GEOCACHING 2.0 - Der neue Freizeitpark in Oberstdorf

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Kapitel 10 - Eishalle Oberstdorf 09.02., 20:30

Die EISBÄREN Oberstdorf verlassen mit hängenden Köpfen das Eis in Halle 2 des Eissportzentrums an der Nebelhornbahn. Soeben haben die Eishockeycracks das dritte Spiel in Folge in der Landesliga Süd/West verloren: gegen die RIVER KINGS aus Landsberg reichte es nur zu einem enttäuschenden 2:4.

Die vereinzelten „Endras raus“-Rufe der knapp hundert Zuschauer steigern sich nach dem Abpfiff der Partie und sind unüberhörbar. Die durch den Vorsitzenden Ulrich Winterscheid zustande gekommenen Transfers von drei DEL-Spielern haben keine Verbesserung gebracht. Der Torwart Bob Rapp wurde gleich nach seinem Debüt nach seiner Tätlichkeit gegen den Vereinspräsidenten noch in der ersten Januarwoche aus dem Vertrag entlassen. Die beiden anderen erhielten Abmahnungen, da sie zu wenig Engagement für den Fünft-Ligisten gezeigt hatten. Die Saisonziele mit dem Aufstieg sind bereits jetzt klar verfehlt worden.

Schweigend steht Trainer Peter Endras am Eingang zur Umkleidekabine und klopft jedem Spieler auf die Schulter. Resigniert hat er nur einen Kommentar: „Das war´s, Jungs!“

Seinem langsam in der letzten Woche gereiften Wunsch, sein Traineramt abzugeben, kommt Winterscheid zuvor. Er hat die einsame Entscheidung ohne Absprache mit den anderen Vorstandsmitgliedern getroffen und diktiert in der „Strafbank“, dem Restaurant über der Eishalle, in die Pressemikrofone:

„Meine Damen und Herren, ich muss Ihnen mitteilen, dass der Eishockeyverein EISBÄREN Oberstdorf mit sofortiger Wirkung seinen Trainer Peter Endras freigestellt hat. Die Entscheidung ist einstimmig und im gegenseitigen Einvernehmen mit Herrn Endras gefallen. Wir danken dem Peter für die geleistete Arbeit in den vergangenen Jahren. Die letzten Spiele dieser Saison wird Co-Trainer Fritz Senfhuber an der Bande stehen. Wir hoffen, dass der Verein dann im nächsten Jahr den angestrebten Aufstieg schaffen wird, ich werde mein Möglichstes dazu beitragen. Unserem Trainer Endras wünschen wir für die Zukunft alles Gute. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.“

Die Zuhörer haben dieses Statement Ulrich Winterscheids ohne große Emotionen aufgenommen. Der Rauswurf des Trainers war im Grunde schon erwartet und von der Lokalpresse gut eingeleitet worden.

Kapitel 11 - Bielefeld, Sparrenstraße 09.02., 21:35

In der ARD läuft wie üblich der „Tatort“, Robert Schibulskys Pflichtprogramm, schon aus altem Berufsethos heraus. Heute ermitteln die Berliner Kommissare Stark und Ritter zum 30. Mal. Dabei gibt Dominic Raacke im „Großen schwarzen Vogel“ letztmals den Kommissar Ritter.

Kurz vor Ende des Films, also kurz vor der Lösung des Falls, läutet das Telefon. Widerwillig schaltet Robert den Fernseher stumm und geht zum Telefonapparat: „Ja, hier Schibulsky“, bollert er in den Hörer.

„Entschuldige den späten Anruf, Opa.“

Als er die Stimme seiner Enkelin einordnen kann, hebt sich seine Stimmung schlagartig. „Ach du bist es, Britta. Oma hat mir schon angekündigt, dass du noch mit mir sprechen wolltest.“

„Genau, Opa. Ich hoffe, es geht dir gut.“

„Na ja, die Ärzte heute, verstecken sich hinter ihren Computern, aber praktisch ist nicht viel los mit denen.“

„Oma hat mir erzählt, dass du wegen MRSA immer noch eine offene Wunde hast.“

„Das ist richtig. Die haben schon verschiedene Antibiotika ausprobiert. Aber ich komme mir dabei langsam immer mehr wie ein Versuchskaninchen vor.“

„Hast du dich deshalb aus dem Evangelischen Krankenhaus entlassen lassen?“

„Ja, das ist aber nur ein Grund, Britta. Vier Wochen nur im Bett und auf der Krankenstation, da wird man ja rammdösig.“

Es entsteht eine kleine Pause. Dann nimmt Britta den Gesprächsfaden wieder auf: „Aber du weißt schon, dass diese Bakterien tödlich sein oder eine Amputation deines Beines nötig machen können?“

Robert antwortet wieder nicht sofort: „Ach, mach´ dir mal keine Gedanken. Unkraut vergeht nicht.“

„Ich habe mit meinem Freund gesprochen. Er kennt hier in München einen Spezialisten, der MRSA-Patienten mit einer alternativen, ganzheitlichen, biologisch und naturheilkundlich ausgerichteten Therapie behandelt. Er verwendet vornehmlich homöopathische, spagyrische, das heißt pflanzliche, und isopathische Medikamente. Gregors Tante ist dadurch schnell geheilt worden.“

„Davon habe ich auch was gehört, oder besser gelesen, deine Oma schlägt so etwas im Internet nach. Aber wer ist Gregor? Muss ich da etwas wissen?“

„Nichts Besonderes. Gregor-Maria zu Hohenstein ist ein Kommilitone, nichts Ernstes.“

„Wenn du das sagst. Aber denke an deine wilden Zeiten noch auf der Hauptschule. Die Arbeit geht vor, also dein Studium, danach steht dir alles frei. Enttäusche mich nicht.“

„Was hältst du denn davon, dass du mich hier in München besuchst. Ein Zimmer für zwei, drei Wochen würdest du bei uns bekommen und dann gehst du mal zu diesem Spezialisten Dr. Jorge Rolf.“

Robert überlegt einen Augenblick, dann schaut er seine Frau an, die ihm übertrieben stark zunickt. „Wenn ich dir damit eine Freude mache, Britta.“

„Natürlich, du weißt doch, dass ich immer sehr gern bei dir bin. Wir machen das jetzt so.“

Die Bestimmtheit der Frauen in der Schibulsky-Familie scheint in den Genen zu liegen, ein Wunder, denn Britta ist ja nur die Stieftochter seines Sohnes Frederik. Dieser Gedanke ruft ein Lächeln und gleichzeitig ein Kopfschütteln bei Robert hervor.

„Ich versuche Termine bei dem MRSA-Spezialisten zu bekommen und rufe dich baldmöglichst wieder an.“

Kapitel 12 - Rathaus Oberstdorf 13.02., 19:00

Der Erste Bürgermeister Korbinian Einödhofer eröffnet pünktlich die letzte Sitzung des Gemeinderats der Marktgemeinde Oberstdorf vor den Bürgermeisterwahlen im kommenden Monat und begrüßt die anwesenden Politiker und Vertreter der Regionalpresse. Allgemein ist Einödhofer als Vertreter der Freien Wähler in der Bevölkerung beliebt. Die Vorkommnisse bezüglich der Projektplanung „Hohenstein“ mit den nicht ganz falschen Anschuldigungen wegen Korruption und das geheim gehaltene Abkommen mit den RECHTLERN aus dem Vorjahr haben aber sicherlich das Renommee Einödhofers etwas angekratzt. Daher möchte er so kurz vor den Neuwahlen mit dem neuen Plan „Oytal“ glänzen und seine beiden Mitbewerben weiter ausstechen.

Dazu hat er sich die Unterlagen des Landschaftsplaners Kurt-Georg Freiwasser der Firma PROFORMA geben lassen. Er möchte zunächst Einzelpunkte diskutieren lassen, erst ganz zuletzt über den Gesamtplan abstimmen lassen.

Nach fast zwei Stunden scheint das Ergebnis klar zu sein. Neben den notorischen Neinsagern ergeben sich zwar Bedenken wegen des Naturschutzes und der Lärmentwicklung, die sich durch die Zufahrt zum Park ergeben würden. Aber der Hinweis auf die Beteiligung an den Gewinnen überdeckt sehr schnell die Einwände. So ergibt sich bei der Endabstimmung ein klares 16:3 für den Beitritt zu der geplanten Entwicklungsgesellschaft „Oytal.“

Kapitel 13 - Oytalhaus, Oberstdorf 14.02., 20:30

Auch der Ausschuss des Vereins der ehemaligen RECHTLER Oberstdorfs kommt wegen des Projektes „Hohenstein“ gerade zusammen, nachdem die „Allgäuer Rundschau“ das Ergebnis der Marktgemeinde von gestern Abend veröffentlicht hat.

Verein der RECHTLER, das bedeutet, dass auf die Häuser, nicht die Familien, die darin lebten, von alters her die tradierten "Rechte" verteilt wurden. Zum Beispiel der Anteil an Holz aus dem "Allmende"-Wald, an der Nutzung der Weiden und Almen für das Vieh und anderes mehr. Festgeschrieben, verbrieft, vererbbar, aber unverkäuflich an Nicht-RECHTLER. Heute sind die 327 Rechte auf 270 Personen aufgeteilt, die von 15 Gewählten im Ausschuss vertreten werden.

Vor sechs Wochen wurde der Vorsitzende des dreiköpfigen Vorstands, Xaver Steingasser, ermordet. Seit dieser Zeit führen seine Vertreter Ludwig Geiger (57), Sägewerksbesitzer aus Dietersbach und Wilhelm Gruber (61), Land- und Gastwirt in Gerstruben, den Verein provisorisch.

„Grüß euch Gott, alle miteinander“, eröffnet Geiger die Sitzung hier in der RECHTLER-Gaststätte Oytalhaus. „Zuerst möchte ich heute Abend zunächst unseren verstorbenen Vorsitzenden ehren. Ich glaube, alle stimmen mit ein, unser Xaver hat seine Pflichten bestens erfüllt. Daher darf ich euch bitten, für eine Gedenkminute aufzustehen.“

Alle erheben sich auf Kommando. Im großen Schankraum hört man nur das leichte Knacken des Kaminholzes im Kachelofen.

Anschließend wird der Vorstand gewählt. Wie nicht anders erwartet erhielten Ludwig Geiger 12 Stimmen, Wilhelm Gruber 11 Stimmen. Mit acht Stimmen bekam Kreszentia Schönauer (63), Heilpraktikerin aus Anatswald, in einer Stichwahl zwei Stimmen mehr als der ebenfalls nominierte Sohn des ehemaligen Vorsitzenden, Dominik Steingasser (28), Besitzer des Kutschbetriebs und Ponyhofs aus Dummelsmoos, und nimmt ab heute auch offiziell den dritten Platz im Vorstand ein. Für Steingasser bleibt daher nur der eher einflusslose Posten als Jugendbeauftragter der Gruppe.

Insgesamt gesehen war die Wahl eine ziemliche Schlappe für die kommende Generation, die zwar auch voll hinter den Traditionen des Vereins steht, aber doch auch Neues fordert, da man ja nicht „ewig gestrig umeinander schleichen“ kann, wie sich der Unterlegene oft äußert.

Nach der überfälligen Wahl kommt Ludwig Geiger zum Hauptthema des Abends: Gestaltung des Museumsdorfes, Tauschhandel von Gelände im Oytal gegen neues RECHTLER-Gebiet in der Birgsau und als brandneues Thema die Erweiterung des Museumsprojektes zur Umgestaltung des Oytals, gemäß der Sitzung mit den Investoren und der Marktgemeinde.

 

Die ersten beiden Punkte werden schnell abgehakt, sie waren so ja praktisch schon Anfang des Jahres vereinbart. Die Vorstellung, die ruhige Oase der Ruhe südlich des Nebelhorns wird in ein lärmiges, von Autos und Menschen geflutetes Oytal verwandelt, lässt dann aber eine brisante Diskussion, besser schon Wortschlacht, aufkommen, deren Höhepunkt ein kleines Handgemenge zwischen den Kontrahenten wird. Nach einer Stunde beruhigen sich die Gemüter langsam wieder. Die Aussicht, ohne eigene Investitionen am Gewinn des Erlebnisparks „Hohenstein“ beteiligt zu werden, führt dann schnell dazu, dass das Meinungsbild augenscheinlich zur Befürwortung tendiert.

Ludwig Geiger spricht nun ein Machtwort: „Leute, Leute, nun lasst doch alle mal die Kirche im Dorf. Wir müssen uns heute Abend doch noch nicht endgültig entscheiden. Ich muss nur wissen, ob ich die Möglichkeit unserer Beteiligung nicht von vorne herein ausschließe, dann sind wir nämlich aus dem Spiel und wir können unsere finanziellen Anteile am Museumsdorf und an der Modifizierung des Birgsautals knicken.“

Er schaut zur Uhr. „Also gebt mir jetzt mal ein Handzeichen, wenn ihr „DAFÜR“ seid!“

Neun Hände heben sich empor. Gegenprobe: fünf dagegen, eine Enthaltung des jungen Steingassers.

Kapitel 14 - Hotel Dolde 14.02., 20:45

Michael und Rosemarie Gruber sitzen in der Küche ihres Hotels. Vor ihnen liegt das Gutachten des von ihnen beauftragten Sachverständigen Dr. Klöbner aus Kempten: Totalschaden an der „Schnatossi-Bar“, Teilabriss des Traditionshotels, da die Brandmauern an der Südseite der „Dolde“ ersetzt werden müssen.

Das heißt für die beiden und für die meisten ihrer Angestellten, dass bis Weihnachten, also fast ein ganzes Jahr lang, alles ruht. Zudem schreibt ihre Feuerversicherung, dass zunächst ein weiterer Sachverständiger die Ursache des Brandes untersuchen wird. Die anfangs angenommene Brandursache, ein defekter Gasheizstrahler, wird angezweifelt, da es Zeugen für eine Brandstiftung bzw. unsachgemäßer Handhabung gibt. Zudem ermittelt erneut die Kripo Kempten.

„Ja mei, Rosi, am besten, man nimmt sich gleich a Strick und erschießt sich damit.“ Michael Gruber schlägt die Hände vors Gesicht.

„Red´ nicht so einen Schmarrn, Michi. Da haben wir schon ganz andere Krisen gemeistert.“

„Ja, da waren wir auch noch jung. Aber jetzt scheint sich alles gegen uns verschworen zu haben.“

„Komm, trink erst mal einen Schluck. Du wirst sehen, morgen sieht die Welt schon ganz anders aus.“

„Und gerade jetzt. Ich kann die Konzession für die Bewirtung im neuen Museumsdorf übernehmen, aber die Investitionen dafür kann ich mir schließlich nicht aus den Rippen schneiden. Und die Volksbank will mir so ohne Weiteres keinen Kredit mehr gewähren.“

„Dann lässt du halt die Finger davon. Sei froh, dass uns und den Hotelgästen beim Brand nichts passiert ist. Vielleicht war das sogar ein Zeichen, ein Fingerzeig von oben.“

„Das neue Gasthaus „Hohenstein“ wird bestimmt eine Goldgrube. Dann können wir das Hotel hier ganz neu gestalten, mit mehr Zimmern, einem Hallenbad und einem großzügigen Spa-Bereich.“

„Michi, bis wann musst du denn da zusagen?“

„Bald, Rosi, sehr bald, wenn die Planungen durch alle Gremien sind.“

Michaels Handy läutet: „Ja hier Hotel Dolde. Sie wünschen?“

„Ja, hallo, ich möchte im März mit einer Gruppe nach Oberstdorf reisen und benötige sieben Doppel- und drei Einzelzimmer“, quakt eine hohe Stimme.

„Leider, leider, Herr ….?“ Gruber wartet, dass der Gegenüber seinen Namen sagt. Aber es herrscht absolutes Schweigen. „Egal, leider haben wir in den nächsten Monaten keine Zimmer mehr frei.“

„Das ist aber schade, Herr Gruber. Oder ist Ihr Hotel dann immer noch geschlossen?“

Der Anruf kommt Michael immer komischer vor, er schaut fragend seine Frau an. „Ja, genau, woher wissen Sie das, auf unserer Internetseite ist es noch gar nicht vermerkt. Aber Sie haben Recht, wir müssen kleine Renovierungsarbeiten ausführen lassen.“

„Oha, und das in der Skisaison. Da gehen Ihnen ja bestimmt viele Einnahmen flöten.“ Plötzlich verändert sich die Stimme: „Aber vielleicht kann ich dir helfen, Gruber?“

Jetzt fällt es ihm wie Schuppen aus den Haaren. „Das kann doch nur wieder dieser Vasiljevs sein, dieses alte lettische Schwein aus der Fiskina in Fischen.“, flüstert er sich selber zu. „Kennen Sie mich? Wie war noch Ihr Name?“

„Tu nicht so blöd. Mein letztes Angebot für die Konzession am Schattenberg: Damit du wenigstens deinen Schaden von deiner Versicherung wieder bekommst, biete ich dir einen Beweis, wer der Brandstifter war. Dafür bekomme ich die Konzession. Überlege es dir noch mal gut. Schreib deine Abtretung auf ein Schreibmaschinenblatt und unterschreibe. Dann komm´ um 22:00 Uhr zum Illersprung. Da findest du ein kleines Päckchen in einer Plastiktüte. Das gehört dir, wenn du deinen Brief in der Tüte zurücklässt.“

Michael Gruber hat atemlos zugehört. Jetzt legt er das Handy auf den Tisch.

„Wer war´s denn“, fragt Rosemarie eher beiläufig, da sie in Gedanken wieder bei der Lösung ihrer Probleme angekommen ist.

„Weiß ich nicht. Irgend so ein Blödmann, der mich aufziehen wollte.“

Michael steht auf. „Ich bin müde, Rosi. Ich verschwinde nach oben.“ Rosemarie antwortet nicht, nickt nur. Michael steigt die Treppe zu ihrer Privatwohnung hinauf, die nicht vom Brand in Mitleidenschaft gezogen ist.

Auf dem Flur klopft er an der Tür zum Zimmer seines 24-jährigen Sohnes.

„Bist du noch wach, Max?“

Kapitel 15 - Illersprung 14.02., 22:00

Die drei Quellflüsse Trettach, Stillach und Breitach vereinigen sich zwei Kilometer nördlich vom Oberstdorfer Zentrum zur Iller, die dann nach 147 km bei Ulm in die Donau mündet. Direkt neben dem Zusammenfluss steht die Skulptur „Illersprung“, auf der drei nackte Frauen ihre Arme Richtung Fischen recken. Der Oberstdorfer Künstler Walter Kalot hatte dieses Kunstwerk geschaffen. Da es dem Gemeinderat zunächst zu freizügig war, wurde die Skulptur verschämt in einem Park aufgestellt, bis sie im Jahr 2005 an den wahren Illersprung umziehen durfte.

Obwohl fast Vollmond herrscht, verdunkeln schnell ziehende Wolken immer wieder den Wanderweg zwischen Oberstdorf und Ruby. Ein eisiger Wind pfeift durch die Waldschneise. Es beginnt zu schneien.

Aus Richtung Oberstdorf nähert sich vom Campingplatz „Ruby-Camp“ ein schwaches Licht. Der Strahl einer einsamen Lampe wandert hin und her, kommt aber der Kurve am Illersprung schnell näher. Nein, es ist ein Radfahrer, dessen Fahrradlampe die Lichtspuren in die Luft zaubert. An der Skulptur springt der Fahrer sportlich von seinem weißen „Giant“-Rennrad, schiebt es zur Skulptur und lehnt es dort an.

Der Mann schnauft ungewöhnlich stark; er scheint so schnell hierher gekommen zu sein, wie er nur konnte. Jetzt dreht er sich langsam um. Doch es ist niemand zu sehen, nur sein eigenes trübes Schattenbild hebt sich etwas auf der leichten Schneeschicht ab. Daher holt er nun seine kleine Taschenlampe aus der Anoraktasche und klettert hinter das grün gestrichene Gitter aus Stahlrohren. Tatsächlich hängt hier hinten eine Plastiktüte der Firma „Netto Marken-Discount“.

Der Radler greift in die Tüte und zieht eine Videokassette heraus, die in Folie eingeschweißt ist. Er steckt sie schnell in seine Adidas-Sporttasche, die er auf dem Rücken trägt. Nun lugt er zwischen den Stangen des Geländers in beide Richtungen des Waldweges. Da sich kein Überbringer des Päckchens zeigt, überlegt er kurz, ob er das Kuvert, das noch in der Tasche liegt, nicht wieder mitnehmen soll. Dann nimmt er den Brief doch heraus und steckt ihn wie gewünscht in die Plastiktüte.

Bei der Rückkehr auf den Weg rutscht er in der Matsche aus und knallt mit dem Kopf an die oberste der Frauenfiguren, deren Haare sich in seine Stirn schneiden, so dass Blut in seine Augen spritzt. Der Mann kneift rasch die Augen zu, schnellt die Arme hoch, um das Blut von der Stirn zu wischen. In diesem Augenblick bohrt sich ein schmaler, 9 mm dicker, 40 cm langer Armbrustbolzen aus Aluminium mit leuchtend roter und gelber Kunststoffbefiederung mitten in sein Herz.

Der Getroffene macht einen Schritt zurück und stürzt mit weit geöffneten, von Panik erfüllten Augen mit immer noch erhobenen Händen hinter die Skulptur. Es sieht so aus, als wenn er um Gnade flehen würde, um dann rücklings die Böschung zur Iller hinunterzurutschen.

Kapitel 16 - Bielefeld, Sparrenstraße 15.02., 08:30

Kerstin Schibulsky nimmt den Telefonhörer ab. „Schibulsky?“ Ihre Woche im Kinderheim war extrem anstrengend gewesen. Dazu dieses ständige Betüddeln ihres Mannes. Zweimal am Tag muss sie jetzt die MRSA-Wunde Roberts penibel genau behandeln und verbinden, weil sich ihr Göttergatte eigenmächtig und selbstherrlich selbst aus dem Evangelischen Krankenhaus entlassen hat. Die Aufgabe wächst ihr langsam über den Kopf.

„Hallo Oma, ich bin´s, Britta. Wie geht es euch?“

„Den Umständen entsprechend, Kindchen.“

„Du klingst aber ziemlich gestresst, Oma.“

„Ja, ja, man ist schließlich nicht mehr die Jüngste.“

„Dann rede doch Opa endlich zu, dass er hierher nach München kommt. Mit der Therapie bei Dr. Rolf geht alles klar. Gregors Tante hat ein gutes Wort für mich bei ihm eingelegt. Also kann Opa schon am Montag kommen.“

„Vielleicht hast du Recht, Britta. Ich kann hier leider vorerst nicht weg, im Heim fehlen einige Erzieher.“

„Dann gib mir doch mal den Opa!“

„Der ist noch unterwegs, Brötchen holen. Aber er kommt bestimmt gleich zurück. Ich verspreche dir, ich werde ihn wie immer schon davon überzeugen, dass er zu dir nach München kommt.“

„Okay, Oma, ich muss dann mal los. Meine nächste Vorlesung wartet schon.“

„Mach´s gut, meine Kleine. Und ich werde mit Opa Robert reden, verlass dich darauf.“

Kerstin hat den Telefonhörer gerade auf die Gabel gelegt, da hört sie das Knarren der Haustür. Robert stolziert mit der Brötchentüte stolz in die Küche. Kerstin folgt ihm. Sie setzen sich an den gedeckten Tisch.

„Britta hat schon wieder angerufen. Sie sagt, du kannst ab Montag in der Privatklinik aufgenommen werden.“

„Ach, Kerstin, fängst du schon wieder damit an?“

Kerstin nimmt Robert rechte Hand in ihre. „Natürlich, ich werde dich immer weiter damit piesacken. Ich bin das ewige Verbinden nämlich genau so leid wie du.“

„Wenn du mich loswerden willst, dann fahre ich lieber nach Oberstdorf und besuche dort Frederik im Sanatorium.“

„Du weißt, dass Frederik dort bestens versorgt wird. Und mach mir nicht schon wieder Vorwürfe, dass ich ihn nicht besuche. Bei uns im Heim ist unheimlich was los. Ich kann da jetzt wirklich nicht weg. Außerdem ist Frederik von morgens bis abends mit der REHA beschäftigt.“

„Ich weiß das. Aber trotzdem glaube ich, dass wir ihm eine große Stütze sein können.“

„In ein paar Wochen vielleicht. Lass uns zu Ostern runter fahren. Kümmere du dich erst mal darum, dass du ihn nicht noch zusätzlich ansteckst!“