Das Spiegelbild

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Bevor sich die Tür des Aufzugs schloss, gab ihr Christian noch einen Kuss. »Wann sehen wir uns wieder?«, fragte sie, als sich die Tür gerade in Bewegung setzte.

Er schob schnell einen Fuß dazwischen, so dass sie sich wieder öffnete. »Ich hol dich heute Nachmittag hier ab. Wann hast du Schluss?« »Weiß ich noch nicht, ich meld mich übers Handy.« Er trat von der Tür zurück, hob beide Hände nach oben und drückte die Daumen. »Viel Glück!«, rief er ihr noch zu, als der Aufzug fast geschlossen war.

Janine begab sich direkt in das Büro Andorrers. Sie wurde von der Sekretärin freundlich begrüßt und sofort in Wolfgangs Büro geführt. Als sie eintrat, schaute er demonstrativ auf die Uhr und meinte: »Ziemlich spät, nicht wahr?«

»Entschuldigen Sie bitte, aber ich, ich ..., ach was soll ich Ihnen vorlügen. Ich hab ganz einfach verpennt. Soll nicht wieder vorkommen.« Wolfgang schmunzelte. »Hatten Sie nicht gestern eine Klausur geschrieben?« Sie nickte. Was geht den das an, dachte Janine, könnt ihn ja mal schocken und erzählen, was ich tatsächlich fast die ganze Nacht gemacht habe. Stattdessen antwortete sie nur kurz: »So wird’s gewesen sein.« »Nun, vergessen wir’s. Sie sind übrigens dem Chef, Herrn Maurer, direkt zugeteilt.« »Dann soll ich mich wohl jetzt bei ihm melden.«

»Nein, er ist zurzeit nicht im Haus. Melden Sie sich bei seiner Sekretärin, vielleicht hat sie Anweisungen erhalten.«

Beim Hinausgehen rief ihr Wolfgang hinterher: »Ich wünsche Ihnen einen schönen ersten Arbeitstag!«

»Danke.« Kerstin versuchte, ihr so viel wie möglich über die Agentur und ihre Arbeit zu erzählen. Die Mittagspause nutzte Janine für ein paar Einkäufe. Danach ließ sie sich weiter von Kerstin über die Firma informieren, bis ihr fast der Kopf rauchte.

Zwischendurch hatten sie aber durchaus Zeit für ein paar Privatplaudereien. Die beiden verstanden sich auf Anhieb gut.

Gegen 16.00 Uhr meinte Kerstin schließlich: »So, jetzt machen wir Feierabend, ich hab genug für heute.«

»Ich ehrlich gesagt auch. Wenn ich nur die Hälfte dessen behalten habe, was du mir heute erzählt hast, ist das schon viel. Es war mir übrigens heute Morgen sehr peinlich, dass ich zu spät gekommen bin.«

Kerstin lachte: »Was soll’s, der Chef ist eh nicht da. Und meinst du, die hohen Herren wären immer pünktlich? Wolfgang verspätete sich gestern um Stunden, weil er am Abend vorher mit unserem Chef einen drauf gemacht hat. Also lass dir deswegen keine grauen Haare wachsen.«

Janine kramte ihr Handy hervor und rief Christian an.

»Kannst du mich jetzt abholen? Ich warte im Büro der Chefsekretärin auf dich. Ist ganz einfach zu finden, den Gang ganz durchgehen, am Ende stößt du automatisch auf die richtige Tür.«

Christian zögerte etwas mit der Antwort.

»Mir wär’s lieber, wenn du in die Tiefgarage kämst.«

»Wieso das denn? Ich hab Angst in der Tiefgarage.«

»Brauchst du nicht, ich hol dich direkt am Aufzug ab.«

»Na gut, ich komme runter. Ich versteh’s zwar nicht ganz, aber bevor ich wieder nerve ... Ich hab übrigens noch eine Bitte. Kerstin hat mir erzählt, dass ihr Auto heute in der Werkstatt steht, können wir sie ein Stück mitnehmen?«

Christians Schläfen fingen an zu pochen, aber bevor er antworten konnte, hörte er die Stimme seiner Sekretärin im Hintergrund: »Nicht nötig, ich will noch nicht nach Hause, sondern gehe noch ein paar Einkäufe machen.«

Man hätte fast den Stein hören können, der Christian vom Herz fiel.

»Hast du Kerstin verstanden? Sie wird nicht mit uns fahren.«

»Hab ich. Ich mach mich sofort auf den Weg.«

Janine drückte das Gespräch weg.

»Ich will ja nicht neugierig sein, ... ach, was rede ich für einen Unsinn, ich bin neugierig. War das eben dein, wie soll ich sagen ...?«

»Ich kann’s dir nicht genau sagen«, unterbrach Janine sie, »es ist was Neues, ganz am Anfang. Schön wär’s schon, wenn was daraus werden würde.«

»Du hast’s gut. Bei mir läuft zurzeit überhaupt nichts.«

»Schwer zu verstehen, bei deinem Aussehen.«

»Danke. Vielleicht verbringe ich einfach zu viel Zeit im Büro.«

»Ich hab mal irgendwo gelesen, am Arbeitsplatz würden die meisten Ehen angebahnt, und Chef und Sekretärin sei eine geradezu klassische Konstellation.«

Kerstin seufzte: »Ich gebe zu, dass ich am Anfang ein bisschen in Chrissie verknallt war, vielleicht bin ich’s sogar immer noch. Aber er zeigt nicht das geringste Interesse. Bin wohl nicht sein Typ.«

»Vielleicht kann man da ja ein wenig nachhelfen«, erwiderte Janine.

»Das glaube ich kaum, ist vielleicht auch besser so.«

»Na ja, wir werden es ja sehen. Vielleicht kann ich dir ein bisschen helfen. – Jetzt muss ich aber runter, er wartet bestimmt schon auf mich.«

Tatsächlich stand Christian am Aufzug, als sie unten ankam.

»Du hättest ruhig raufkommen können, Kerstin ist unheimlich nett. Ich verstehe mich prima mit ihr. Auf der anderen Seite war’s vielleicht besser, dass du hier unten gewartet hast.«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Im Moment bin ich glücklich, Christian.«

»Ich verstehe die Zusammenhänge nicht ganz.«

»Es wäre vielleicht Öl ins Feuer geschüttet worden. Die arme Kerstin hat zurzeit wohl keine Glückssträhne.«

»Aha, und warum nicht?«

»Weißt du, ich hab den Eindruck, sie ist ganz furchtbar in ihren Chef verknallt, und der will nichts von ihr wissen.«

Christian blieb stehen und fragte sie entgeistert anschauend: »Das hat sie dir gesagt?«

»Ja, mehr oder weniger indirekt. Aber warum bist du so entsetzt darüber? Wenn zwei Frauen sich verstehen, reden sie auch über solche Dinge.«

Als ob ich nicht schon genug Probleme hätte, dachte er, ich glaub, ich muss bald klar Schiff machen, sonst werden es immer mehr.

Die beiden wollten gerade in den SL steigen, als Wolfgang um die Ecke bog und sofort auf sie zusteuerte, als er sie erblickte. Oh nein!, schoss es beiden in den Kopf, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Noch bevor er sie erreicht hatte, fing er an zu sprechen: »Ach Janine, was ich Ihnen noch sagen möchte: Wenn Sie sich nach Dienstschluss schon abholen lassen, sagen sie doch wenigstens Ihrem ... Herrn Begleiter, dass er mit seinem Auto nichts in der Tiefgarage zu suchen hat. Sie ist ausschließlich Mitarbeitern dieses Hauses und ausgewählten Besuchern vorbehalten. Fehlt nur noch, dass er sich auf den Parkplatz des Chefs stellt.«

Das zahl ich dir heim, dachte Christian und erwiderte, bevor Janine antworten konnte: »Das tut mir furchtbar leid, ich werde es in Zukunft beherzigen. Nehme an, Sie sind hier der Parkwächter und müssen in der Garage für Ordnung sorgen. Das kann ich gut verstehen, Sie tun ja nur Ihre Pflicht.«

Janine stand wie angewurzelt neben der geöffneten Wagentür und wäre am liebsten im Erdboden versunken.

»Komm, Janine, steig ein, damit wir wegfahren können, wollen den armen Mann doch nicht von der Arbeit abhalten.«

Wolfgang drehte sich auf dem Absatz um und entfernte sich wieder.

»Typisch für solche Leute, alter Wichtigtuer«, fügte Christian hinzu, als sie bereits im Wagen saßen. Es dauerte eine Weile, bis Janine die Sprache wieder gefunden hatte.

»Weißt du, mit wem du da gerade gesprochen hast?«

»Na klar, mit dem Parkwächter.«

»Ich weiß nicht, ob ich morgen überhaupt noch mal hier erscheinen soll?«

»Wieso das denn?«

»Am Morgen komm ich zu spät, am Abend scheißt der, der mich abholt, den Vertreter des Chefs an. Was soll ich eigentlich noch hier?«

»Was, die Figur ist der Stellvertreter deines Chefs? Entschuldige bitte, ich mach das wieder gut. Ich werde morgen mit dem Typen sprechen.«

»Nein Christian, das wirst du nicht, auf keinen Fall. Unsere Beziehung bleibt in Zukunft auf rein privater Ebene, ist das klar? Vielleicht kann Kerstin noch was glatt bügeln, aber du hältst dich da raus.«

Leider schon zu spät, dachte Christian. Sie fuhren eine Weile, ohne zu reden, bis Janine fragte: »Wie lange hast du eigentlich noch Urlaub?«

»Der geht heute zu Ende. Hab gehört, auf meiner Dienststelle läuft einiges schief, muss da einiges regeln und klären.«

»Na also, dann hast du ja selbst einiges am Hals.«

Als sie an ihrem Haus angekommen waren, fragte Christian: »Soll ich mit hochkommen? Nach all dem Ärger, den ich dir bereitet habe?«

Sie hatte ihr Lächeln wieder gefunden und zog ihn am Ohrläppchen.

»Du hast es ja nicht mit Absicht getan. Ich koch was für uns, einverstanden?«

In der Wohnung stellte Janine ihre Einkaufstüten ab.

»Wirst du auch hier frühstücken?«, fragte sie.

»Wenn ich darf.«

»Ich hab hier was für diesen Fall.«

Sie zog aus einer Tragetasche eine Zahnbürste. Er musste lachen.

»Das ist noch nicht alles.«

Nach und nach kramte sie Rasierschaum, Aftershave und einen Nassrasierer heraus.

»Ich dachte, wenn du die Sachen hier in Reserve hast, würde es nicht schaden.«

Er nahm sie in die Arme und gab ihr einen langen zärtlichen Kuss. Schließlich meinte er: »Ich glaube, in mir geht eine besondere Entwicklung vor.«

»Ja, was denn?«

»Man nennt es ›verliebt sein‹, soweit ich weiß.«

Janine hatte für den Morgen den Wecker gestellt.

»Wenn ich mich am zweiten Tag wieder verspäte, könnte ich auch gleich zu Hause bleiben. Andererseits weiß ich sowieso nicht, ob die mir heute den Rausschmiss verkünden, nach dem was gestern vorgefallen ist.«

Sie hatten jetzt genügend Zeit, in aller Ruhe zu frühstücken, wobei sich Christian sehr wortkarg und nachdenklich gab. Heute wollte er den Tag der Aufklärung halten, Janine musste endlich erfahren, wer er wirklich war.

 

»Bist du ein kleiner Morgenmuffel?«, fragte sie ihn scherzhaft.

»Ja, so in etwa.«

»Oder drückt dir die Tatsache, dass dein Urlaub vorbei ist, aufs Gemüt?«

»Das wohl auch.«

»Wenn ich dich mit meinem Gequatsche langweile, sag’s ruhig. Ich kann auch still sein; bin’s schließlich gewohnt, alleine zu frühstücken.«

»Nein, nein, du nervst nicht. Ich höre gerne deine Stimme.«

»Befindet sich dein Amt im Rathaus?«

»Wie bitte?«

»Deine Dienststelle, ist die im Rathaus?«

»Ach so, ja, ich glaube.«

»Was soll das heißen du glaubst? Du musst doch wissen, wo du arbeitest. Oder hast du mir irgendwelche Märchen erzählt?«

Christian drehte sich fast der Magen um.

»Hör zu Janine, ich möchte dir etwas erklären.«

»Hat das nicht Zeit bis heute Abend? Oder willst du mir mitteilen, dass du mir den Laufpass gibst?«

»Um Gottes Willen, nein. Das kommt mir überhaupt nicht in den Sinn.«

»Na also, dann hat’s Zeit bis heute Abend. Fährst du nun zum Rathaus? Dann könntest du mich nämlich mitnehmen. Es schadet bestimmt nicht, wenn ich heute etwas früher in der Agentur antanze, vielleicht hab ich ja noch eine Chance, Pluspunkte zu sammeln.«

»Ich fahr dich hin.«

Mehr sagte er zu diesem Thema nicht. Im Auto verdüsterte sich seine Stimmung noch weiter und er blieb so einsilbig wie zuvor beim Frühstück. Aber auch Janine war nicht mehr so redselig, sie wurde von einer gewissen Nervosität gepackt. Hoffentlich laufe ich nicht als erstes diesem Andorrer über den Weg. Christian wollte seinen Wagen in die Tiefgarage steuern, aber Janine protestierte aufgeregt.

»Nein, Christian, du fährst hier nicht rein. Das Theater von gestern Nachmittag hat mir gereicht. Halt sofort an, ich geh’ durch den Haupteingang.«

Gehorsam stoppte er den Wagen. Nach dem Abschiedskuss fragte sie: »Kannst du mich heute wieder abholen? So gegen 16.00 Uhr?«

»Da kannst du mit Sicherheit von ausgehen.«

Als sie im Gebäude verschwunden war, fuhr er in die Tiefgarage und stellte das Auto auf dem Chefparkplatz ab.

Janine stand bereits im Fahrstuhl und die Tür wollte sich gerade schließen, da sprang im letzten Moment – Wolfgang in die Kabine und begrüßte sie mit den Worten: »Guten Morgen, Frau Steinbiss. Na, das hab ich ja gerade noch so geschafft. Sie haben schon den Knopf gedrückt?«

»Guten Morgen, ja hab ich.«

»Wie hat Ihnen denn Ihr erster Arbeitstag gefallen? War wahrscheinlich alles ziemlich viel für Sie?«

Janine schluckte und dachte: Hat der den Vorfall von gestern Nachmittag etwa schon vergessen? Nachtragend scheint er jedenfalls nicht zu sein. Dann antwortete sie: »Ja, ist am Anfang ziemlich verwirrend. – Hören Sie, ich möchte mich wegen der Sache in der Tiefgarage ...«

»Vergessen Sie’s«, unterbrach Wolfgang sie sofort, »schon abgehakt. Sie können schließlich nichts dafür, wenn sich Ihr Begleiter so ungehobelt benimmt.«

Der Aufzug hielt an.

»Ich wünsche Ihnen einen angenehmen zweiten Arbeitstag.«

Puh, ich bin also noch nicht gefeuert worden.

Christian blieb noch eine Weile hinter dem Steuer sitzen, dann wählte er übers Autotelefon die Nummer seines Büros an. Noch bevor Kerstin ihr Sprüchlein aufsagen konnte, fragte er: »Ist die Praktikantin bei dir?«

»Ja, sie ist gerade gekommen.«

Es hörte sich so an, als ob seine Sekretärin die Hand über den Hörer legte und jemandem etwas zuflüsterte.

Er fuhr fort: »Gut, dann schick sie bitte zu Wolfgang und lass sie sämtliche Unterlagen der Werbekampagne ›Lechter‹ holen. Ich komme gleich ins Büro.«

»Okay, aber das kann ich auch gerade selbst erledigen.«

»Nein, das wirst du nicht tun, schick die Praktikantin, verstanden?«

»Ist ja schon gut, werd ich machen.«

Kerstin legte auf und meinte: »Oje, der Chef kommt gleich und scheint nicht besonders gute Laune zu haben.«

Dann trug sie Janine vor, was sie tun sollte.

Christian atmete tief durch, verließ den Wagen und begab sich in sein Büro.

»Guten Morgen, Kerstin.«

»Guten Morgen, Chrissie, schön dich zu sehen. Wie geht’s dir?«

»Danke gut. Noch gut.«

»Was soll das bedeuten?«

»Man weiß ja nie, was der Tag einem bescheren kann. Ist sie schon zurück?«

»Wer soll schon zurück sein?«

»Na, die Praktikantin.«

»Ich hab sie gerade erst losgeschickt. Sie hat am ersten Arbeitstag noch nicht das Fliegen erlernt, aber wir arbeiten dran.«

Er kommentierte ihren Spruch nicht, sondern öffnete die Tür zu seinem Büro und meinte, bevor er eintrat: »Sie soll sofort zu mir kommen, wenn sie wieder zurück ist. Sag ihr, ich möchte sie wegen der gestrigen Verspätung und dem Vorfall in der Tiefgarage sprechen. Und noch so einigem anderen.«

Dann war er in seinem Zimmer verschwunden. Kerstin atmete laut aus.

Als Janine erschien, legte Kerstin eine Hand auf ihren Arm und wiederholte Christians Worte, denen sie hinzufügte: »Ich hab ihm nichts von der Verspätung erzählt, wahrscheinlich hat Wolfgang gepetzt. Und von der Tiefgarage weiß ich überhaupt nichts.«

»Erklär ich dir später.«

Janine straffte ihre Schultern, sagte: »Na, dann mal rein in die Höhle des Löwen« und klopfte an die Tür.

»Herein!«

Als sie den Raum betrat, war der Sessel hinterm Schreibtisch umgedreht, so dass der Chef mit dem Rücken zu ihr saß.

»Mein Name ist Steinbiss, ich bin die neue Praktikantin. Sie wollen mich sprechen?«

Sie war darauf gefasst, eine Standpauke zu hören, möglicherweise sogar die Kündigung, aber kampflos wollte sie das Feld nicht verlassen.

Christian drehte sich langsam um. Sein Gesicht war recht blass, aber das registrierte sie gar nicht. Sie machte den Mund auf, brachte aber keinen Ton hervor. Stattdessen sagte Christian leise: »Ich glaube, was ich dir zu erzählen habe, hat nicht Zeit bis heute Abend.«

Dann stand er auf und ging auf sie zu. Sein Büro war ähnlich eingerichtet wie das Wolfgangs, auch hier befand sich in einer Ecke eine gemütliche kleine Sitzgruppe.

»Setz dich bitte hin.«

Er ergriff ihren rechten Arm und wollte sie zu einem der Sessel hinführen, aber sie wehrte ihn ab.

»Setz dich doch bitte hin, es wird ein wenig länger dauern, was wir zu besprechen haben.«

Aber sie machte keine Anstalten, sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen, sondern stand wie angewurzelt da. Christian ging zur Sprechanlage und drückte einen Knopf.

»Kerstin, bring uns bitte zwei Espresso.«

Er bekam es langsam mit der Angst zu tun, weil Janine kein einziges Wort herausbrachte und immer noch fassungslos im Büro hin und herschaute. Kerstin kam mit dem Kaffee herein und erschrak, als sie Janine erblickte. Ihr erster Eindruck war, dass sie eben zusammengestaucht worden war. Aber Christian sah nicht so aus, als ob er gerade einen Rüffel erteilt hatte, eher verängstigt oder verschüchtert. Sie stellte rasch das Tablett mit den Tassen ab und verschwand wieder so schnell wie möglich. Endlich fand Janine ihre Sprache wieder.

»Was, was wird hier gespielt, was macht ihr alle mit mir?«

»Ich kann dir alles erklären, aber setz dich bitte endlich hin.«

»Ich hab keine Lust mich hinzusetzen. Welche Schmierenkomödie spielst du mir vor? Welch ein Lügengebilde hast du mir hier präsentiert?«

»Im Prinzip habe ich nie gelogen, nur nie die volle Wahrheit gesagt. Du hast zum Beispiel nie nach meinem Nachnamen gefragt, also habe ich dir nicht erzählt, dass ich Maurer heiße. Ich bin Christian Maurer und Inhaber dieser Firma.«

»Nicht gelogen?« Ihre Stimme wurde lauter. »Weißt du, was du bist? Ein Scheißkerl, ein mieser, kleiner Scheißkerl!«

»Janine, ich ...«

»Halt den Mund«, unterbrach sie ihn barsch, »jetzt rede ich.« Inzwischen schrie sie fast, so dass, ohne etwas von den Worten verstehen zu können, die Geräusche im Vorzimmer zu hören waren.

»Du hast mich hinters Licht geführt, ihr alle hier habt mich hinters Licht geführt! Dieser blöde Andorrer, die ›liebe einfühlsame‹ Kerstin, alle habt ...«

»Nein, Janine. Lass Kerstin aus dem Spiel, sie war genauso ahnungslos wie du, ist es immer noch.«

»Warum tust du jemanden wie mir so etwas an? Suchst du Spaß und findest ihn, wenn du solch hässliche Spiele treibst?«

»Was habe ich denn so Grässliches getan?«

Er trat auf sie zu und fasste mit beiden Händen sanft ihre Schultern an. Aber sie war derart in Rage geraten, dass sie ihm eine schallende Ohrfeige verpasste. Zuerst reagierte er nicht, zog dann langsam seine Hände zurück und sagte leise: »Ich hatte mir ein paar Tage Urlaub genommen und in meinem Stamm-Bistro eine süße, kleine Kellnerin kennen gelernt, die im wahren Leben Psychologie-Studentin ist und eine Stelle als Praktikantin in einer Werbeagentur suchte. Die habe ich ihr verschafft.«

»Du wolltest mich kaufen, so wie du wahrscheinlich alles kaufst, was dir gefällt, du ...«

Weiter kam sie nicht, denn sie musste schluchzen, die Tränen kullerten ihr nur so aus den Augen. Christian wollte sie in die Arme nehmen, aber sie stieß ihn zurück.

»Lass das!«

»Janine, hör mir einen Moment noch zu. Ich frage dich: hättest du die Stelle angenommen, wenn ich den Chef dieser Agentur hätte raushängen lassen? – Du bist nicht der Typ, der sich durch so was imponieren lässt, stimmt’s?«

»Ach was weiß ich«, erwiderte sie, noch immer mit den Tränen kämpfend. »Ich fühl mich belogen und betrogen.«

»Es war ein riesiger Mist, wie ich mich verhalten habe, gebe ich offen und ehrlich zu. Aber ich will dir noch etwas sagen: Ich liebe dich. – Bitte verzeih mir.«

Jetzt unternahm er einen weiteren Versuch, sie in die Arme zu nehmen, diesmal wehrte sie sich nicht.

»Kannst du mir verzeihen?«, fragte er leise.

Sie zuckte mit den Schultern.

Kerstin saß die ganze Zeit wie versteinert im Vorzimmer. Dass sich eine Praktikantin oder ein Praktikant derart lautstark mit ihrem Chef gezofft hatte, war ihr in der ganzen Zeit noch nicht untergekommen. Seit ein paar Minuten herrschte wieder Stille – ein gutes oder schlechtes Zeichen?

Plötzlich öffnete sich die Tür und Janine trat heraus. Kerstin schaute sie erwartungsvoll an und fragte dann: »Was war denn eben da drinnen los? Mein Gott, du hast ja geweint. Was hat der Kerl denn mit dir veranstaltet?«

Wortlos ließ sich Janine auf einen Stuhl gleiten. Nach einer ganzen Weile fing sie an zu reden: »Kannst du dir das vorstellen. Du stehst morgens auf und schwebst im siebten Himmel, nach zwei Stunden glaubst du, genau dieser Himmel erschlägt dich?«

Kerstin sah sie fassungslos an. Dann sagte sie: »Ich versteh überhaupt nichts. Was ist passiert?«

Noch bevor Janine antworten konnte, wurde die Tür erneut geöffnet und Christian trat ins Vorzimmer. Janine deutete auf ihn und meinte, zu Kerstin gewandt: »Frag ihn, was passiert ist. Er weiß es besser. Ich kann nicht mehr zwischen Echtheit und Fälschung unterscheiden. Ich bin nur die nichts ahnende Statistin in einem Theaterspiel.«

»Du bist keine Statistin«, erwiderte Christian. »Du besetzt die Hauptrolle.«

Langsam fing Kerstin an, die Situation zu begreifen. Ohne die näheren Zusammenhänge zu kennen, merkte sie, dass zwischen ihrem Chef und der neuen Praktikantin mehr als nur ein berufliches Verhältnis bestand. Sie verspürte keine besondere Lust, an der schwelenden Auseinandersetzung teilzuhaben und sagte deshalb: »Ich hab noch was zu erledigen, bin mal für einen Moment weg.«

»Du kannst ruhig hier bleiben«, erwiderte Janine. »Ich glaube, es ist besser, wenn ich gehe.«

»Bitte, Janine, das darfst du jetzt nicht tun«, Christian flehte sie fast an. »Komm bitte noch mal zu mir ins Zimmer. Ich warte auf dich.«

Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte fragte Kerstin: »Ihr kennt euch von früher, stimmt’s?«

»Nein, ich hab ihn vor einigen Tagen im Bistro getroffen. Wir sind uns näher gekommen, ohne dass ich wusste, wen ich da vor mir hab. Mir hat er weisgemacht, Angestellter in irgendeinem Amt für Öffentlichkeitsarbeit zu sein. In mir rührte sich nicht der geringste Argwohn, selbst dann nicht, als ich ihm von meiner Bewerbung hier in der Agentur erzählt habe und prompt am nächsten Tag eine Einladung zum Vorstellungsgespräch bekam. Er hat mich heute Morgen noch hierhin gefahren. Du kannst dir vielleicht vorstellen, wie ich Bauklötze gestaunt habe, als ich sein Zimmer betrat und ihn dort sitzen sah.«

 

»Unter welchem Namen hat er dich denn angebaggert?«

»Unter gar keinem, das heißt nur unter seinem Vornamen. Aber Christians gibt’s wie Sand am Meer.«

»Wie nahe seid ihr euch denn gekommen?«

»Sehr nahe, liebe Kerstin, sehr nahe. Er hat bereits zweimal bei mir übernachtet.«

»Soll das also heißen, du pennst mit einem Typen, dessen Namen du nicht einmal kennst?«

Janine rollten die Tränen über die Wangen. Kerstin reichte ihr ein Papiertaschentuch.

»Er hat mich so furchtbar belogen.«

Kerstin überlegte eine Weile und fragte dann: »Sag mal, wie hättest du reagiert, wenn er nach deiner Bemerkung über die Bewerbung hier, gesagt hätte: ›Das trifft sich ja prima, ich bin zufälligerweise dieser Maurer. Ich komme heute Abend in deine Wohnung und wir besprechen alles Weitere‹?«

Janine blickte sie mit großen Augen an, und als sie nicht sofort antwortete, hakte Kerstin nach: »Hättest du dir diese Stelle erschlafen?«

»Natürlich nicht, wo denkst du hin. Ich hätte Christian nicht einmal mehr angeschaut.«

»Na also! Das wird er sich auch gesagt haben. Was denkst du, wie viele Weiber scharf auf ihn sind, weil er der ›Maurer‹ ist. Du hast dich mit ihm eingelassen, weil du ihn magst.«

Janine antwortete nicht. Sie saßen eine Weile stumm im Vorzimmer bis Kerstin meinte: »So und jetzt steh auf und geh zu ihm.«

Janine zeigte den Anflug eines Lächelns und folgte der Aufforderung.

Kaum hatte sich Kerstin wieder ihrer Arbeit zugewandt, erschien Wolfgang in ihrem Zimmer.

»Ist unser Chef anwesend?«

»Ja, aber du kannst nicht zu ihm. Er hat eine wichtige Besprechung.«

»Besprechung? Mit wem?«

»Frau Janine Steinbiss. Dir brauch ich ja wohl nicht zu sagen, worum es dabei geht. Ihr habt der Kleinen ganz schön übel mitgespielt. Es hat vorhin schon reichlich Zoff gegeben. Ich dachte, das dringt bis zu deinem Büro.«

»Oje, der arme Christian.«

»Ich hör wohl nicht richtig. Das ist ja mal wieder eine typische Männersicht. Es müsste doch wohl eher ›arme Janine‹ heißen. Aber das musst du ja anders sehen, schließlich bist du Mittäter.«

»Christian ist nicht nur dein, sondern auch mein Chef. Und ich pflege zu tun, was mir mein Vorgesetzter aufträgt.«

»Im Gegensatz zu mir, oder wie soll ich das verstehen?«

»Das hast du gesagt. – Ich komm später noch mal wieder. Möchte nicht unbedingt hier sein, wenn sie aus seinem Zimmer rauskommt.«

»Feigling!«

Offenbar verlief die Unterhaltung in Christians Büro friedlich, jedenfalls konnte Kerstin keinen Lärm hören. Nach fast zwei Stunden wurde die Tür wieder geöffnet und die beiden betraten gemeinsam das Vorzimmer. Kerstin blickte Christian kurz an, wandte sich dann wieder ihrer Arbeit am Computer zu und sagte: »Hast deine Haare sehr schön sauber, Christian; scheint als habe dir jemand ordentlich den Kopf gewaschen. War wohl auch nötig.«

Er kommentierte ihre Worte nicht, sondern erklärte nur: »Janine und ich gehen in die Mittagspause. Mein Handy ist abgeschaltet.«

»Wolfgang wollte dich sprechen; soll er jetzt grad noch schnell zu dir kommen?«

»Willst du noch so lange warten Janine? Wenn’s dir recht ist, erledige ich das noch schnell.«

Janine lächelte und erwiderte: »Du bist hier der Boss, nicht ich.«

Wortlos kehrte er in sein Büro zurück.

»Und, wie ist’s gelaufen?«, wollte Kerstin wissen. »Hast du ihm verziehen?«

»Das weiß ich noch nicht so genau. Mit einem einzigen Gespräch lässt sich so was natürlich nicht aus der Welt schaffen. Aber ich denke, es ist einen Versuch wert.«

Lächelnd griff Kerstin zum Telefonhörer und sagte Wolfgang Bescheid, dass er kommen könne.

»Manchmal ist Christian ein etwas weltfremder Spinner«, sagte sie dann, »aber er ist weder hinterlistig noch fies.«

Janine wirkte nachdenklich, als sie jetzt sprach: »Sag mal, Kerstin, eigentlich müsstest du doch eifersüchtig sein. Du hast gestern angedeutet, dass du selbst, wie soll ich sagen ...«

»Das ist kein Thema mehr. Kleine Schwärmereien für den Chef kommen vor. Das ist vorbei. Ich kenn ihn doch nur als meinen Boss. Das ist bei dir was anderes. Du brauchst also keine Angst zu haben, von mir geht keinerlei Gefahr aus.«

In diesem Moment kam Wolfgang herein, lächelte etwas verlegen und sagte: »Hallo, ihr beiden!«

»Hallo Herr Parkwächter!«, erwiderte Janine.

Wolfgang beeilte sich, in Christians Büro zu kommen.

»Was hat denn das schon wieder zu bedeuten?«, fragte Kerstin erstaunt.

Janine erzählte ihr von dem Zusammentreffen in der Tiefgarage und brachte damit Kerstin kräftig zum Lachen.

»Mich hat dieser Vorfall alles andere als erheitert. Versetz dich mal in meine Lage. Ich war fast überzeugt davon, heute meine Kündigung zu erhalten. Im Nachhinein war das schon ganz schön fies von den beiden.«

»Versteh ich, Janine, aber langfristig wird Wolfgang das ausbaden müssen. ›Herr Parkwächter‹, das werd ich mir behalten.« –

»Sag mal, Kerstin, warst du nicht mal mit Christian im Bistro Antonio? Ich hab gestern ständig überlegt, warum du mir so bekannt vorkommst, jetzt weiß ich’s.«

»Richtig, mir ging’s mit dir genauso. Du hast da gekellnert, stimmt’s?«

Janine nickte.

»Dann versteh ich aber nicht, warum Antonio dir nicht gesteckt hat, wer Christian ist, schließlich ist er Stammgast im Bistro.«

»Da hast du allerdings Recht. Dann weiß ich auch, wo ich mit Christian zu Mittag esse.«

Es dauerte nicht lange, bis Wolfgang das Büro und das Vorzimmer verließ. Auch diesmal hatte er es relativ eilig.

»Du kannst bestimmen, wo wir hingehen«, meinte Christian, der Wolfgang ins Vorzimmer gefolgt war.

»Sehr gut, wir essen bei Antonio.«

»Wie du willst.«

Auf dem Weg ins Bistro, kurz nachdem der SL die Tiefgarage verlassen hatte, fragte Janine: »Hast du Antonio eingetrichtert, mich bezüglich deiner Person im Unklaren zu lassen?«

Christian antwortete nicht sofort.

»Hast du oder hast du nicht, ich will eine ehrliche Antwort.«

»Ja, ich bekenne mich auch in diesem Punkt schuldig im Sinne der Anklage. – Wieso möchtest du eigentlich ausgerechnet im Bistro essen?«

Janine lächelte. »Weil ich mal von Antonio bedient und nicht herumkommandiert werden möchte.«

»Okay, das verstehe ich. – Wolfgang hat übrigens ein furchtbar schlechtes Gewissen dir gegenüber.«

»Ach ja? Kommt reichlich spät, findest du nicht?«

»Er ist von mir überrumpelt worden. Ich bin an allem schuld, nicht er.«

»Dafür hat er seine Rolle aber perfekt gespielt, dieser Mistkerl.«

Sie schwiegen eine Zeit lang, bis Christian leise und nachdenklich sprach: »Er ist kein Mistkerl. Ganz im Gegenteil.«

»Er hat sich aber so aufgeführt. Zum Beispiel das Theater in der Tiefgarage, das hätte nicht sein müssen.«

»Damit wollte er mir eins auswischen, nicht dir.«

Janine musste an Kerstins Worte denken: ›Christian ist weder hinterhältig noch fies.‹

Nachdem sie das Bistro betreten hatten, suchten sie sich einen ruhigen Tisch aus, soweit das überhaupt möglich war. Um die Mittagszeit war hier einiges los, weil Antonio auch relativ preiswerte Speisen auf seiner Karte anbot, um die Angestellten der umliegenden Büros anzulocken. Als er an den Tisch der beiden trat, um nach ihren Wünschen zu fragen, grinste er, als würde er überlegen, wer wohl wen erfolgreich umgarnt hatte. Janine wiederum genoss es, von ihrem ehemaligen Chef bedient zu werden und seelenruhig an einem Gästetisch zu sitzen, ohne Gefahr zu laufen, sich einen Rüffel einzufangen. Noch vor zwei Stunden war sie allerdings drauf und dran gewesen, ihren Job als Kellnerin wieder aufzunehmen.

Nach der Bestellung griff Christian noch mal das Thema ›Wolfgang‹ auf. »Wenn ich schon meinen persönlichen Offenbarungseid vor dir leiste, komm ich um ein weiteres Kapitel nicht herum, und in dem spielt Wolfgang eine wichtige Rolle.«

»Was hast du jetzt noch für eine Überraschung parat?«, fragte Janine misstrauisch.

»Es hat weniger mit uns beiden zu tun, und ich hoffe, es wird auch so bleiben. Du bist allerdings von dem Problem, um das es sich hier handelt, auch schon tangiert worden.«