seinem SL und fuhr schon zeitig am Morgen los, sodass er nicht im Bistro frühstücken konnte. Er genoss diesen Ausflug; Auto fahren gehörte zu seinen beliebtesten Freizeitbeschäftigungen.

Am Abend kam er zufrieden nach Hause. Seit dem Abend, als sein Spiegelbild verschwunden war und er seinen Schock mit einem Besäufnis runtergespült hatte, war Alkohol in jeder Form tabu für ihn gewesen. Aber heute Abend wollte er sich ein Glas Rotwein gönnen.

Er nahm sich die Post vor, machte es sich im Wohnzimmer bequem, blätterte die Briefe durch (das meiste war Werbung) und wollte gerade an seinem Glas nippen, als er ein Schreiben des Ordnungsamtes entdeckte. Zu seinem Ärger entpuppte es sich nach dem Öffnen als saftiger Bußgeldbescheid wegen Überschreitens der Höchstgeschwindigkeit, 76 km/h statt erlaubter 50 km/h. Er war weiß Gott kein Raser, aber hier war er wohl einem Blitzgerät in die Falle gegangen. Er studierte das Schreiben genauer und stutzte. Datum und Uhrzeit deckten sich mit dem Termin, als er im Bistro gesessen und anschließend entdeckt hatte, dass sein Auto in der Tiefgarage andersherum gestanden und offensichtlich gefahren worden war. Es war der Tag, an dem er sich selbst aus seiner Wohnung ausgeschlossen hatte und den Hausmeister um Hilfe bitten musste. Und nun lag ihm der schriftliche Beweis vor, dass er sich bezüglich seines Wagens nicht getäuscht hatte. Er spürte, wie ein gewisses Gefühl des Triumphes in ihm aufstieg. Er beschloss, im Laufe des nächsten Tages das Ordnungsamt aufzusuchen, um die Sache zu klären. Wenn er geblitzt worden war, musste ein Bild von dem Dieb und Fahrer seines Benz existieren. Christian lehnte sich zufrieden in seinem Sessel zurück und genoss den Rotwein.

Als er am nächsten Morgen im Bistro Platz nahm, fiel Janines Begrüßung äußerst kühl aus. Nicht einmal der Anflug eines Lächelns zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Sie redete ihn kurz und knapp an, als sie zu seinem Tisch kam: »Ihre Bestellung, bitte.«

Christian hätte sich kaum anders gefühlt, wenn sie ihm eine Ohrfeige erteilt hätte. Da er nicht sofort antwortete, fügte sie hinzu: »Ich komme später noch einmal, vielleicht haben Sie sich dann entschieden, was Sie wollen«, und drehte sich um.

»Moment mal!« Christian hielt sie am Arm fest, sie schüttelte ihn sofort energisch ab und fuhr ihn an: »Lassen Sie das gefälligst bleiben.«

Sie entfernte sich schnellen Schrittes von seinem Tisch. Christian schaute ihr mit offenem Mund nach. Was, um Gottes Willen, war hier vorgefallen? Langsam kam er sich wie ein Statist in einem schlechten Film vor. Es passierten ständig merkwürdige Dinge und niemand klärte ihn auf, um was es eigentlich ging.

Nach einer Weile erschien Janine erneut an seinem Tisch, blieb in gebührendem Abstand vor ihm stehen und sagte: »Haben Sie sich entschieden?«

»Was ist mit Ihnen los, Janine? Warum sind Sie sauer auf mich?«

»Ihre Bestellung, bitte. Wenn Sie nichts verzehren wollen, können Sie das Bistro ja wieder verlassen.«

»Nicht bevor Sie mir gesagt haben, was hier vor sich geht!«

Sie schaute um sich, als ob sie sich vergewissern wollte, dass niemand die Szene beobachtete oder gar zuhörte und sagte dann in deutlich leiserem Tonfall: »Ich muss Sie bitten, sich spät abends nicht mehr vor dem Haus herumzutreiben, in dem ich wohne.«

»Wie bitte!?« Christian war entsetzt.

»Tun Sie nicht so scheinheilig. Ich habe Sie erkannt. Als ich Ihnen zugerufen habe, sind Sie abgehauen. So etwas nennt man Stalking.«

Er schüttelte den Kopf.

»Nein, Janine, Sie müssen sich geirrt, mich mit jemandem verwechselt haben. Ich weiß nicht einmal, wo Sie wohnen.«

»Bisher fand ich Sie ja keineswegs unsympathisch und hätte mir nie vorstellen können, dass es so jemand wie Sie nötig hat, sich einer Frau gegenüber in dieser Art zu verhalten, aber ...«

»Janine, bitte glauben Sie mir, das war ich nicht. In der Dunkelheit kann’s doch durchaus passieren, dass man glaubt, jemanden zu erkennen, sich aber dabei irrt.«

Jetzt schien sie sich tatsächlich nicht mehr so sicher zu sein und trat einen Schritt näher an ihn heran.

»Gestern Abend, zum Beispiel, habe ich meine Wohnung überhaupt nicht verlassen, sondern die ganze Zeit bei einem Glas Rotwein in meinem Wohnzimmer gesessen und meine Post gelesen. Es war übrigens auch ein Bußgeldbescheid wegen zu schnellen Fahrens dabei.«

Zum ersten Mal lächelte sie wieder an diesem Morgen.

»Geben Sie mir wenigstens eine Chance, zu beweisen, dass ich nicht der Stalker bin, der Sie beobachtet hat. Nennen Sie mir bitte Ihre Adresse.« Als sie zögerte, fügte er hinzu: »Sie gehen doch gar kein Risiko ein. Falls ich Sie im Moment anlüge und doch ein Stalker bin, habe ich bereits Ihre Adresse. Wenn nicht, wäre es Ihnen so unangenehm, wenn ich wüsste, wo Sie wohnen?«

Sie schaute ihn wie ein verängstigtes Kind an, nahm dann ihren Bestellblock und schrieb ihre Anschrift auf, um Christian den Zettel zu überreichen.

»Heute Abend werde ich mich übrigens wirklich vor Ihrem Haus herumtreiben.«

Jetzt lächelte sie wieder, und zwar Gott sei Dank so, wie er es von ihr gewohnt war. Sie entfernte sich von seinem Tisch, ohne seine Bestellung entgegenzunehmen, kehrte aber kurze Zeit später mit einem Frühstücksteller und Getränken zurück.

»Ich bin davon ausgegangen, Sie wollen dasselbe wie gewohnt.«

Christian machte sich anschließend auf den Weg zum Ordnungsamt und suchte dort das im Bußgeldbescheid angegebene Amtszimmer auf. Eine freundliche junge Dame begrüßte ihn mit den Worten: »Was kann ich für Sie tun?«

Er holte den Strafzettel hervor und gab ihn der Frau.

»Um diese Zeit bin ich nachweislich nicht mit meinem Wagen gefahren.«

Sie warf einen kurzen Blick auf das Schreiben, tippte mit geübten Fingern auf der Tastatur eines Computers herum, setzte dann einen Drucker in Gang und übergab Christian ein gestochen scharfes Bild, auf dem er hinter dem Steuer seines Autos deutlich zu erkennen war.

»Haben Sie noch irgendwelche Fragen?«

Fassungslos betrachtete er das Bild. Er konnte sich keinen Reim darauf machen. Doch plötzlich fiel im etwas Entscheidendes auf.

»Schauen Sie mich genau an«, forderte er die Frau auf.

»Was soll das?«, erwiderte sie etwas gereizt.

»Lenken Sie bitte Ihr Augenmerk auf meine Haare.«

»Hören Sie, es gibt bei Bußgeldbescheiden die verrücktesten Ausreden, und alle haben eins gemeinsam: Sie nutzen nichts. Nehmen Sie dieses Foto mit nach Hause und entscheiden dort, ob Sie bezahlen oder Widerspruch einlegen wollen. Ich kann hier sowieso keine Entscheidungen treffen.«

»Das verlange ich auch nicht von Ihnen. Ich bitte Sie nur darum, meine Haare zu betrachten und mir dann zu sagen, auf welcher Seite ich meinen Scheitel trage.«

»Mein Gott, sind Sie hartnäckig. Also gut, Sie haben einen Linksscheitel, zufrieden?«

»Noch nicht ganz. Jetzt schauen Sie bitte auf das Bild hier. Wo befindet sich der Scheitel dieses Mannes?«

Entnervt warf sie einen Blick auf das Foto. Schlagartig war ihre Gereiztheit verflogen.

»Du meine Güte, der hat einen Rechtsscheitel. Aber sonst ist die Ähnlichkeit verblüffend. Haben Sie einen Zwillingsbruder?«

»Nein, hab ich nicht. Der Kerl auf dem Bild ist mir völlig unbekannt. Er muss mein Auto für die Dauer einer Spritztour gestohlen haben. Ich möchte Anzeige wegen Diebstahls erstatten.«

»Dafür sind wir nicht zuständig. Sie müssen zur Polizei gehen.«

»Den Bußgeldbescheid können Sie doch rückgängig machen, oder?«

»Nein, das geht leider auch nicht. Ich rate Ihnen, eine Fotokopie Ihres Personalausweises anzufertigen und diese mit dem von mir ausgedruckten Bild und einem entsprechenden Schreiben dem schriftlichen Widerspruch beizufügen.«

Donnerwetter, dachte Christian, die Frau kann perfekt Amtsdeutsch sprechen.

»Sie haben mir sehr geholfen, vielen Dank«, erwiderte er.

»Das freut mich. Keine Ursache Herr ...«, sie blickte kurz auf den Bildschirm ihres Computers, »Herr Maurer. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg.«

Im Auto nahm sich Christian das Bild noch einmal vor und betrachtete es genau. Ihm lief es eiskalt den Rücken hinunter. Das alles hier kann sich doch nicht wirklich abspielen. Wenn ich irgendjemandem erzähle: mein Spiegelbild im Badezimmer sei verschwunden, fahre mit meinem Wagen in der Gegend rum und trete als Spanner vor der Wohnung einer hübschen Studentin auf, dann lande ich tatsächlich in der Psychiatrie. Wenn mir jemand eine solche Geschichte aufgetischt hätte, bevor mir das alles passiert ist, hätte ich auch kein Wort davon geglaubt.

 

Christian war einerseits zufrieden, mit dem Bild ein Beweismittel in der Hand zu haben, andererseits trieb ihn die Situation fast zur Verzweiflung. Es musste doch irgendeine Möglichkeit geben, diesem Spuk ein Ende zu bereiten. Bisher hatte er für irgendwelchen parapsychologischen Quatsch nur ein verständnisloses Kopfschütteln parat, und jetzt befand er sich selbst mitten drin in einer solchen Geschichte. Ich muss irgendjemanden um Hilfe bitten, alleine komme ich da nie raus, aber wen? Alle Leute, die ihm einfielen, hakte er sofort wieder ab.

Möglicherweise wäre Janine eine vertrauenswürdige Person. Er malte sich aus, wie er ihr, quasi unter vorgehaltener Hand, die Gespensterstory präsentierte. Es gab eigentlich nur zwei Möglichkeiten ihrer Reaktion: entweder würde sie ihn als phantasievollen Humoristen einstufen oder für verrückt halten. Im zweiten Fall wäre die sichere Konsequenz, dass sie jeglichen Kontakt zu ihm abbrechen und jeder weiteren Begegnung ausweichen würde. Cappuccino ade!

Wie war es um Wolfgang bestellt, einem Pragmatiker bis auf die Knochen? Seine Ratschläge waren immer naheliegend, aber was sollte ein praktisch veranlagter Mensch im Fall eines Gespenstes raten? Für das von Christian beobachtete Phänomen des Spiegelbildes hatte er den Vorschlag eines Urlaubs bereitgehalten.

Was würde eigentlich geschehen, wenn sich sein Abbild nicht auf relativ harmlosen Schabernack beschränken würde? Er könnte ja zum Beispiel eine Bank überfallen oder gar eine Frau ... Um Gottes Willen, es muss tatsächlich ein Pragmatiker bei der Lösung meines Problems her. Er kramte sein Handy heraus und rief Wolfgang an.

»Können wir uns mal möglichst bald treffen?«

»Klar, kein Problem. Aber ich wundere mich, dass du nicht verreist bist.«

»Ich erhole mich zu Hause auch ganz gut. Außerdem habe ich noch ein paar persön­liche Dinge zu regeln. Deshalb würd’ ich gerne mal mit dir reden.«

»Natürlich, worum geht’s denn?«

»Das möchte ich nicht am Telefon sagen.«

»Gut. Wie wär’s mit heute Abend?«

»Einverstanden ... Halt; da fällt mir ein, dass ich da schon eine Verabredung habe.«

»Aha, wie heißt sie denn? Doch nicht etwa Melanie?«

»Wie kommst du denn darauf?«

Wolfgang antwortete nicht sofort; es schien, als überlege er, ob er überhaupt eine Erklärung abgeben sollte.

»Na ja«, meinte er schließlich, »sie war neulich hier bei uns in der Firma und wollte dich besuchen. War total erstaunt, dass du Urlaub machst, hättest ihr gar nichts davon gesagt.«

»Die Zeiten sind vorbei, wo ich ihr eine Erklärung schuldig war.«

»Das klang bei ihr aber völlig anders, nämlich so, als ob zwischen euch wieder was läuft.«

»Das muss ein Missverständnis sein, da ist nichts.«

»Hörte sich aber nicht danach an.«

Himmel! Was ist denn da schon wieder passiert?, fuhr es Christian in den Kopf.

»Hör zu, Wolfgang, das ist ein Teil dessen, worüber ich mit dir sprechen will. – Hat Melanie irgendwelche Andeutungen gemacht, ich meine, hat sie behauptet, dass wir uns länger unterhalten haben?«

Wieder dauerte es eine Weile, bis Wolfgang antwortete: »Du warst doch bei ihr, das wird sie ja wohl nicht erfunden haben?«

Am liebsten hätte Christian jetzt laut um Hilfe geschrien, aber er erwiderte nichts auf Wolfgangs Worte, der deshalb fortfuhr: »Hast wohl eine kleine Überraschung parat, was dein Outfit anbelangt, was?«

»Was soll das schon wieder bedeuten?«

»Melanie sagte, du trägst deinen Scheitel jetzt rechts; sie meinte, würde dir gar nicht so schlecht stehen.«

Christian wurde übel. Das erste Mal in seinem Leben hatte er die Kontrolle über die Geschehnisse um sich herum verloren. Sein Spiegelbild war auf dem besten Weg, seine Persönlichkeit ins Wanken zu bringen. »Kannst du mir einen Gefallen tun, Wolfgang?«

»Fast jeden, was soll ich machen?«

»Ruf Melanie an, oder besser noch, fahr zu ihr hin. Sag ihr, dass sie, falls ich bei ihr auftauche, mich hochkant rausschmeißen soll, wenn ich bei ihr anrufe, soll sie sofort auflegen. Erzähl ihr meinetwegen, ich sei ein mieser Schweinehund, der ein übles Spiel treibt, ein Spanner, ein Raser beim Autofahren. So einen wie mich hätte sie nicht verdient.«

»Zum Glück hab ich dir nur fast jeden Gefallen versprochen. Denn das, was du da verlangst, werde ich mit Sicherheit nicht tun. Das musst du schon selber machen, wenn du meinst, dass es richtig ist.«

»Wolfgang, bei mir läuft was gründlich schief. Ich brauche deine Hilfe, komm bitte morgen Abend zu mir!«

»Du wirst mir beinahe unheimlich, Christian. Mach bloß keinen Unfug. Ich komme morgen Abend zu dir.«

Christian murmelte noch ein leises »Danke!«, bevor er auflegte.

Nach dem Gespräch spürte er eine gewisse Erleichterung. Erleichterung darüber, dass er möglicherweise schon bald nicht mehr alleine mit seinem Problem dastand. Er hoffte nur, Wolfgang von der Wahrheit seiner Geschichte überzeugen zu können. Und dies war schon reichlich viel verlangt. Dies Gefühl der Erleichterung wurde aber erheblich durch die Tatsache gedämpft, dass sein virtueller Zwillingsbruder immer aktiver wurde.

Allem Anschein nach war sein Spiegelbild gerade im Begriff, sich in Melanies Leben zu drängen. Christian hatte immer großen Wert darauf gelegt, ihr ehrlich und fair gegenüber zu sein, was man ihr nicht unbedingt nachsagen konnte. Aber er hegte seit ihrer Trennung deshalb keinen Groll gegen sie.

Wenn sein zweites ›Ich‹ nun ein übles Spiel mit ihr trieb, gefiel das Christian überhaupt nicht; das hatte sie nicht verdient. In welche Bereiche seines Lebens würde sich dieses Gespenst noch einmischen? Seine Gedanken kreisten: Wenn all das hier wirklich passiert, und offenbar ist es so, habe ich weder einen Albtraum noch Halluzinationen. Damit ist es auch keine Folge von Überarbeitung oder Erschöpfung. Also kann ich auch bald wieder meiner Arbeit nachgehen!

Gegen 21.00 Uhr machte sich Christian auf den Weg zu der von Janine angegebenen Adresse. Ihre Wohnung lag im ersten Stock eines alten, aber gepflegten viergeschossigen Mietshauses aus der Jugendstilzeit. Die Wohngegend war geprägt von viel Grün um die Häuser. Mächtige alte Bäume säumten die Straße, die in der Mitte einen Grünstreifen führte, der dicht mit Sträuchern bewachsen war.

Janines Wohnung war hell erleuchtet. Christian postierte sich so hinter dem Pflanzenbewuchs, dass man ihn nicht sofort sehen konnte. Alte Straßenlaternen spendeten ein eher spärliches Licht, nur der Bürgersteig vor Janines Haus war durch die auf die Straße fallende Beleuchtung aus ihrer Wohnung relativ hell. Obwohl zu dieser Jahreszeit die Tage schon recht warm waren, konnte es bei Einbrechen der Dunkelheit noch recht kühl werden. Und so war es auch an diesem Abend.

Wenn er zu der hell erleuchteten Wohnung im ersten Stock blickte, erfüllte ihn eine gewisse Sehnsucht, hinaufzugehen und sie zu bitten, ihn hereinzulassen. Aber er widerstand diesem Drang und verharrte hinter den Sträuchern.

Als Janine an einem der Fenster erschien und hinausschaute, spürte er, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Er sah nur ihre Umrisse, aber das reichte, um Schmetterlinge in seinem Bauch kreisen zu lassen. Von nun an trat sie immer wieder kurz ans Fenster, um einen Blick nach draußen zu werfen.

Auf der Straße befand sich außer Christian kein Mensch mehr. Es mag wohl eine geschlagene Stunde vergangen gewesen sein, als sich ein Mann mit schleichenden Schritten auf dem Bürgersteig dem Haus näherte und davor stehen blieb. Er schaute ständig um sich, als wolle er sich vergewissern, nicht beobachtet zu werden. Dann richtete er seinen Blick auf Janines Wohnung. Da sein Gesicht von Christian abgewandt war, konnte er ihn nicht erkennen. Aber Größe und Statur entsprachen der seinen.