Rettungskreuzer Ikarus 11 - 20: Verschollen im Nexoversum (und 9 weitere Romane)

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»Nein«, antwortete Sonja, klappte rasch die Schachtel zu und verstaute sie wieder, während Sentenza die Praline durchbiss und unwillkürlich die Augen schließen musste. »Diese Kostbarkeit wird aussschließlich auf Schluttnick Prime hergestellt und ist auch nur hier zu bekommen. Entweder sind sich unsere gewieften Händler nicht im Klaren darüber, was für Schätze sie hier haben, oder nur zu gut … und möchten sie ganz alleine für sich behalten.«

»Vermutlich Letzteres«, schätzte Sentenza und warf einen bedauernden Blick auf Sonjas Hosentasche, in der die Köstlichkeit unerreichbar verschwunden war. »Ich bin kein großer Fan von Süßigkeiten, aber für dieses Zeug könnte man Krieg führen. Wenn die Schluttnicks auf diese Weise ihre Dankbarkeit ausdrücken wollen, dann können sie das ruhig noch etwas mehr machen!«

»Na ja, sie haben etwas in der Art vor … Das hier brachte ein Bote, während du unterwegs warst.« Sonja fischte aus einer anderen Tasche einen dick gefütterten Umschlag von der Farbe frischen Butterkuchens – Sentenza schüttelte den Kopf, als er sich bei diesem Vergleich ertappte. Es war wirklich an der Zeit, diesen Planeten möglichst rasch zu verlassen. In dem Kuvert war eine Karte, die nach etwas Ähnlichem wie Zimt roch und mit einer ausladenden Schrift bedeckt war.

»Eine Einladung zum Essen von Flugdirektor Paknak? Dem Paknak? Dem Ich-habe-euch-selbstlos-gerettet-und-zwei-Prozent-Profit-riskiert-Paknak?«

»Genau dem. Keine Ahnung, wo der jetzt plötzlich herkommt, aber es ist eine ziemlich offizielle Sache. In der Einladung steht, wir hätten uns sehr verdient gemacht und das Direktorium wäre sehr dankbar … und er würde uns darüber hinaus so gerne wiedersehen …«

Es war nicht so, dass Sentenza den Flugdirektor nicht mochte oder ihn für einen schlechten Mann hielt. Immerhin hatte er ihnen nach dem Empfang ihres Notrufes wirklich, ohne zu zögern, geholfen, wie es seit den Zeiten der primitivsten Seeschifffahrt auf den meisten Planeten Brauch war. Wenn er nicht gewesen wäre, hätten sie nach der Zerstörung der ersten Ikarus vermutlich deutlich länger auf ihre Rückkehr nach Vortex Outpost warten müssen. Es lag vermutlich einfach in der Art der meisten erfolgreichen Schluttnicks, dass sie etwas … aufdringlich wirkten. Und er erinnerte sich nur zu gut und mit einigem Grausen an die fetten und schweren Mahlzeiten auf der Frische Ware, dem Schiff des Flugdirektors.

»Wir werden natürlich absagen, irgendeine elegante Formulierung wird sich dafür bestimmt finden lassen, mit der wir unsere Mägen retten können«, begann Sentenza, aber Sonja hob die Hand.

»Hör mal«, sagte sie nur. Aus dem Basislager drang eine aufgeregte Stimme, die beinahe ein bisschen hysterisch wirkte. »Das ist Thorpa. Er ist in diesem Zustand der Begeisterung, seitdem er die Einladung gelesen hat. Ich konnte aus seinem Redeschwall solche Sachen wie ›Eine einmalige Chance, Einblicke in diese faszinierende Kultur zu bekommen‹ und ›Wenn ich das meinen Kommilitonen berichte, werden sie vor Neid platzen‹ herausfiltern.«

Eine Weile lauschten beide wortlos, dann tauschten sie resignierte Blicke.

»Er will wirklich gerne da hingehen, ja?«

»Und er würde es gar nicht verstehen, wenn wir absagen.«

»Und all seine kulinarischen, schiefgelaufenen Experimente werden ihm keine Lehre gewesen sein.«

»Wir werden also der Einladung folgen, viel zu viel fettes Zeug in uns reinstopfen, Paknaks Freundlichkeiten ertragen und lächeln?«

»Und danach werden wir zwei Monate auf dem Laufband verbringen, um die Kalorien wieder loszuwerden.«

Sie seufzten gleichzeitig und schüttelten leicht den Kopf.

»Nun ja, wenn uns nichts Schlimmeres als das widerfährt, werden wir damit leben können.« Sonja hakte sich bei Roderick ein und lehnte sich gegen ihn. »Hauptsache, das Raumcorps ist höflich, und unser guter Pentakka ist glücklich.«

»Dann sollten wir uns wohl umziehen gehen …«


»Sie werden gleich hier sein, ist alles bereit?« Die laute, herrische Stimme Paknaks füllte den Raum mühelos aus. Wer noch etwas zu erledigen hatte, tat es schneller. Wer mit allem fertig war, simulierte verstärkt Geschäftigkeit. Unter dem strengen Blick des Flugdirektors müßig zu wirken, war heute keine gute Idee.

»Das Essen ist soeben fertig geworden. Es wurde an nichts gespart«, meldete sich eine gut gerundete Matrone zu Wort.

»Davon gehe ich aus«, erwiderte der Flugdirektor knapp. »Wie viele Gänge?«

»Vierzehn, wie Ihr angeordnet habt, Ehrwürdiger.«

Paknak grunzte zufrieden. Vierzehn Gänge, das dürfte genug sein. Vermutlich würden die Spargel vom Raumcorps schon nach dem siebten oder achten schlappmachen, aber die Höflichkeit würde es ihnen verbieten, einfach aufzustehen und wegzugehen. Ein guter Schluttnick würde ein Vierzehngängemenü in zwei bis drei Stunden hinter sich bringen, Sahnetee und Cremeschnittchen eingeschlossen, also würde die Besatzung der Ikarus sicherlich doppelt so lange brauchen. Selbst für Oknok sollte das Zeit genug sein, um nicht alles zu vergeigen …

Bei dem Gedanken an den hochbrillanten Wissenschaftler hob Paknak den Kopf und sah sich suchend um – seine feisten Hände, die er bis eben noch unablässig zufrieden aneinandergerieben hatte, erlahmten. Er machte den Forscher am anderen Ende des großen Völlereizimmers aus und seufzte fast unhörbar. Hochbrillant, ja, aber trotzdem so unberechenbar wie ein fünf Tage überaltertes Fleischtörtchen – vielleicht war es noch gut und ein Genuss, vielleicht würde man sich danach die Seele aus dem Leib kotzen. Trotzdem war er bereit, das Risiko einzugehen – mit der Rettung der Ikarus-Besatzung hatte er damals den ersten Fuß in die Tür gequetscht, hinter der sich die üppigen Handelslinien des Freien Raumcorps befanden. Leider hatte sich seitdem nicht mehr viel getan, ein überaus unbefriedigender Zustand. Es war längst an der Zeit, den nächsten Schritt zu wagen. Der Rat der Kooperative hatte die Sache in seine Hände gelegt und wollte Ergebnisse sehen, verlangte nach Völkerverständigung, neuen Kontakten, Freundschaft – sprich: nach fetten Profiten. »Und da das Freie Raumcorps sich dicht machte wie eine Muschel, könnte man auf normalen Wege warten, bis man alt und hager geworden ist …«

»H-h-abt Ihr … h-h-abt Ihr m-m-mit mir gesprochen, Ehrwürdiger Flugdirektor?«

»HA, Oknok! Ihr … habt … mich … erschreckt.« Paknak bezähmte sich, um den Wissenschaftler nicht anzubrüllen. Es war ein großer Frevel, wichtige Leute zu erschrecken – manch eine Karriere im Rat der Kooperative endete durch plötzlichen Herzstillstand. Normalerweise hätte es keiner gewagt, sich an Paknak heranzuschleichen, aber Oknok war auch nicht normal. Deswegen hatte er die letzten Worte des Flugdirektors natürlich auch gleich auf sich bezogen. Oknok litt an einem unter Schluttnicks bekannten, aber zum Glück sehr seltenen genetischen Defekt: Er konnte kein Gewicht ansetzen. Egal, was und wie viel er aß, er blieb klapperdürr. Gewöhnlich hatten diese Schluttnicks ein bedauernswertes Leben ohne jede Karrieremöglichkeit. Sie vegetierten als Einsiedler dahin oder wanderten gar aus und ließen Schluttnick Prime und die unaufhörlichen Blicke voll Abscheu und Mitleid hinter sich. Einige wenige von ihnen gingen zur Armee, wo zu viel Körpermasse als hinderlich angesehen wurde, und brachten es da sogar zu Einfluss und Ansehen, sodass sie selbst von den feistesten Schluttnicks geachtet wurden. Doch das war die Ausnahme.

Oknok war jedoch genial, hochbegabt und brillant, und deswegen durfte er bleiben. Mehr noch, er hatte das Privileg, als Zeichen seines Ranges entsprechend gepolsterte Kleidung zu tragen. Doch die scheinbaren Fettwülste um seine Mitte herum konnten nicht über das abgemagerte Gesicht und die knochigen Hände hinwegtäuschen. Es war, wenn man es milde ausdrücken wollte, kein schöner Anblick. Und da Oknok natürlich wusste, wie ihn die anderen ansahen, und seit Kindesbeinen an unter der Verachtung litt, hatte er zudem einen gehörigen Sprung in seiner superintelligenten Schüssel …

»Ist auch bei Euch alles vorbereitet, Oknok?«, fragte Paknak mit so viel Liebenswürdigkeit wie möglich. Die Augen des Wissenschaftlers glänzten als Antwort darauf ein bisschen weniger panisch.

»Aber sicher, Ehrwü-ü-ürdiger Flugdirektor! Es kann gar nichts schiefgehen!«

Paknak konnte nicht verhindern, dass er bei dieser Zusicherung zusammenzuckte. »Dann ist ja alles bestens«, quetschte er heraus. Er versuchte sogar ein beruhigendes Lächeln, da er darin allerdings nicht viel Übung hatte, brach er das Experiment sofort ab, als er neuen Schrecken in Oknoks Blick auflodern sah.

»Sie werden jeden Moment hier sein, die dürren Kröten vom Corps. Also sieh zu, dass du dich jetzt ganz fix … ich meine, es wäre jetzt wohl an der Zeit, sich zu den Instrumenten zu begeben, Eure Hochwissenschaftlichkeit.«

»Ihr könnt Euch auf mich verlassen!«, rief Oknok noch einmal quer durch das Zimmer, hastete in einen Nebenraum und eine Treppe hinauf. Sein Ziel war eine Kammer, von der aus man durch ein geschnitztes Fensterrelief in das Völlereizimmer hinunterschauen konnte. In den glanzvolleren Zeiten von Paknaks Anwesen hatten hier hochrangige Personen geschlemmt und dabei die weniger noblen Gäste beobachten können. Im Moment war es schwer, den Blick nach unten zu genießen, denn der kleine Raum war fast komplett mit sonderbar anmutenden Maschinen vollgestellt. Oknok zwängte sich zwischen ihnen hindurch zu einem Steuerpult, und nur weil seine Leibesfülle nicht echt war, konnte er sich auf einem Hocker niederlassen – es sah nun aus, als wäre er zwischen die bronzefarbenen Metallkonsolen eingegossen worden.

 

Während er mit einer erstaunlich melodiösen Stimme vor sich hin summte, betätigte Oknok hier und da einige Knöpfe und Räder und prüfte die Einstellungen des Artefaktes, dessen Erforschung und Verbesserung ihn die letzten Wochen gekostet hatte. Dann wartete er auf seinen Einsatz.

Von seinem erhöhten Aussichtspunkt aus konnte er schließlich das Eintreffen der Ikarus-Crew beobachten. Neugierig musterte er die hageren Humanoiden und das baumähnliche Wesen in ihren grünen und geradezu unanständig körperbetonten Uniformen. Er sah, wie Paknak die Besucher überschwänglich begrüßte und wie nach einem kurzen Dankeswort des Captains der Pentakka über den Flugdirektor hereinbrach wie eine Gewitterwolke aus Fragen und Kommentaren.

Mit Mühe und Geschick brachte Paknak die Leute dazu, sich an den breiten Esstisch zu setzen – die schmalen Gestalten verloren sich in den ausladenden Stühlen. Dann wurde der Aperitif gereicht, Paknaks berühmte Mischung aus drei verschiedenen Fruchtlikören, und die Bediensteten trugen den ersten, leichten Gang auf, eine Suppe à la surprise, in der die Köche nach alter Tradition alle bei der Zubereitung der anderen Gänge angefallenen Reste verarbeitet hatten. Jetzt begann Oknoks große Stunde …

Mit vorsichtiger Hand brachte der Wissenschaftler den Projektor in Stellung, sodass das Strahlungsfeld den gesamten Tisch und einen großen Teil der Halle abdecken würde – das schloss dann auch alle anwesenden Schluttnicks mit ein, aber sie würden den Effekt kaum spüren. Zögernd verharrte die magere Hand Oknoks über einem großen Rad mit einer altmodischen Skala. Der linke Bereich war himmelblau markiert, der rechte wurde immer dunkler bis hin zu einem tiefen, leuchtenden Rot. Der Schluttnick war sich bewusst, was hier auf dem Spiel stand: Ruhm und Anerkennung für ihn, Profit für das Direktorium, alles für Paknak.

Warum also nicht in die Vollen greifen?

Der himmelblaue Bereich der Skala stand für Sympathie mit dem Volk der Schluttnicks und würde die Crew der Ikarus nach der Bestrahlung zu erklärten Freunden dieser wunderbaren Rasse machen. Dann war es ihnen ein inneres, eigenes Bedürfnis, immer wieder ein gutes Wort für die findigen Händler einzulegen, sie ihren Vorgesetzten und Handelspartnern zu empfehlen und profitable Tipps an Paknak weiterzugeben.

Oknok hätte es zwar nie offiziell zugegeben, aber er verstand die Funktionsweise des Artefaktes, das das Zentrum dieser Anlage bildete, mehr … nun … grundlegend. Wie bei den meisten Maschinen, die die Schluttnicks benutzten, hatte er mit Versuchen und Analysen die Geheimnisse dieses Gerätes erforscht. Sobald die Erfolge überwogen, galt ein Artefakt als einsatzbereit. Der Rest war Intuition, eine wichtige Eigenschaft für einen erfolgreichen Wissenschaftler.

Wenn also Himmelblau für Sympathie stand, dann gab es für den roten Bereich der Skala nur eine Erklärung: Liebe. Und was konnte besser sein für eine fruchtbare Verbindung zwischen dem Raumcorps und der Schluttnickkooperative? Hier galt es, nicht zu kleckern …

Mit einem entschlossenen Ruck dreht Oknok den Regler ganz nach rechts und warf einen letzten Blick auf die Besucher unten in der Halle. Dann drückte er den Startknopf und lehnte sich zufrieden zurück.


Sie hatten überlebt, wenngleich nur knapp, wie es ihnen schien. Das Ende des Festessens bei Paknak war in der Erinnerung von Weenderveen nur noch verschwommen. Er hielt sich für einen guten Esser und hatte auch keine Probleme damit, unbekannte Speisen auszuprobieren, aber er würde nie vergessen, wie ihn ab dem neunten Gang das Grauen packte. Er schaffte es, das Gefühl beim zehnten (irgendein Gemüse in einer schokoladenähnlichen Soße mit gerösteten … Flügeln?) und beim elften Gang (Meeresfrüchte in Sahnebuttersoße mit scharfen Gewürzen) zu beherrschen, doch beim zwölften gebrauchte er die uralte Ausrede und flüchtete sich auf die Toilette, wo er Anande traf, der bereits seit dem achten Gang verschwunden war. Zusammen hatten sie dort eine Weile ausgeharrt – beiden war etwas schwindelig, was sie jedoch problemlos auf die eine oder andere Zutat oder den sprudelnden, süßen Wein zurückführen konnten.

Sie kehrten erst zum Dessert zurück und sahen, dass auch Sonja DiMersis Platz inzwischen leer war. Nur der Captain hielt sich leicht verkrampft an einem großen Becher fest und ignorierte mit einigem Geschick ein kreischrosa, fast tellergroßes Geleetörtchen unter einem Berg von Sahne. Er sah reichlich blass aus. Sogar Thorpa hatte aufgehört, Paknak mit Fragen zu löchern, und stocherte in einem hellgrünen Brei herum.

Ihr Aufbruch hatte etwas von einer Flucht, bei der sie freundliche Floskeln und Dankesworte wie Raketenabwehrbojen hinter sich warfen. Der Flugdirektor schien durch ihr Verhalten jedoch nicht gekränkt, im Gegenteil. Er winkte ihnen lächelnd nach und rieb sich die fleischigen Hände, bevor er in der großen Tür seines Hauses verschwand.

Auf der Ikarus angekommen, begaben sich alle erst einmal in die Krankenstation, baten Doktor Anande um verschiedene Mittel gegen Völlegefühl, Übelkeit und Bauchschmerzen und teilten diese kameradschaftlich, ehe sie sich wortkarg in ihre Kabinen zurückzogen. Es verschaffte ihnen eine gewisse Genugtuung, Thorpas Eingeständnis zu hören, dass ihm dieses Essen vielleicht ein paar Einblicke zu viel in das Leben der Schluttnicks gegeben hatte. Die Aussicht, am nächsten Tag endlich die Heimreise anzutreten, war dementsprechend sehr verlockend.

Umso erstaunlicher fand es Darius Weenderveen, dass er nach einem überlangen Verdauungsschlaf mit einem nicht unbeträchtlichen Appetit erwachte. Anandes Medikamente schienen eine Nebenwirkung zu haben … Weenderveen wusch sich kurz, klopfte sich vor dem Spiegel mit einiger Zufriedenheit auf den Bauch, der mit den Jahren immer etwas größer geworden war, und kleidete sich an, bevor er in den Gemeinschaftsraum der Ikarus ging. Entgegen seinen Erwartungen war er dort nicht allein.

»Guten Morgen, DiMersi!«, rief er gut gelaunt. Der Chief blickte von einer Schale Schokoladenmüsli auf – anscheinend war es nicht die erste, denn neben ihr stapelte sich schmutziges Geschirr. »Na, leiden sie auch unter den Nachwirkungen von Anandes Pillen?«

»Wohl eher Mittag, Weenderveen. Welche Nachwirkungen?«

»Ich habe einen Bärenhunger – und Ihnen scheint das ja nicht anders zu gehen. Wollten Sie nach der gestrigen Völlerei nicht auf das Laufband?«, frotzelte der Techniker, während er einen Löffel mehr Süßstoff in seinen Kaffee tat als gewöhnlich.

»Laufband? Oh, ach so. Nein, das kann warten.« Dem Chief schien die Frage fast unangenehm. »Wir machen uns in einer Stunde auf den Weg zurück nach Vortex Outpost. Sehen Sie zu, dass Sie bis dahin mit dem Frühstück fertig sind.«

Weenderveen lachte. »In einer Stunde dürfte das kein Problem sein.«

»Das sagen Sie mal Anande. Unser Asket hat heute fast zwei Stunden den Tisch mit seinem Frühstück und den Puzzleteilen für seinen Bericht des Einsatzes auf Schluttnick Prime belegt.«

»Zwei Stunden!« Weenderveen grinste ein wenig gehässig. »Er kann es ja versuchen, aber ich glaube nicht, dass er es irgendwie schaffen kann, Gewicht anzusetzen.«

»Wenn Paknak uns noch ein paarmal zum Essen einlädt, rollen wir bald alle durch die Gänge der Ikarus

»Ach ja, Paknak …« Der Techniker nahm einen großen Schluck Kaffee und starrte einen Moment nachdenklich an die Decke. »Im Grunde mag ich den Knaben. Er ist manchmal etwas schwierig, aber Schluttnicks sind eben so. Man muss sie nur etwas besser kennenlernen.«

»Da haben Sie wohl recht.« Sonja DiMersis Stimme klang etwas verwundert, aber sie nickte bestätigend. »Ich habe mich auch sehr an sie gewöhnt in den letzten Wochen – was mir jetzt erst richtig bewusst wird. Eigentlich schade, dass wir sie so bald nicht wiedersehen werden.«

»Tja, das Raumcorps hat keine Handelsbeziehungen mit den Schluttnicks, deswegen trifft man sie nie auf Vortex Outpost

»Seltsam eigentlich. Diese Schlutterware ist ziemlich praktisch – wussten Sie, dass es so große Exemplare gibt, dass man sie als Trockendock für die Ikarus nehmen könnte?«

»Wirklich? Eigentlich eine gute Idee …«

In dem kurzen Schweigen nippten beide Techniker gedankenvoll an ihren Bechern.

»Ich verstehe das Raumcorps in dieser Hinsicht nicht so recht. Die Schluttnicks wären bestimmt eine Bereicherung für den Handel und den kulturellen Austausch.«

»Ja, es klingt ein bisschen nach alten Vorurteilen. Es wäre vielleicht an der Zeit, die mal abzubauen.«

Sonja stand auf und räumt ihr Geschirr weg. »Losian wird uns nach unseren Eindrücken fragen – vielleicht können wir mit unserem Bericht ja irgendetwas in Gang setzen.«

»Das ist eine gute Idee. Hey, dann können wir vielleicht eines Tages eine Schlutterware-Party geben!«

Das Gesicht des Chiefs verzog sich zu einer Grimasse. »Das, Weenderveen, geht dann vielleicht doch ein bisschen zu weit.«

Sonja DiMersi verließ den Gemeinschaftsraum und machte sich auf den Weg zur Zentrale. Dabei zupfte sie irritiert an den Verschlüssen ihrer Uniform herum, die ihr heute seltsam eng erschien – waren das schon die Auswirkungen des Schluttnickessens? Schließlich stellte sie den Gürtel weiter und atmete erleichtert auf, als das Gefühl der Beengtheit nachließ. Vielleicht war es an der Zeit, sich eine neue – großzügiger geschnittene – Garderobe zuzulegen.

Als sie die Zentrale betrat, sah sie gleich, dass die meisten Vorbereitungen für den baldigen Aufbruch schon abgeschlossen waren. Thorpa saß an seinem Platz und machte die Routinechecks – er sah etwas elend aus, wenn hängende Blätter bei einem Pentakka ein Zeichen dafür waren. Auch Sentenza wirkte in seinem Sessel etwas schmal und blass, aber er begrüßte den Chief mit einem Lächeln.

»Können wir bald los?«, fragte Sonja nach einem verstohlenen Kuss, und Roderick nickte.

»Fast. Wenn die Beladung der Ikarus abgeschlossen ist.«

»Beladung? Schickt uns Paknak die Reste seines Menüs als Reiseproviant? Ich glaube, dafür haben wir nicht genug Ladekapazität …«

»Nicht ganz. Aber das Direktorium wollte sich dankbar zeigen und füllt gerade jede noch so kleine Ladebucht mit Schlutterware.«

Sonja stöhnte in gespieltem Schmerz auf. »Was sollen wir denn damit anfangen? Brotdosen und Gefrierboxen noch für unsere Kinder und Kindeskinder? Haben sie wenigstens eines ihrer berühmten Freundschaftsgeschenke für Großabnehmer beigelegt?«

»Bedauerlicherweise nicht. Wir werden schon eine Verwendung für anderthalb Tonnen Schlutterware finden«, tröstete Sentenza sie. »Zumindest ist ja das Design von dem Zeug ziemlich zeitlos. Ach, übrigens, bevor ich es vergesse: Eine der Kisten von Schluttnick Prime ist explizit an dich adressiert und enthält wohl auch keine Schlutterware. Du hast nicht zufällig noch einen kleinen Einkauf gemacht? Vielleicht einen winzigen Pralinennachtisch von fast 30 Kilogramm Gewicht?«

»Untersteh dich, den anderen etwas davon zu erzählen!«, zischte Sonja und bekam eine sehr gesunde Gesichtsfarbe. »Ja, ich habe noch ein paar Schachteln gekauft. Okay, vielleicht sind es etwas viele, aber wann kommen wir schon noch einmal nach Schluttnick Prime? Und ich werde sie nirgendwo anders bekommen!«

»Ich kann schweigen wie ein Grab«, versicherte der Captain und grinste, »natürlich nur bei entsprechender Bestechung.«

»Zwei Schachteln«, bot der Chief mit versteinertem Gesicht.

»Zehn.«

»Fünf.«

»Okay. Übergabe heute nach dem Sprung in meiner Kabine.«

»Ich werde da sein«, versprach Sentenza und wandte sich dann wieder den Anzeigen zu, um die letzten Verladearbeiten zu kontrollieren.


Nachdem sie aus der Desinfizierungsdusche getreten war, legte Skyta den Schutzanzug mit äußerster Sorgfalt ab und hängte ihn zurück in den Spind. So beengt das Innere des winzigen Raumschiffes auch war, es kam ihr für einen Moment sehr groß und angenehm vor.

Immerhin war es der einzige Ort in dieser Station, den sie ohne besondere Schutzmaßnahmen betreten konnte. In jedem anderen Winkel der großzügig ausgebauten Anlage, die Doktor Shen und Doktor Krshna bewohnten, lauerte der Tod. Das Juvenil hatte die beiden Wissenschaftler unsterblich gemacht, infizierte aber jeden in ihrer Umgebung mit einer tödlichen Krankheit. Deswegen hatten sich die Erfinder dieses Janus-Elixiers von der Welt zurückgezogen und arbeiteten nur noch im Geheimen – niemand konnte sie so als Waffe einsetzen oder sie dazu zwingen, ihr Wissen preiszugeben, um selber unsterblich zu werden.

 

Skyta hielt für einen Augenblick inne und versuchte zu analysieren, was ihr an der Station sonderbar vorkam – es war nur eine Kleinigkeit, die an ihr nagte, seit sie vor drei Tagen zum ersten Mal einen Fuß in das Reich der Unsterblichen gesetzt hatte.

Möglicherweise irrte sie sich auch, sie hatte jedoch den Eindruck gewonnen, dass diese Anlage nicht für zwei Leute konzipiert worden war – sondern für drei. Die Zahl der Privaträume, der Sitzgelegenheiten in Küche und Gemeinschaftsraum, ja auch die Arbeitsplätze in den hochmodernen Labors deuteten darauf hin. Wenn dem so war, so hielt sich der dritte Wissenschaftler entweder vor ihr versteckt oder er war trotz des Juvenil schlichtweg gestorben. Sicherlich hätte ihm niemand erlaubt, die Station zu verlassen und wäre das Risiko einer erneuten Epidemie wie damals auf Cerios eingegangen. Andererseits konnte Skyta jeden verstehen, der diesem goldenen Gefängnis auf Lebenszeit entkommen wollte. Sie war schon nach drei Tagen froh, der Station vorerst den Rücken zukehren zu können.

Mühelos durchquerte die Söldnerin den Mittelraum des Schiffes, der ihr ohne die Stasiskammer ungewohnt groß erschien, und nahm Funkkontakt zu Dr. Shen auf.

Das Gesicht der Wissenschaftlerin wirkte entspannter als bei Skytas Ankunft – die neue Aufgabe und selbst der Kontakt zu der ziemlich wortkargen Besucherin hatten ihr gutgetan. Sie hatte aus ihrem Bedauern, dass Skyta sie vorerst wieder verlassen würde, keinen Hehl gemacht. »Sie können gerne auch vor Ablauf der Frist wieder herkommen«, betonte Dr. Shen nun erneut zur Einleitung des Gespräches. »Falls Ihnen der Rest des Universums in der Zwischenzeit zu langweilig wird.«

Skyta lächelte leicht – sie hatte den trockenen Humor ihrer Gastgeberin zu schätzen gelernt, selbst wenn er manchmal fast ins Makabre abglitt. »Dann werde ich gerne darauf zurückkommen«, versicherte sie im Gegenzug und schloss die Sicherheitsgurte, die an den Seiten des Hartschalensitzes herabhingen. Alles an diesem Raumschiff war effizient, aber auch alt und oft unbequem. Nur der Antrieb hielt weit mehr, als er zu versprechen schien. »Sollte das aber nicht der Fall sein, so bin ich in genau sechs Standardmonaten wieder bei Ihnen.«

»Ich freue mich darauf. Und machen Sie sich keine Sorgen. Das Schwierigste haben wir geschafft und der Rest ist Sache des verbesserten Regenerationstanks, den Dr. Krshna entwickelt hat. Es ist zwar ein Prototyp, aber er funktioniert ohne Einschränkungen. Dr. Krshna lässt Ihnen noch Grüße ausrichten und dass er wirklich froh ist, den Tank endlich ausprobieren zu können – bei uns selber ist da ja nicht viel zu machen, selbst wenn wir uns dafür mal einen Arm amputieren ließen …«

»Es ist gut, dass es überhaupt den Prototypen gibt. Er rettet Kommandant Cainen das Leben. Ich stehe tief in Ihrer Schuld.«

Dr. Shen nickte ernst. »Man sagt, die Schwarze Flamme vergisst nicht, weder im Guten wie im Schlechten. Wir freuen, dass wir Ihnen helfen konnten. In sechs Monaten können Sie Ihrem Kommandanten zur Seite stehen, wenn er wieder aufwacht.«

»Ich werde da sein.«

Die Funkverbindung wurde beendet und Dr. Shen strich sich in einer gewohnten Geste eine Haarsträhne zur Seite. Sie bezweifelte nicht, dass die Söldnerin ihr Versprechen halten würde – vermutlich hielt sie alle ihre Zusagen, auch die Drohungen. Die Holoprojektion zeigte ihr nun, wie das kleine, schwarze Raumschiff startete und sich erst langsam, dann immer rascher entfernte. Dank des modernen Antriebes und des im Asteroidengürtel eines benachbarten Systems verborgenen Sprungtores würde Skyta die Station Vortex Outpost in nicht einmal einer Woche erreicht haben – eine beneidenswerte Vorstellung.

Mit einem leichten Seufzen wandte sich Dr. Shen ab und machte sich auf den Weg in das Labor zu Dr. Krshna. Der kurze Besuch der Söldnerin hatte die manchmal lähmende Stille ihres geheimen Lebens aufgewirbelt wie ein Stein, der in glattes Wasser fiel. Nun würden sich die Wellen in den nächsten Tagen legen und alles würde so ruhig sein wie vorher – bis zu ihrer Rückkehr.

Aber was waren schon sechs Monate im Leben eines Unsterblichen?


»Was soll das heißen: Die Schachtel ist schon leer?«

»Sie ist einfach leer. So wie die anderen drei auch.«

Ein kurzes Schweigen trat nach dieser Verkündung ein, in dem DiMersi und Sentenza auf die leeren Kammern der Pralinenpackung blickten, als stünde dort eine tiefere Weisheit geschrieben.

Dann räusperte sich der Captain verhalten. »Das bedeutet also, wir haben innerhalb von zwei Stunden vier Schachteln dieser Schluttnickpralinen gegessen?«

»Ja. Und, was wir nicht verschweigen sollten, jeder hat drei Café-Creme dazu getrunken.«

»Eigentlich sollte uns ziemlich schlecht sein, aber mir geht’s prima. Und dir?«

»Wunderbar. Diese Pralinen sind ja wirklich einzigartig.« Sonja DiMersi streckte sich und seufzte. Für einen Moment sah sie sich in der glänzenden Folienabdeckung der fünften schwarzen Schachtel, die sie Roderick als Schweigegeld hatte geben wollen, und zuckte zusammen. Die leicht konkave Oberfläche ließ sie irgendwie abgemagert aussehen, die Knochen traten scharf in ihrem Gesicht hervor.

Ich arbeite zu viel, schoss es ihr durch den Kopf. Und ich achte zu wenig auf meine Ernährung. Ein bisschen mehr auf den Rippen könnte mir gar nicht schaden.

Sie warf einen Blick zu Roderick hinüber und runzelte die Stirn. Er wirkte auch irgendwie ausgezehrt, längst nicht so … stattlich, wie sie ihn sonst in Erinnerung hatte. Seltsam, dass sie dieses Wort für ihren Geliebten benutzte. Stattlich. Aber es stimmte, sonst war er eine beeindruckende Erscheinung. Doch zurzeit erschien er ihr schmal, fast wie ein hageres Bürschlein.

Normalerweise hätte sie diese wenigen privaten Stunden mit Roderick an Bord der Ikarus dazu genutzt, um ihn in ein leidenschaftliches Liebesspiel zu verwickeln – Weenderveen hatte dieses liebeshungrige Verhalten seiner Vorgesetzten einmal etwas zu laut als Karnickelfrühling bezeichnet, was ihm von Sentenza einen schweren Verweis eingebracht hatte. Heute würde der Robotiker keinen Anlass für solche Sprüche bekommen. Sonjas plötzliche neue Sichtweise auf Roderick erstickte ihre Libido vollständig.

Zu ihrer Verwunderung – und stillen Erleichterung! – schien es dem Captain nicht anders zu gehen.

Er musterte sie, doch sein Blick enthielt kein Verlangen, eher Besorgnis. »Du siehst ein bisschen abgehärmt aus, meine Süße«, bemerkte er schließlich. »Vielleicht sollten wir nach all dem Pralinenzeug noch eine richtige Mahlzeit zu uns nehmen.«

»Das ist ein guter Gedanke«, schloss sich der Chief gleich an, erhob sich und zog die Uniformjacke über, obschon es in der Ikarus überall angenehm temperiert war. Sie fühlte sich irgendwie wohler, wenn sie gut eingepackt war.

Auch Sentenza ließ sein Hemd locker über dem Hosenbund hängen und schlüpfte in seine Jacke. Dann hakte er sich bei Sonja ein. »Also dann, gehen wir. Erst das Vergnügen, dann die Profite, wie ich immer sage.«

»Das ist ein Schluttnickspruch«, erinnerte sich der Chief erstaunt und der Captain grinste.

»Stimmt. Aber er gefällt mir trotzdem. Weißt du, was wir mit der Schlutterware in den Frachträumen machen könnten?«

»Na ja, auch wenn sie so wunderbar vielseitig einsetzbar ist, selber aufbrauchen können wir sie wohl nicht. Immerhin ist sie von besonders guter Qualität, fast unzerstörbar.«

»Genau. Aber wenn wir sie nicht komplett nutzen, was soll sie dann in irgendeiner Halle herumlagern? Es gibt so viele Leute auf Vortex Outpost, die eine gute Schlutterware gebrauchen können.«

»Ja, für Lebensmittel.«

»Oder Werkzeug.«

»Oder Ausrüstung.«

»Sogar für Flüssigkeiten, Getränke oder Chemikalien.«

»Das ist eine gute Idee.«