"Lasst uns reden" … über Depression

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Weitere dieser systematischen Denkfehler und Denkverzerrungen werden als »Maximierung« bezeichnet. Dabei werden negative Aspekte stark überbetont. Man tendiert zur Personalisierung: Vieles wird persönlich genommen, statt die Kritik an der Sache zu sehen, und zu verabsolutierendem Schwarz-Weiß-Denken, das in bester Entweder-oder-Manier auf Nuancen und Differenzierung verzichtet.

Wie wirken sich diese Aspekte auf das bio-psycho-soziale Erklärungsmodell aus?

Wer eine genetisch bedingte oder lebensgeschichtlich geprägte Veranlagung zur Entwicklung einer Depression aufweist, reagiert sensibler auf auslösende Faktoren. Diese Sensibilität steigt, je höher die jeweilige Person den emotionalen Wert der Auslöser bewertet. Das wirkt sich auf Verhaltens- und Denkmuster aus. Die Wahrnehmung beginnt sich zu verändern und wird selektiver. Negative Aspekte erfahren größere Beachtung, was die Denkmuster zusätzlich verändert: Im Sinne einer depressiven Triade werden die eigene Person, die Umwelt und die Zukunft negativer betrachtet. Unerfreuliche Ereignisse werden verstärkt am eigenen Versagen festgemacht und positive Erlebnisse ausgeblendet oder heruntergespielt. Die Zahl der negativen Reize steigt, die Zahl der positiven sinkt. Das fördert das depressive Erleben zusätzlich. Eine Dynamik mit sozialem Rückzug, systematischen Denkfehlern und Denkverzerrungen setzt sich in Gang und wirkt wie ein Teufelskreis, der wie auf einer Spirale immer tiefer in Grübelschleifen und in depressives Erleben hineinführen kann.

UND DANN WURDE MIR DAS ALLES ZU VIEL

Mögliche Auslöser für Depressionen

Das bio-psycho-soziale Modell macht deutlich, dass ein individueller und ineinander verzahnter Ursachen-Mix zu einem depressiven Erleben führen kann. Sind belastende Lebensereignisse als Auslöser stets daran beteiligt?

Auch darüber gehen die Einschätzungen auseinander. Überwiegend besteht in der Fachwelt die Ansicht, dass auslösende Ereignisse von Bedeutung sind. Auslöser für depressives Erleben können klar nachvollziehbare Erlebnisse sein, die als derart belastend bewertet werden, dass sie kurzfristig zu einer depressiven Verstimmung führen. Depressives Erleben kann aber auch Ergebnis von mittel- und langfristigen Entwicklungen sein, wobei das auslösende Moment immer mehr in den Hintergrund tritt und teilweise kaum noch erkennbar ist, wie zum Beispiel bei den Langzeitfolgen traumatischer Kindheitserlebnisse.

Hört sich schon wieder ein wenig nach »Man weiß es nicht genau« an.

Der Mensch ist ein Mysterium. Vielleicht liegt es daran. Dennoch scheint es ratsam, sich mit belastenden Ereignissen als möglichen Auslösern auseinanderzusetzen. Zahlreiche Beispiele aus der Praxis belegen einen direkten Zusammenhang.

Was sind denn typische Auslöser?

Alles, was die Psyche belastet und nicht bewältigt wird, kann zu depressivem Erleben führen. Das hatten wir schon ganz am Anfang dieses Gesprächs festgestellt. Es stellen sich immer die Fragen: Bis wann ist diese Reaktionsweise nachvollziehbar und sogar gesund? Und ab wann sind die Auswirkungen behandlungsbedürftig?

Können Sie konkrete Beispiele nennen? Allem »Sowohl-als-auch« zum Trotz?

Verlustsituationen sind klassisch für ein belastendes Lebensereignis mit dem Potenzial für eine depressive Verstimmung oder sogar für tieferes depressives Erleben. Der Tod des Partners oder naher Angehöriger und Freunde gehört dazu. Aber auch der Verlust durch Trennung und Scheidung oder der Verlust des Arbeitsplatzes. Der Eintritt in den »wohlverdienten Ruhestand« geht mit dem Verlust sozialer Anerkennung und eines geregelten Tagesablaufs einher. Wer in eine fremde Stadt zieht, verliert unter Umständen seine Freunde und Bekannten aus den Augen. In den Wechseljahren haben Mann und Frau mit dem Verlust der Jugendlichkeit zu kämpfen. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Bitte nennen Sie weitere Beispiele.

Lebensbrüche und Umbrüche sind ebenfalls typisch, auch wenn es eine große Schnittmenge mit den Verlusterlebnissen gibt. Wenn Kinder als junge Erwachsene das Haus verlassen, bleiben verlassene Mütter und Väter zurück. Der Umzug im Alter von der eigenen Wohnung in ein Heim, der Eintritt ins Rentenalter. All das kann belasten. Oder Beispiele aus jüngeren Lebensjahren: Die Pubertät bietet etliche mögliche Auslöser für depressives Erleben, der Auszug von daheim in die erste eigene Wohnung ebenfalls. Das Mädchen, das die Entwicklung zur Frau vor lauter Angst nicht zu vollziehen vermag und darauf im ungünstigen Fall mit Essstörungen reagiert, woraus sich wiederum ein depressives Erleben entwickeln kann. Wenn ein Kind die Partnerschaft ergänzt, verändern sich die Rollenanforderungen der jungen Mütter und Väter erheblich. Längere Krankenhausaufenthalte stellen gleichfalls vieles auf den Kopf.

Verlustsituationen, Lebensbrüche … und?

Ständige zwischenmenschliche Konflikte, insbesondere innerhalb der Partnerschaft und der Familie sowie Mobbingsituationen am Arbeitsplatz werden als sehr belastend eingestuft. Was Beziehungsthemen anbetrifft, besonders von Frauen.

Frauen gehen mit ihren Sorgen übrigens bevorzugt nach innen, während Männer auf Frust traditionell mit äußeren Aktionen reagieren wie Wut und Aggressionen oder schnellem Autofahren – oder versuchen, diese unangenehmen Gefühle mit Alkohol zu dämpfen. Das Klischee lässt an dieser Stelle grüßen, dennoch steckt ein Stück Wahrheit in diesen Aussagen. Außerdem wollten Sie konkrete Beispiele.

Richtig. Haben Sie weitere?

Die permanente Sorge um den Arbeitsplatz oder um die Gesundheit, auch massive materielle Sorgen. Die Konfrontation mit akuten, chronischen oder lebensbedrohlichen Krankheiten wie Krebs, Aids oder einer beginnenden Demenz. Permanenter Stress und Erschöpfung, Einsamkeit und Isolation. Stalker-Erlebnisse. Innere Konflikte, wenn man nicht weiß, ob man sich vom Partner trennen oder der Beziehung noch eine Chance geben soll. Wenn Coming-out-Prozesse belasten. Kränkungen und fehlende soziale Anerkennung. Kurz: zahlreiche Situationen, die mit Verlust, Misserfolg und innerer Not zu tun haben.

Belastende Kindheitserlebnisse hatten Sie ebenfalls genannt.

Traumatische Erlebnisse im Zusammenhang mit körperlicher und sexualisierter Gewalt oder Vernachlässigung können ein machtvoller Auslöser sein. Die zerstörerische Energie dieser Erfahrungen sickert häufig erst viele Jahre später ins Bewusstsein und kommt scheinbar wie aus heiterem Himmel.

Scheinbar?

Wenn ein Kind eine zutiefst belastende Erfahrung verdrängen muss, diese quasi von seinem bewussten Erleben abspaltet, bedeutet es ja nicht, dass diese Erfahrung nicht wirkt. Ganz im Gegenteil: Sie wirkt jeden Tag. Den Betroffenen ist es bloß selten bewusst. Und wenn die Erinnerungen Jahre später an die Oberfläche drängen, kommen sie oft mit solch einer Wucht, dass der Organismus die Notbremse zieht. Ja, ziehen muss, weil die damit einhergehenden biologischen Vorgänge sehr direkt wirken und kaum wirksame Bewältigungsstrategien gelernt wurden. Statt Selbstwirksamkeit regiert die erlernte Hilflosigkeit. So greifen die Faktoren ineinander, die wir bislang kennengelernt haben.

Ein simples »Wenn-dann« trifft wahrscheinlich auch bei den Auslösern einer Depression kaum zu, oder?

Grundsätzlich kann alles, was nicht bewältigt wird, eine depressive Verstimmung auslösen. Doch nicht alle Menschen empfinden alles als gleich belastend. Das auslösende Ereignis muss zur Persönlichkeit »passen«, damit es belastend wirkt. So ist also nicht das Ereignis an sich entscheidend, sondern das Wechselspiel zwischen Persönlichkeit und Umwelt. Ein Mensch, der sich zum Beispiel stark von sozialer Anerkennung abhängig fühlt, wird Abweisung, persönlichen Misserfolg oder Kränkung ungleich belastender einstufen als einer, dem Einschätzungen anderer relativ gleichgültig sind. Hingegen kann eine Person, die einen hohen Anspruch an Selbstständigkeit und Autonomie hat und es gewohnt ist, aktiv an die Dinge heranzugehen, alles gern kontrolliert, leistungsbezogen denkt und perfektionistisch ist, einen Verlust des Handlungsspielraums als unerträglich empfinden. Die verpasste Beförderung, Arbeitslosigkeit oder die Pensionierung sind aus dieser Sicht gute Gründe für depressive Symptome. Und wer kennt nicht die ähnlich lautenden Berichte über Leistungssportler, die infolge einer Verletzung von einem Tag auf den anderen alles verloren haben, was ihnen wichtig war und woraus sie Lebenskraft geschöpft hatten?

Ist das immer so?

Das sind zwei Beispiele, die im Fachjargon als »Soziotropie« und »Autonomie« bezeichnet werden. Es handelt sich um bewusst einseitig geschilderte Modelle, die eine grundsätzliche Möglichkeit verdeutlichen sollen. In der Realität haben fast alle Menschen beide Ausdrucksweisen in unterschiedlicher Ausprägung zur Verfügung. Je nach Lebenssituation mal direkter, mal weniger stark ausgeprägt.

Was bedeutet eigentlich »verarbeiten« im Zusammenhang mit belastenden Lebensereignissen?

Solange Ereignisse nicht akzeptiert werden können, ist die daran gekoppelte Energie der Gefühle noch in der längst vergangenen Situation gebunden. Es kommt, plastisch ausgedrückt, zu einer Energieblockade, weil das belastende Ereignis den natürlichen Fluss des Lebens unterbrochen hat, teilweise bis zum Stillstand in manchen Bereichen. Dann wird der Mensch nach wie vor von den belastenden Gefühlen gesteuert, die mit diesem Ereignis zusammenhängen. Bewusst oder unbewusst. Aber die Energie der Gefühle wirkt. Der Umkehrschluss lautet so: Wer ein Ereignis oder eine Erfahrung als zugehörig zu seinem Leben betrachtet und akzeptieren kann, dass es stattgefunden hat, hat das Erlebnis verarbeitet und kann auf seinem Lebensweg weiter voranschreiten. Und dies mit allen seinen Kräften. Es sind ja keine seiner Lebenskräfte in vergangenen Situationen gebunden.

 

Kann man sagen, warum es manchen Menschen leichter fällt, Erlebnisse zu verarbeiten, und manchen schwerer?

Weil hier das bio-psycho-soziale Erklärungsmodell in allen seinen Facetten zum Tragen kommt. Warum der eine Mensch ein ähnliches Gefühl oder die identische Situation als bedrohlicher bewertet als ein anderer, ist völlig individuell. Dennoch handelt es sich um eine der entscheidenden Fragen bei der Behandlung von Depression. Diese Frage ist Gegenstand einer psychotherapeutischen Behandlung, die im erfolgreichen Fall die depressive Reaktion überflüssig machen kann, weil das, was zuvor abgelehnt und nicht akzeptiert werden konnte, nun in den persönlichen Erfahrungsschatz eingegliedert werden kann.

Also akzeptieren, vergeben und vergessen?

O nein. Ein großes Missverständnis. Zu akzeptieren heißt nicht, dass dadurch alles gut ist und eine große rosa Decke über erlebtes Leid gelegt wird. Ein Lebensereignis zu akzeptieren bedeutet ganz simpel die Anerkennung, dass es stattgefunden hat. Das kann ein enormer Schritt sein. Wenn ich etwas anerkenne, kann ich die damit verbundenen Gefühle zulassen, die so lange an mir gezehrt haben. Dann kommt meine Energie ins Fließen, und es besteht die Möglichkeit, das Geschehen in einen Zusammenhang zu bringen, den ich verstehe. Durch die Akzeptanz hat die belastende Erfahrung die Chance, sich zu verändern, und zwar so, dass ich damit zurechtkommen kann. Akzeptanz ist kein passiver Akt, sondern Ausgangspunkt für stimmiges Handeln im Tun, Nichttun oder Abwarten.

Ist Akzeptanz ein Schlüssel zum Verständnis der Depression?

Das ist eine philosophische Frage, die je nach Weltanschauung unterschiedlich beantwortet werden kann. Ich persönlich glaube, ja. Denn wenn ich etwas partout nicht anerkennen will, entferne ich mich Schritt für Schritt von der Wirklichkeit und damit vom natürlichen Lebensfluss. Wer hat noch nie die Erfahrung gemacht, dass einen das Leben selbst zu nähren scheint, wenn man in Zuversicht und ohne ständige moralische Bewertungen den Entwicklungen folgt, die ungefragt und unaufgeregt auf einen zukommen? Wenn man das, was man nicht direkt beeinflussen kann, anerkennt und akzeptiert, scheint sich vieles wie von allein in die richtige Richtung zu bewegen. Alles, was ich beeinflussen kann, obliegt natürlich weiter meiner Verantwortung. Ebenso wie meine Entscheidungen. Akzeptanz und Verantwortung sind in dieser Anschauung die zwei Seiten der gleichen Medaille.

Womit der erste Schritt zum Loslassen getan ist.

Es bleibt philosophisch: Wenn ich die Verantwortung für meine Entscheidungen im Leben übernehme und bereit bin, das, was ich nicht beeinflussen kann, zu akzeptieren, kann die Erkenntnis wachsen, dass Lernen, Wandel und Wachstum das gesamte Leben prägen und dass Loslassen genauso dazugehört wie das Willkommenheißen.

Eine weitere Medaille mit zwei Seiten.

Wenn wir einen realistischen Blick auf das Leben wagen, stellen wir fest: Das gesamte Leben ist Wandel, Wachstum und Entwicklung. Wir kommen als Säugling auf die Welt und entwickeln uns jeden Tag. Körperlich und geistig. Wenn nichts Gravierendes dazwischenkommt, sterben wir als Greis. In dieser Zeit verändern wir uns ständig und lernen kontinuierlich Neues.

Das Bild vom Leben als Fluss macht dies sehr anschaulich. Ein Fluss lässt sich nicht aufhalten, ohne dass es zu Schwierigkeiten kommt – zu Deichbrüchen und Überflutungen. Aus verschiedenen möglichen Gründen sperren sich manche Menschen gegen Entwicklungsschritte. Sie weigern sich, dem Fluss des Lebens zu folgen. Nicht weil sie schwach oder dumm sind, sondern weil sie mit Situationen konfrontiert sind, die sie gegebenenfalls als zu bedrohlich empfinden, und glauben, keine geeigneten Strategien zu haben, um damit umgehen zu können.

Lebensschwellen verdeutlichen dies oft: Der Wechsel von der Schule in das Berufsleben, der Auszug von zu Hause und der Umzug in eine andere Stadt, die Geburt von Kindern, der Auszug der Kinder … stets werden gewohnte Lebensumstände in ihren Grundfesten erschüttert, plötzlich ist vieles nicht mehr so, wie es einmal war. Ebenfalls beim Verlust des Arbeitsplatzes, bei Trennungen und Todesfällen. Wer innerlich an den alten Zuständen festhält, obwohl sie im Außen nicht mehr vorhanden sind, gerät in Schwierigkeiten. Das ist keine Frage der Weltanschauung, sondern der Realitätsnähe beziehungsweise -ferne. Der Mensch wehrt sich gegen die Veränderung, er will, dass alles beim Alten bleibt, obwohl das Leben rechts und links an ihm vorüberfließt.

Das depressive Erleben mit den typischen Symptomen des Stillstands und der Schwere kann dann eine Möglichkeit des Ausdrucks sein, um sich noch nicht in die unbekannte und beängstigende Situation der Veränderung hineinbegeben zu müssen. Aber natürlich ist es Voraussetzung, dass diese Mechanismen auf einen entsprechenden genetischen, biologischen und lebensgeschichtlichen Boden fallen, damit daraus eine Depression entsteht. Es reagieren ja nicht alle jungen Eltern mit depressiven Symptomen auf die Geburt ihres Kindes.

Ist nicht loslassen zu können ein übergreifendes Phänomen?

Verlust, Misserfolg und gefühlte Ausweglosigkeit treffen den Menschen an seiner verletzlichsten Stelle. Wo diese Aspekte auf starre Muster treffen, entsteht depressives Erleben.

Was verstehen Sie unter starren Mustern?

Eigenschaften wie dogmatisch, perfekt, leistungsbezogen, übergenau, anspruchsvoll gegenüber sich selbst und anderen, überidentifiziert mit beruflichen und privaten Rollen. Starre Muster können zur Überzeugung führen, unbedingt an etwas festhalten zu müssen. Das verhindert die Akzeptanz und die Trauer über den Verlust oder den Misserfolg und macht den Stillstand zum vermeintlichen Überlebensprinzip. Dieser Stillstand wird zwar als belastend erlebt, noch mehr Angst bereitet indes die Ungewissheit des vermuteten Abgrunds, der sich auftäte, wenn man den Verlust und die daraus resultierenden Gefühle zuließe.

Lassen sich weitere Persönlichkeitsmerkmale nennen, die die Entwicklung einer Depression begünstigen?

Die genannten Merkmale lassen depressive Symptome entstehen, weil sie Flexibilität, Akzeptanz und Loslassen erschweren. Ähnlich wirken ein hohes Maß an Selbstkritik, die Schwierigkeit, Gefühle wahrzunehmen und auszudrücken, sowie ein harscher und inflexibler Anspruch an das eigene Leistungsniveau. Wenn ein belastendes Ereignis auf solche Persönlichkeitsmerkmale trifft, werden aus Tendenzen schnell starre Muster im Verhalten und Denken, die eine Akzeptanz dessen, was ist, immer weniger zulassen.

Aber bitte bedenken Sie stets: Bei Depressionen handelt es sich um eine vorübergehende Störung des Erlebens. Nicht um ein Persönlichkeitsmerkmal.

Gibt es gefährdete Bevölkerungsgruppen?

Geschiedene Menschen sollen statistisch betrachtet ein höheres Risiko haben, auf belastende Lebensereignisse mit depressivem Erleben zu reagieren als verheiratete. Und geschiedene Männer ein höheres als geschiedene Frauen. Die Statistik sagt auch, dass dieses Risiko zusätzlich bei Menschen ansteigt, die in Trennung leben.

Womit erneut ein Zusammenhang von Stress und Depression ins Auge fällt. In diesem Fall ausgelöst durch zwischenmenschliche Konflikte.

Und trotzdem sind es immer Anlagen und Auslöser, die zusammenkommen müssen. Nur Stress allein genügt nicht, um daraus die Notwendigkeit zum depressiven Erleben ableiten zu können. Andererseits kann festgestellt werden, dass unsere Leistungsgesellschaft mit ihrem Perfektionsanspruch grundsätzlich immer mehr belastenden Stress erzeugt. Der sogenannte moderne Mensch scheint den Kontakt zu den natürlichen Rhythmen des Lebens verloren zu haben. Zeiten der Entspannung, des Kräftesammelns, der Reflexion und der Stille werden immer seltener. Das macht uns auch verletzlicher bei belastenden Lebensereignissen.

DAS DARF EINFACH NICHT SEIN

Depression und die Angst vor der Trauer

Kann man sagen, dass nicht zugelassene Gefühle charakteristisch für das Phänomen Depression sind?

Die Depression als Erlebensausdruck findet auf der Gemütsebene statt. Das stimmt. Es geht um Gefühle oder, besser gesagt, um die vorübergehende Verflachung der Gefühle.

»Gefühl« ist ein weiter Begriff. Lässt sich diese generelle Aussage eingrenzen?

Es gibt erneut unterschiedliche theoretische Ansätze. Manche Depressionsforscher und Psychotherapeuten halten nicht zugelassene Wut und Angst für mögliche Auslöser depressiven Erlebens, für andere sind es die Aspekte Schuld und Scham. Weit verbreitet ist das Modell, die Depression als Störung des Selbstwertgefühls zu deuten.

Und was ist mit der These, dass sich möglicherweise Depressionen entwickeln, wenn Traurigkeit und Trauer nicht zugelassen werden können?

Da sich sehr viele depressive Zustände auf dem Boden von Verlusterfahrungen entwickeln, scheint diese Verbindung zu bestehen. Ich persönlich halte diese These zwar nicht für die einzige Möglichkeit, aber auf jeden Fall grundsätzlich für plausibel.

Also die Depression als Unfähigkeit zu trauern.

Da liegt mir zu viel Wertung drin. Nehmen wir an, ein Außerirdischer landet mit seinem Raumschiff auf der Erde. Von der Spezies Mensch hat er noch nie gehört. Erst nach und nach lernt er die verschiedenen Menschentypen und Persönlichkeiten kennen. Solch ein Wesen könnte die Depression als eine Unfähigkeit, trauern zu können, verstehen. Aber eher aus Unwissenheit heraus.

Wie könnte Wissen diese Einschätzung verändern?

Wenn sich dieser Außerirdische näher mit den Phänomenen depressiven Erlebens beschäftigte, hätte er sehr wahrscheinlich irgendwann das bio-psycho-soziale Erklärungsmodell zur Ursachenforschung kennengelernt und wüsste, dass depressives Erleben nichts mit persönlichem Versagen zu tun hat. Das menschliche Erleben gestaltet sich derart komplex, dass es mir unangemessen erscheint, die Gefühlsebene eines anderen Menschen mit dem Begriff der »Unfähigkeit« zu bewerten.

Wie ließe es sich aus Ihrer Sicht angemessener formulieren?

Es scheint eher die Angst vor der Trauer zu sein, weil niemand weiß, was sich hinter der Trauer verbirgt, welche Gefühle dort auf einen warten. Wer partout an einer vergangenen Situation festhält oder an einem verstorbenen Menschen, um das wohl intensivste Erlebnis des Trauerns zu nennen, hat häufig Angst, komplett in dem großen, schwarzen Loch zu versinken, das sich vor einem auftut. Hier geht es also weniger um ein »Nichtwollen« als um ein »Sich-nicht-Trauen«. »Trauern« und »Trauen« ähneln sich phonetisch nicht zufällig.

Aber Sie sagen doch selbst, dass Menschen, die nicht loslassen können, schneller Gefahr laufen, mit depressivem Erleben zu reagieren?

Aber nicht, weil ein Mensch grundsätzlich unfähig zu irgendetwas ist, sondern weil es gute Gründe geben kann, warum diese Fähigkeit des Loslassens an einem bestimmten Punkt nicht greift. Alles hat seine Zeit und jeder Mensch sein individuelles Tempo. Das gilt es zu akzeptieren, auch wenn es aus der Perspektive eines Außenstehenden sehr langatmig und anstrengend wirken kann.

Aber natürlich kann sich jeder Prozess verselbstständigen. Aus einem gesunden Trauerprozess kann sich eine tiefere Depression entwickeln. Wenn man die natürliche Reaktion, traurig zu sein, nicht zuzulassen vermag, kann sich das bei jedem Menschen in das depressive Erleben der Gefühllosigkeit wandeln. Oder genauer gesagt: in eine scheinbare Gefühllosigkeit. Denn hier zeigt sich eine mögliche wichtige Funktion von Depression: Der Organismus regelt sein Erleben ab, weil er die Gefühle, die auf ihn einströmen, im Moment für viel zu bedrohlich und für nicht zu bewältigen hält. Man könnte in diesem Zusammenhang von einer Schutzfunktion der Depression sprechen.

Depression hat also nichts mit Traurigkeit zu tun, sagen Sie. Und doch wirkt es immer so, wenn ich ehrlich bin.

Traurig zu sein ist das genaue Gegenteil von Depression. Denn prägendes Kennzeichen einer Depression ist das Gefühl der inneren Leere, ja in schweren depressiven Zuständen gar der Gefühllosigkeit. Der depressiv erlebende Mensch hat im heftigsten Fall keinen Zugang mehr zu seinen Gefühlen. Dieses Gefühl der Gefühllosigkeit zeigt sich bei tiefen Depressionen wirklich elementar. Selbst Wut und Aggressionen sind nicht mehr spürbar. Das ist auch der Grund, warum depressiv erlebende Menschen häufig so abwesend scheinen. Sie haben schlicht die Verbindung zu ihrem eigenen inneren Kern verloren. Traurig zu sein und Trauer passt in diese Schablone nicht hinein. Trauer ist ein Gefühl.

 

Aber lassen Sie es uns noch aus dieser Perspektive betrachten: Traurigkeit ist eine normale und vorübergehende Reaktion auf einen erlittenen Verlust. Trauer ist die Lösung und nicht das Problem. Zum Beispiel, wenn ein naher Angehöriger stirbt. Wir müssen aber gar nicht so ins Extrem gehen. Nicht nur der Tod birgt die Trauer in sich. Verlust prägt wie schon gesagt unser ganzes Leben – und sei es jeder vergangene Tag, der uns ein Stück unserer Lebenszeit nimmt. Wir haben sehr viele und gute Gründe für Traurigkeit. Meistens schaffen wir es recht gut, diese Verluste zu verarbeiten, indem wir lernen, sie als zum Leben dazugehörig zu akzeptieren. Daraus kann Zuversicht entstehen, dem Leben in seinem gegenwärtigen Ausdruck dennoch mit Freude zu begegnen.

Gibt es eine grundlegende Beschreibung, um den Prozess des

Trauerns besser verstehen zu können?

Wer zu diesem Thema recherchiert, stößt schnell auf eine Beschreibung von Elisabeth Kübler-Ross. Die Psychiaterin gilt als Begründerin der Sterbeforschung und hat sich intensiv mit dem Tod und dem Umgang mit Sterbenden, mit Trauer und Trauerarbeit beschäftigt. Ihr Modell der Phasen in solchen Prozessen hat hohen praktischen Wert.

Was besagt dieses Modell?

Elisabeth Kübler-Ross hat fünf Phasen des Sterbeprozesses definiert: Nicht-wahrhaben-Wollen, Zorn, Verhandeln, Depression und Akzeptanz.

Aber das ist auf den Sterbeprozess bezogen. Gilt das auch fürs

Trauern?

Es ist nicht gleich, aber ähnlich. Auch in Verlustsituationen gibt es anfangs meist eine Phase des Schocks und der Verleugnung. Des Nicht-wahrhaben-Wollens. Im Außen scheint der Mensch »normal« zu funktionieren, sein Sinn für Pragmatismus wird gelobt. Doch im Innern sieht es anders aus.

Was kommt nach dem Schock?

Zorn, Ärger und andere aufbrechende Gefühle: Der Trauernde erlebt ein Wechselbad der Gefühle. Er rebelliert innerlich gegen die Tatsache des Verlusts mit der damit verbundenen Endgültigkeit. Traurigkeit, Wut, Ärger, Angst und Schuldgefühle kommen hoch. Häufig in Verbindung mit Schlafstörungen und anderen psychosomatischen Erscheinungen.

Die Frage »Wer ist schuld?« rückt in den Mittelpunkt. In dieser Phase reagiert der Organismus ganz natürlich mit typisch depressiven Symptomen. Wenn solche aufbrausenden Gefühle überhandnehmen und Angst machen oder aus welchen Gründen auch immer nicht zugelassen werden können, kann dieser Prozess kippen. Der Organismus regelt ab und verstaut die Gefühle eine Bewusstseinsetage tiefer, weil die aktuelle Situation in diesem Moment zu bedrohlich scheint.

Und wenn der sogenannte gesunde Prozess weiterläuft?

Zaghaft beginnt die Phase der Neuorientierung. Auch hier zeigen sich sehr unterschiedliche Strategien. Manche Hinterbliebenen suchen den inneren Kontakt zum Verstorbenen – und finden ihn. Das kann tröstlich und heilsam sein und helfen, den Verlust zu verarbeiten. Oder es mündet im Aufbau einer Art Parallellebens, das den Verlust schlicht ignoriert. Im zweiten Fall entfernt sich der Trauernde von einer Verarbeitung zusehends. Dieser Mensch droht im Trauerprozess stecken zu bleiben. Aber es kann auch zur Akzeptanz der Situation kommen. Zu Akzeptanz und Versöhnung. Die Vergangenheit wird zunehmend als persönliche Erfahrung akzeptiert und der Verstorbene mit all seinen Wesensmerkmalen und Verhaltensweisen, seinen Stärken und Schwächen realistischer eingeschätzt. In der Theorie gilt diese Phase als Abschluss eines gesunden Trauerprozesses. Hier geschildert im Zusammenhang mit dem Verlust eines geliebten Menschen.

Wie unterscheidet sich die Praxis von diesen theoretischen Vorstellungen?

Allenfalls darin, dass diese Phasen natürlich nicht wie am Schnürchen hintereinander ablaufen, am besten sogar sauber getrennt voneinander und damit gut beobachtbar. Es ist ein chaotischer Prozess. Die Phasen verlaufen komplett oder in Teilaspekten konfus durcheinander und überlappen sich. Gerade hat der Trauernde noch gedacht, den Verlust endlich akzeptieren zu können, da wallen schon wieder heftige Gefühle auf. Jeder Trauerprozess ist ausgesprochen individuell.

Und das gilt nicht nur für den Verlust eines nahen Angehörigen.

Vom Prinzip her gelten die hier geschilderten Erkenntnisse für alle Veränderungen im Leben, die der jeweiligen Person zu schaffen machen. »Wandel«, »Veränderung« und »Loslassen« sind Themen, die uns von der ersten bis zur letzten Minute unseres Lebens begleiten, auch wenn wir es im Alltag nicht so vehement empfinden, es nicht wirklich wahrhaben wollen und uns auch nicht sonderlich damit beschäftigen.

Ist das nur das Problem eines depressiv leidenden Menschen?

Die Herausforderungen, Trauergefühle zulassen zu lernen, gilt für Angehörige von direkt Betroffenen ebenso: Es gilt, Abschied zu nehmen, zumindest vorübergehend, von der Vorstellung eines aktiven, dynamischen Partners, der einem mit seiner Energie durch eigene Motivationslöcher hindurchhilft. Und um einen zeitweiligen Abschied von einem Zusammensein mit emotionaler und körperlicher Nähe. Auch dieses Loslassen kann für Angehörige sehr schwierig sein – woraus sich nicht selten ebenfalls eine latent depressive Stimmung entwickelt.

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