Rettungskreuzer Ikarus 11 - 20: Verschollen im Nexoversum (und 9 weitere Romane)

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»Ja«, lächelte Sentenza zufrieden und rieb sich unbewusst die Hände. »Das ist es.«


Die Ankunft der Ikarus auf Vortex Outpost war nicht wirklich ungewöhnlich, auch wenn sich flüchtige Beobachter über ein paar Kleinigkeiten schon wunderten. Die Crew wirkte abgespannt und irgendwie ungepflegt, trug die Kleidung sehr leger und suchte, entgegen ihrer Gewohnheit, erst einmal das Skizar Quaba zu einem ausführlichen Mittagessen auf. Vermutlich war der lange Einsatz auf Schluttnick Prime ziemlich anstrengend gewesen.

Ebenso erstaunt waren die Lagerarbeiter, die die Aufgabe hatten, die Frachträume der Ikarus zu leeren. Sobald sie damit anfingen, die Container mit der Schlutterware auszuladen, tauchte Weenderveen auf und kontrollierte den Vorgang mit Argusaugen. Irgendwann kam das Gerücht auf, in den Boxen wäre etwas sehr Wertvolles oder Gefährliches versteckt.

Als ein Arbeiter lauthals bemerkte, dass man so viel Aufhebens doch nicht einfach um ein paar blöde Plastikschachteln machen würde, kam Weenderveen über ihn wie ein Gewitter und der verblüffte Mann musste sich einen Vortrag über die Qualität, die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten und die zeitlose Eleganz der Schlutterware anhören. Schließlich, um den wütenden Robotiker zu beruhigen, kaufte der Arbeiter ihm einen Satz Boxen mit dem Design Sonnenrosen und verspielte Asteroiden ab, was den Zwischenfall noch zu einem glücklichen Ende brachte.

Auch der Verwalter der Rettungsabteilung, Losian, wunderte sich über den Bericht, den er von seinen Leuten erhielt. Waren die Ausführungen auch anfangs noch präzise und umfassend, so wie er es gewohnt war, änderte sich das jedoch zum Ende hin. Besonders auffällig war die häufige Erwähnung des Flugdirektors Paknak, dessen Freundlichkeiten und Fähigkeiten – sowie dessen ausgezeichnete Handelsbeziehungen –; die diesbezügliche Beschreibung machte einen großen Teil des Berichtes aus. Losian runzelte darüber die Stirn und schüttelte den Kopf, dann nahm er sich vor, Captain Sentenza später darauf anzusprechen und eine Überarbeitung der Unterlagen zu erbitten. Doch das konnte noch warten, sollte die Crew erst einmal ihre wohlverdiente Freizeit genießen. Vielleicht machte das auch ihre Köpfe wieder klar …

Das sonderbarste Erlebnis jedoch hatte jemand, der mit der Besatzung der Ikarus ansonsten wenig in Kontakt kam. Wie in vielen modernen Siedlungen war es auch auf Vortex Outpost nicht unüblich, dass die Bewohner der Apartments ihre Nachbarn kaum kannten. Man traf sich zufällig in den Korridoren, nickte sich zu, grüßte sich kurz und wusste nicht einmal wirklich, wie der andere hieß oder was er auf der Station tat. Wenn diese Nachbarn zudem noch die meiste Zeit außerhalb der Station beschäftigt waren, verstärkte das die Anonymität beträchtlich. Dementsprechend hätte Bela Rogulic niemals mit Sonja DiMersis strahlendem Gesicht gerechnet, als sie, durch den Summer aus ihrer Küche gelockt, die Tür öffnete.

»Frau Rogulic!«, begrüßte sie die sonst recht kurz angebundene Nachbarin mit fast überschwänglicher Freundlichkeit. »Wie geht es Ihnen? Sie sehen gut aus.«

»Oh, danke. Mit geht es gut … und Ihnen?«, antwortete Bela vorsichtig mit einer Gegenfrage und ging dabei kurz alle möglichen Gründe für diesen ungewöhnlichen Besuch durch. Hatte sie irgendwas im Korridor stehen lassen? Oder war sie zu laut gewesen? Obwohl doch die Apartments eine sehr effektive Schallisolierung hatten …

»Mit geht es wunderbar, vielen Dank. Sind sie gerade sehr beschäftigt?«

»Ich … koche gerade.«

»Sie kochen! Ganz reizend, Frau Rogulic. Sie nehmen ihre häuslichen Pflichten sehr ernst, nicht wahr?«

»Häusliche Pflichten?«

»Kochen, gute Vorratshaltung, Ordnung und Sauberkeit. Das macht die Seele eines Haushaltes aus. Aber was erzähle ich Ihnen, das wissen Sie doch viel besser als ich. Sagen Sie, hätten Sie ein paar Minuten Zeit für mich?«

»Sicher. Kommen Sie doch herein …« Bela Rogulic trat irritiert zur Seite und ließ Sonja DiMersi vorbei. Erst jetzt bemerkte sie die große Schultertasche, die ihre Nachbarin bei sich trug. Vielleicht wollte sie verreisen? Und sie bitten, sich um ihre Pflanzen zu kümmern – falls sie überhaupt welche hatte. Mit dem Gedanken, dass Frau DiMersi sicherlich gleich Licht in das Dunkel bringen würde, folgte sie ihr in den Wohnbereich. Dort stand die weißhaarige Frau in dem langen, weiten Kleid bereits vor der Sitzecke, sah sich um und nickte beifällig.

»Sehr schön haben Sie es hier – irgendwie bin ich nie dazu gekommen, Sie mal zu besuchen, eigentlich eine Schande. Sie leben hier mit Ihrem Mann … nein, Ihren zwei Männern, nicht wahr?«

»Ja, das stimmt. Aber Rupert ist einige Zeit außerhalb der Station beschäftigt.«

»Sie sind aus Biraness auf Kulans Welt? Ein sehr sympathisches Land, auch wenn ich noch nicht selber dort gewesen bin. Gerade die Polygamie dort ist ein wirklicher Fortschritt im Gegensatz zu der sonst so verbreiteten Einehe. Nur eine große Familie bietet wirtschaftliche Sicherheit, wie ich immer sage.«

Bela runzelte die Stirn und konnte sich an kein Zitat dieser Art erinnern, zumal Frau DiMersi, soweit sie das mitbekommen hatte, ohnehin erst seit vergleichsweise kurzer Zeit eine Partnerschaft zu einem Mann eingegangen war. Sie ließ dieses Thema demnach ohne Kommentar und erinnerte sich stattdessen an ihre Gastgeberpflichten. »Möchten Sie vielleicht eine Tasse Tee?«

»Das wäre ganz herrlich, vielen Dank.«

Seltsamerweise schlenderte Frau DiMersi hinter ihr her in die Küchenecke, wo die Zutaten für einen Auflauf halb vorbereitet auf dem Tisch lagen. Leicht nervös schaltete Bela den Wassererhitzer ein und griff nach der Teedose.

»Tee ist ziemlich teuer auf Vortex Outpost«, bemerkte Sonja DiMersi unvermittelt. »Fast eine kleine Kostbarkeit. Sie bewahren Ihren Tee immer in dieser Dose auf?«

»Ja, sicher. Ist daran etwas … Besonderes?«

»Leider nicht, im Gegenteil«, seufzte Sonja mit einem bedauernden Blick. »Wissen Sie, diese gewöhnlichen Dosen, die man hier so im Handel bekommen kann, sind meist von ziemlich schlechter Qualität. Ich wette, Ihr Tee verliert das Aroma, noch bevor die Dose gerade halb leer ist.«

»Eigentlich ist er ganz okay«, widersprach Bela, doch die andere ließ sich dadurch nicht beeindrucken.

»Ja, das sagen Sie, weil Sie noch keine wirklich gute Teedose hatten, die das wertvolle Aroma Ihres Tees bewahrt und versiegelt hat. Wussten Sie, dass es Dosen gibt, die die überschüssige Luft in einer halb vollen Dose absaugen und somit einen einzigartigen Geschmacksschutz erzielen? Nur durch das Aufsetzen des Deckels?«

»Nein, das wusste ich nicht. Es klingt … sehr neumodisch.«

»Ist es auch, eine ganz ausgezeichnete Erfindung. Und wissen Sie von welcher Marke? Schlutterware. Sie kennen das Produkt? Von Schluttnick Prime, einer wirklich bezaubernden Welt. Da wird noch Qualität hergestellt.« Sonja DiMersi zwinkerte ihrer leicht betäubten Nachbarin zu und lächelte gewinnend. »Wie es der Zufall will, habe ich ein paar dieser praktischen Dosen von unserem letzten Einsatz mitgebracht. Ich habe sie in der Tasche da drüben – warten Sie, ich hole Ihnen mal eine.«

Mit rauschendem Kleid eilte Sonja zu der Tasche und zauberte eine schlanke Dose in einem unvergänglichen Blau hervor.

»Und sie ist wirklich ganz einfach zu bedienen. Sehen Sie …« Schnell und elegant nahm sie Bela den Tee aus der Hand, schüttete die losen Blätter in die Schlutterware und drückte den Deckel auf den Behälter. Ein leises, saugendes Geräusch erklang, das winzige Ventil in dem Deckel der Dose bebte. »Das war das Aromasiegel«, verkündete Sonja DiMersi gewichtig. »Und durch einen einfachen Druck auf die Mitte des Deckels strömt neue Luft hinein und Sie können die Dose wieder öffnen.« Ein kurzes Zischen war zu hören, dann ploppte der Deckel wieder auf. Frisches Teearoma erfüllte die Luft. »Na, ist das nichts? Auf dieses Produkt gibt es eine lebenslange Garantie, keine Frage! Wer Qualität anbietet, der steht auch zu ihr.«

Bela Rogulic nahm die neue Dose zur Hand und betrachtete sie. Sie konnte nicht verhehlen, dass sie von dem Prinzip beeindruckt war. Und es stimmte, Tee war verdammt teuer hier auf Vortex Outpost. »Und Sie würden diese Dose wirklich verkaufen, Frau DiMersi?«, fragte sie schließlich und erhielt als Antwort ein strahlendes Lächeln und ein Nicken.

»Ja, ich habe, wie gesagt, ein paar von Schluttnick Prime mitbringen können – und eine richtige Schlutterware-Party ist ja wegen der Handelsbestimmungen auf Vortex Outpost nicht möglich. Um an so eine Dose zu kommen, müssten Sie also eigentlich mindestens drei Tage in eines der Systeme außerhalb des Bereichs des Raumcorps reisen.«

»So weit! Wie praktisch, dass Sie selber auf Schluttnick Prime waren. Ja, ich würde diese Dose gerne kaufen.«

»Das freut mich sehr! Warten Sie, ich zeige Ihnen, welche Designs ich noch in meiner Tasche habe – vielleicht brauchen Sie ja auch noch ein Geschenk für eine gute Freundin.« Sonja DiMersi wandte sich ab und wollte zurück in den Wohnbereich gehen, hielt dann aber mit einem Blick auf die Auflaufzutaten inne. »Sagen Sie, was machen Sie eigentlich mit den Resten so eines Essens? Es bleibt ja immer mal etwas übrig und wenn man das einfrieren will … Na ja, kennen Sie das nicht auch, dass eine Gefrierdose aufgeht und das gute Lebensmittel dadurch verderben?«

Wieder erschien dieser warme, verständnisvolle Ausdruck auf Sonja DiMersis Gesicht und ihre Augen blitzten voller Freude, dass sie einen Ausweg aus jeder Gefrierdosenmisere wusste. »Ich hole gleich mal meine ganze Tasche hier rüber. Vielleicht habe ich da noch was für Sie …«

 

Im Grunde war das doch eine ganz einfache Rechnung. Zufrieden lehnte sich Darius Weenderveen zurück und stopfte sich noch ein Kissen hinter den Kopf. Wie bei allen simplen Dingen brauchte es aber dennoch ein Genie, um die Klarheit zu erkennen und in eine verständliche Formel zu fassen. Auf dem Display seines Computers zeigte eine gemächlich, aber stetig ansteigende Kurve, dass die Berechnungen des Robotikers korrekt waren. Sie beinhalteten den einfachen Zusammenhang zwischen aufgenommenen Kalorien und deren Verbrauch durch die lebensnotwendigen Funktionen wie Atmung, Einhaltung der Körpertemperatur, Herzschlag und Verdauung. Wenn jede weitere unnütze Bewegung jenseits der Arbeit vermieden würde, könnte man somit bei entsprechend gutem Essen eine kontinuierliche Gewichtszunahme in respektablem Umfang erzielen. In der Grafik hatte Weenderveen bestimmte Punkte markiert. Sie zeigten Wegmarken der Körpermasse an, die in Verbindung mit zu erwartenden Beförderungen standen. Der Posten des Großtechnikers und der 100-Kilo-Wert waren das nächste Ziel – wobei der Robotiker zugeben musste, dass das Gewicht schneller zu erreichen war als der Rang, den jetzt Sonja DiMersi innehatte – das magere Hühnchen …

Bei dem Gedanken an Hühnchen begann ihm das Wasser im Mund zusammenzulaufen und er erinnerte sich daran, dass es Zeit war für das gemeinsame Essen. In den letzten Tagen hatte es sich die Crew der Ikarus zur Gewohnheit gemacht, die drei wichtigsten Mahlzeiten zusammen einzunehmen. Zuerst hatten sie sich an der Speisekarte des Skizar Quaba gütlich getan, doch bald schon waren sie dazu übergegangen, sich an Bord des Rettungskreuzers zu treffen. Einerseits hatte es damit zu tun, dass der ehrwürdige Flugdirektor Sentenza eine unbestechlich einleuchtende Rechnung darüber aufgestellt hatte, dass die in dem Restaurantessen vorhandenen Kalorien in einem schlechten Verhältnis zum Preis standen, den sie dafür zahlen mussten. Zwar hatten sie halbherzig versucht, mit dem Koch des Skizar Quaba zu sprechen, doch der war den Vorschlägen der Ikarus-Crew gegenüber nicht aufgeschlossen gewesen – genauer gesagt, war er immer grünlicher im Gesicht geworden, je mehr sie selber ins Schwärmen geraten waren. Ein zweiter Grund für die Verlagerung der Mahlzeiten in den einfachen Völlereiraum des Raumkreuzers war schlichtweg der, dass sie sich hier zu Hause fühlten und unter sich waren. Dabei ging es nicht nur um die Vertrautheit oder darum, dass der Anblick der anderen Bewohner von Vortex Outpost, die sich über Salattellerchen und Magerquarkdesserts beugten, alles andere als ästhetisch war. Zwar behaupteten sie, dass das Essen nur in der Gesellschaft Gleichgesinnter angenehm war, doch tief in ihrem Herzen wussten sie den wahren Grund, den keiner bisher ausgesprochen hatte. Auch Weenderveen verzog gequält das Gesicht, als er in seiner Gedankenfolge unweigerlich zu diesem wunden Punkt kam.

Sie mieden das Zusammensein mit allen anderen aus einer viel schamvolleren, schmählichen Erkenntnis heraus, der sie sich seit ihrer Rückkehr jeden Tag aufs Neue stellen mussten, jeder für sich und auf seine Weise.

Sie waren für gute Schluttnicks einfach viel zu dünn.

Bedrückt durch diese Schande verließ Weenderveen so langsam wie möglich seine Kabine und schlich durch die Korridore hin zum Völlereiraum. Schon von Weitem hörte er erregte Stimmen, und als er näher kam, erkannte er rasch, dass auch die anderen zu genau dieser Stunde die gleichen Gedanken gewälzt hatten wie er selber. Der Robotiker trat durch die Tür und sah vor sich die versammelte Mannschaft, allesamt mit erregtem Gesicht, auf dem der Schmerz der endlich ausgesprochenen Wahrheit stand.

In diesem Moment nahm Thorpa den Faden des hitzigen Gespräches auf. Der Pentakka breitete theatralisch die Arme aus, seine Stimme bebte ein bisschen.

»Wie sollen wir denn je so nach Hause zurückkehren? Wenn wir auf Schluttnick Prime ankommen, werden alle mit den Fingern auf uns zeigen. ›Seht‹, werden sie sagen, ›sie sehen aus wie Versager! Das sollen die geachteten Leute der Ikarus sein? Nein, da müssen wir uns irren‹«, werden sie spotten. Unser Ruf eilt uns voraus, und wir sind viel zu unterernährt, um ihm gerecht zu werden …«

»Was machen Sie sich da eigentlich Gedanken!«, fuhr ihn Sonja DiMersi plötzlich an. Der Chief war offensichtlich am Ende ihrer Nerven – sie hielt die Arme um den Körper gepresst und konnte damit doch nicht verbergen, dass er noch immer grässlich hager war und weit mehr Muskeln als Fett aufzuweisen hatte – ein bemitleidenswerter Anblick. Nur ihre Augen funkelten voll echter Wut und Verachtung. »Sie, Thorpa, sind ja nur Praktikant auf der Ikarus! Wenn es nach diesem Status geht, können Sie ja von Glück sagen, dass Sie nicht noch ein paar … Äste abnehmen müssen!«

Peinliches Schweigen breitete sich in dem Völlereiraum aus und alle Blicke richteten sich auf Thorpa, der mit bebenden Blättern dastand und kein weiteres Wort herausbekam. Die stillen Sekunden dehnten sich wie erwärmtes Karamell. Hatte der Blick des Captains, der sich seine gefütterte Niedrigtemperaturkombi übergezogen hatte, nicht etwas Abschätzendes? Was, wenn er mit der Meinung seines Ersten Offiziers übereinstimmte und der Ansicht war, die natürliche Masse des Xenopraktikanten sei eine Amtsanmaßung? Das Zittern der Blätter breitete sich über die feinen Äste bis hin zum Stamm aus, als Thorpa vorsichtig einen Schritt rückwärts ging. Was malten sich die anderen jetzt gerade aus? Eine Zwangsdiät gab es für einen Pentakka nicht … was dann? Entrindung? Astamputation? Mit einem hellen, quiekenden Geräusch fuhr Thorpa herum und stürmte aus dem Raum – nur fort von den anderen! –, die Gänge entlang und in die vorläufige Sicherheit seiner eigenen Kabine.

Zwei Stunden später saß Thorpa noch immer in seinem Quartier und hatte die Tür von innen verriegelt. Unglücklich hockte er auf dem Sattel vor dem Computermonitor und starrte blicklos auf die Zahlen, die er aufgerufen hatte. Er kannte sie mittlerweile auswendig. Sie enthielten, ohne Zweifel und so vernichtend wie ein Asteroideneinschlag, seine Verurteilung zu fast ewiger Mittelmäßigkeit – auch wenn er diese Abhandlung über das Dickenwachstum des Volkes der Pentakka noch vor wenigen Tagen als gerade mäßig interessant eingestuft hätte. Mäßig interessant! Was für ein Hohn! Hier stand, dass der Hauptkörper eines Pentakka pro LebensjahrZEHNT maximal drei Zentimeter an Durchmesser zunahm! Das bedeutete nichts Geringeres, als dass er Jahrhunderte warten musste, bis er eine für einen Schluttnick respektable Rundung erreichen konnte, ganz im Gegensatz zu den anderen Besatzungsmitgliedern, die mit ein paar guten Mahlzeiten viel zu bewegen vermochten. Vor seinem geistigen Auge sah Thorpa die grauenhafte Zukunft vor sich: Roderick Sentenza, wie er sicher und beeindruckend aus seinem verbreiterten Kommandosessel quoll, neben sich in aller Herrlichkeit seine gewichtige Gefährtin und Chief Sonja DiMersi, deren blaue Augen nur noch so eben aus den Fettrollen blinzelten. Weenderveen, träge, rund und erfolgreich. Selbst der dürre Anande würde spätestens mit der Erlangung eines Chefarzttitels seine neuen Kittel zehn Nummern größer kaufen müssen. Sogar Trooid konnte darauf hoffen, dass sein Erschaffer ihm einen neuen, Respekt einflößenden Körper bauen würde. Nur er, Thorpa, bliebe der ewige, ewige, ewige Praktikant, dünn wie ein Streichholz …

Es sei denn …

Fast widerwillig, aber doch voller finsterer Entschlossenheit, beugte sich Thorpa vor und gab eine Anfrage in den Computer ein. Für die meisten anderen wäre es eine harmlose Nachforschung, doch für einen Pentakka kam es einem religiösen, einem auf allen Ebenen tabuisierten Frevel gleich. Es dauerte nicht lange, bis er die gewünschten Informationen auf dem Schirm hatte, lange Darstellungen komplexer chemischer Verbindungen. Ein Schaudern ging durch die Zweige des Baumwesens. Das wäre also sein Weg zu Ansehen und Masse, sein Schlüssel zu dem Tor, das ihm eine Karriere versperrte. Andere Pentakka hatten diesen Weg auch schon beschritten, aus ebenso wichtigen oder unwichtigen Gründen, und viele von ihnen waren nach einer kurzen Zeit des Glanzes gestorben. Stammbrüche, Vergiftungen, Erweichungen des Körperkerns – er kannte alle schrecklichen Folgeschäden. Und doch, vielleicht wäre das die einzige Möglichkeit. Thorpa lehnte sich wieder zurück und prüfte seine Entschlossenheit und seinen Mut. Wäre er dazu bereit? Freude und Gefahr verbargen sich hinter diesem einen, unscheinbaren Wort: Hochleistungsdünger.


Es war eine seltsame Atmosphäre in dem kleinen Büro, in das der Verwalter der Rettungsabteilung noch einige zusätzliche Sitzgelegenheiten hatte quetschen lassen. Für größere Besprechungen stand ihm natürlich sonst ein passenderer Raum zur Verfügung, doch aus irgendeinem Grund war es ihm lieber gewesen, dieses Gespräch in der gänzlich abhörsicheren und persönlicheren Umgebung seines Arbeitszimmers zu führen. Er konnte nicht einmal genau sagen, was ihn dazu bewogen hatte und weswegen er sich trotzdem unwohl fühlte, fast nervös. Vor ihm saßen Leute, deren Arbeit er sehr schätzte und die sich in den letzten Monaten als extrem zuverlässig und loyal erwiesen hatten. Er konnte sich auf sie verlassen … normalerweise. Und dieser gedankliche Zusatz war es, der ihn so beunruhigte, denn irgendetwas entsprach hier ganz und gar nicht mehr der Norm.

Mit einem fast zu lauten Räuspern bat Losian schließlich um die Aufmerksamkeit der Versammelten.

»Ich habe Sie alle hierher gebeten«, begann er das Gespräch, »weil Sie sich seit dem Einsatz auf Schluttnick Prime etwas … sonderbar benommen haben.«

Die versammelte Crew der Ikarus, außer dem noch immer defekten Droiden Trooid, sah ihn erwartungsvoll an. Es entging ihm nicht, dass sie fast ohne Ausnahme rundlicher im Gesicht geworden waren und ihre Kleidung entgegen dem Protokoll des Raumcorps sehr lässig trugen. Captain Sentenza, der eigentlich sein Vorgesetzter war, sich jedoch in letzter Zeit bemerkenswert wenig um die Leitung der Rettungsabteilung gekümmert hatte, saß seltsam breitbeinig auf seinem Stuhl, den Rücken durchgedrückt, als hätte er ein Hohlkreuz, und die Arme in einer fast anmaßend wirkenden Haltung auf den Lehnen. Der Overall von Chief DiMersi war sicherlich gut drei Nummern zu groß und ließ sie wie eine Stoffqualle aussehen – mechanisch hob sie kleine Stückchen Schokolade aus einer Schachtel auf dem Tisch und schob sie sich in den Mund, während sie auf die nächsten Worte Losians wartete. Weenderveen wirkte apathisch, er bewegte sich kaum, sondern hing in seinem Stuhl wie ein nasser Sack. Nur seine wachen Augen verrieten, dass der Robotiker bei Bewusstsein war. Doktor Anande schien noch einigermaßen normal zu sein – vielleicht konnte er Licht in diese Angelegenheit bringen. Und Thorpa, der Pentakka, hielt sich von dem Rest der Crew auffallend weit entfernt – Losian war sich nicht sicher, aber er hatte den Eindruck, als wäre der sonst so rege Praktikant ziemlich verstört oder verängstigt.

Losian seufzte verhalten. Das war alles mehr als nur ein wenig rätselhaft. Dann hob er einige Ausdrucke vom Schreibtisch und blickte Sentenza an.

»Captain, hier habe ich einige Vorschläge, die Sie in den letzten Tagen eingereicht haben. Ganz abgesehen davon, dass die letzten fünf von Ihnen mit Flugdirektor Sentenza unterzeichnet worden sind, ist auch der Inhalt ihrer Eingaben irritierend.« Er warf einen Blick auf das erste Blatt und nickte. »Hier bitten Sie die Raumcorpszentrale zum dritten Mal darum, die Ikarus umzubenennen – in Guter Handel. Ihre ersten beiden Vorschläge waren, wenn ich mich recht erinnere Schnelle Lieferung und Glänzender Profit

»Das sind gute, stolze Namen«, bestätigte der Captain und seine Crew nickte. Keiner schien sich der Absurdität der Vorschläge bewusst.

»Der Name eines Schiffes sollte seine Reputation verbessern. Darum haben wir uns noch zweimal umentschieden. Schnelle Lieferung sagt nichts über die Qualität der Ware und Glänzender Profit könnte dem Kunden zu egozentrisch erscheinen.«

»Dem … Kunden?«, fragte Losian zögernd.

Sentenza nickte abermals und beugte sich leicht vor. »Sind sie nicht alle unsere Kunden … da draußen?«

»Nun, das bringt mich zu dem nächsten Brief von Ihnen«, griff Losian das Thema auf und räusperte sich. »Sie schlagen vor, wir sollten bei jedem Rettungseinsatz ein Standartsortiment von Handelswaren mitführen. Wozu das?«

 

»Na, zum Handeln natürlich.« Verständnislose Blicke der gesamten Ikarus-Besatzung richteten sich auf Losian. Für einen Moment breitete sich unangenehme Stille aus, als hätte ein Schüler in Astrophysik behauptet, die Planeten wären Scheiben, die um große Glühbirnen kreisten.

Anande unterbrach den sonderbar peinlichen Moment mit einer Zwischenfrage. »Möchten Sie noch Kaffee, Sir?«

»Wie? Oh, danke, Doktor. Vielen Dank.« Losian nahm die volle Tasse entgegen, trank einen Schluck und atmete einmal tief durch.

»Mit wem wollen Sie denn Handel treiben, wenn Sie auf einer Rettungsmission unterwegs sind?«, fragte er möglichst neutral.

»Mit unseren Kunden, also den Geretteten. Einerseits kommen wir auf den Missionen in Kontakt mit allen möglichen Völkern und dabei mit verschiedenen Vertretern der jeweiligen Kulturen und Schichten«, erläuterte Sentenza und schien sich für das Thema herzlich erwärmen zu können. »Andererseits haben wir eine einzigartig gute Verhandlungsposition. Wer eben von uns gerettet wurde, ist sich der Tatsache bewusst, dass er in unserer Schuld steht … und wird somit bereit sein, auch leicht überhöhte Preise zu zahlen.«

Losian verschluckte sich an seinem Kaffee und flüchtete sich kurz in einen Hustenanfall. Er war sich nicht sicher, ob er recht verstanden hatte. »Ein Handel mit diesen Voraussetzungen wäre zutiefst unmoralisch!«

»Sicher«, gab der Captain zu, dann grinste er verschwörerisch. »Aber sehr, sehr profitabel.«

Unfähig zu einer raschen Entgegnung, griff Losian nach einem Stück Schokolade und kaute darauf herum. Er hatte es noch nicht einmal geschluckt, als er schon das zweite nahm. Mit einem Mal bemerkte er, dass er einen enormen Hunger hatte.

»Ich habe für Ihr Verhalten keine Erklärung, Captain«, begann er und wollte eine Reihe von ernsthaften und nachdrücklichen Ermahnungen folgen lassen, doch sein eigenes lautes Magenknurren unterbrach ihn. Verblüfft hielt er inne und schob sich drei weitere Stücke Schokolade auf einmal in den Mund, was seinen Appetit nur noch verstärkte.

Sonja DiMersi blickte leicht verzweifelt auf ihre Schachtel, ergab sich aber in die Regeln der Hierarchie und hielt ihren Vorgesetzten nicht zurück.

»Ich verstehe nicht, was hier passiert«, brachte er mit vollem Mund heraus und zog die Schublade seines Schreibtisches auf – hier waren doch noch ein paar Energieriegel für den Notfall? »Entschuldigen Sie, aber ich habe plötzlich einen unglaublichen Hunger …«

»Und das ist auch gut so«, mischte sich nun Anande mit seiner ruhigen Stimme ein. »Sie müssen unbedingt tüchtig essen, Euer Ehrwürdigkeit, damit Sie bald eine Masse erreichen, die Ihrer Stellung innerhalb der Kooperative angemessen ist.«

»Was … Sie! Sie haben mir etwas in den Kaffee gemischt!« Losian riss die Folie von einem Riegel und biss die Hälfte ab. Die zähe Masse verklebte ihm fast die Zähne.

»Zu Ihrem eigenen Besten!«, rügte Anande. »Sehen Sie, Ihre Autorität könnte sonst infrage gestellt werden. ›Wer ist, der frisst‹, bringt es eine alte Weisheit gekonnt auf den Punkt. Anscheinend hatten Sie ein Ernährungsproblem. Ich habe nur versucht, Ihnen zu helfen, Großdirektor.«

»Nennen Sie mich nicht Großdirektor!«, brüllte Losian, stopfte sich die andere Hälfte des Riegels in den Mund und sprang auf. »Ich werte das als tätlichen Angriff, als einen Vergiftungsversuch! Sie sind ja alle … komplett verrückt!« Der Verwalter der Rettungsabteilung hieb auf die Kommunikatortaste. »Sicherheit! Fünf Mann in mein Büro, sofort!«

Anande trat beleidigt einen Schritt zurück und selbst Weenderveen regte sich träge.

»Sie werden sich dafür verantworten!« Losian riss den nächsten Riegel einfach in der Mitte durch und quetschte den Inhalt aus der Folie. »Ich werde Nachforschungen anstellen, was da auf Schluttnick Prime wirklich passiert ist, darauf gebe ich Ihnen Brief und Siegel. Aber jetzt … gehen Sie mir aus den Augen!«

Die Tür öffnete sich, und fünf Bewaffnete der Sicherheitscrew erschienen im Durchgang, die Stunner in den Händen. Losian atmete tief durch und widerstand mühsam dem Impuls, sich die zermatschte Nährmasse vor den Augen der anderen in den Mund zu stopfen.

»Bringen Sie die Crew der Ikarus in den Sicherheitsbereich. Sie stehen alle unter Beobachtung … nein, unter Bewachung.«

»Aber … Euer Ehrwürdigkeit!«, rief Sonja DiMersi entsetzt, als der erste Bewaffnete nach ihr griff.

»Keine Sorge, Chief. Das ist kein gewöhnlicher Arrest. Ich informiere die medizinische Abteilung. Sie bekommen die besten Ärzte, die wir hier haben.«

»Ich bin Arzt!«, mischte sich Anande ein. »Ist jemand verletzt oder krank? Ich kann sicher helfen!«

»Nein, Doktor«, entgegnete Losian mit einer Mischung aus Resignation und leisem Entsetzen. »Nein, das glaube ich nicht.«

Erst als sich die Tür wieder geschlossen hatte und Ruhe eingekehrt war, nahm er all seine Selbstbeherrschung zusammen und rief beim Skizar Quaba an.

»Hallo? Ich möchte einen Tisch reservieren, in einem der Hinterzimmer. Ja, eine Person. Für jetzt. Und fangen Sie schon mal an aufzutragen, die ganze Tageskarte. Nein, nicht ein Tagesgericht, Sie haben schon richtig gehört: die ganze Karte. Und beeilen Sie sich. Ich bin in zwei Minuten bei Ihnen.«


Wer Sorgen hat, hat auch Likör.

Und Sonja DiMersi hatte Sorgen, genau gemommen sogar jede Menge davon. Es war den besonderen Arrestbedingungen zu verdanken, die Großdirektor Losian veranlasst hatte, dass sie zu ihrem geringen Trost wenigstens auch etwas hatte, worin sie diese ertränken konnte. Während sie die Likörpralinenschachtel in der Sondergröße Magnum öffnete und mechanisch die Schutzlagen entfernte, brütete sie über ihrem Unglück. Wie konnte nur in den letzten Tagen alles dermaßen furchtbar schiefgehen? Was hatte sie denn bloß getan, um das zu verdienen?

Der Flugdirektor, dessen Erstfrau sie war, war ein jämmerlicher Spargel und würde es bei dieser langsamen Gewichtszunahme auch noch eine Ewigkeit bleiben. Schlimmer noch, ihr selber ging es nicht besser! Sogar Weenderveen als untergebener Techniker konnte mehr Pfunde ins Spiel werfen als sie, eine Schande. Doch seinem Rang entsprechend konnte sie ihn nicht zur Diät schicken, sondern musste selber zunehmen. Eine empörende und höchst peinliche Situation!

Die Frau in dem übergroßen Overall setzte sich auf die schmale Liege in ihrer Arrestzelle und griff in die Pralinenschachtel. Im ersten Moment erschien ihr das Aroma der Süßigkeit fade und staubig, aber es waren eben auch keine Pralinen von der Heimatwelt – die letzten Kisten davon befanden sich noch an Bord der Ikarus, unerreichbar weit entfernt. Sie hätte versuchen können, jemanden danach zu schicken, aber sie vertraute den Menschen nur bedingt. Es war schwer, den Verlockungen echter Schluttnicker Drei-Sahne-Bomben zu widerstehen. Nein, das Risiko konnte sie nicht eingehen.

Wenn diese auch noch verschwanden, würde das zu dem ganzen Rest der unglücklichen Ereignisse passen.

Die Liste der Katastrophen erschien ihr endlos.

Gute Schlutterware lagerte in einer Halle und konnte nicht an den Mann gebracht werden, die Umsätze und somit auch die Profite waren erbärmlich. Zudem hatte der Großdirektor das todsichere Erfolgskonzept, das von der Crew der Guter Handel erarbeitet worden war, mit einem einzigen und völlig widersinnigen Argument vom Tisch gefegt. Moralisch? Was hieß hier moralisch? Sonja war sich sicher, das Wort schon einmal gehört zu haben, doch irgendwie war es ihr nicht möglich, den Sinn dahinter zu erfassen.

Die fette Süße der Likörpralinen brachte ihr Trost und der Alkohol wärmte ihren Bauch wie ein freundliches Feuer. Still und gedankenversunken kauerte sie sich gegen die Wand und langte kräftig zu, bis der Wache, die gelegentlich einen Blick auf den Überwachungsmonitor warf, fast schlecht dabei wurde. Irgendwann ertrug er den Anblick des pralinenfressenden Chiefs nicht mehr und schaltete auf den nächsten Arrestraum, in dem Weenderveen reglos wie ein Toter auf seinem Bett lümmelte. Obschon unheimlich, war dieses Bild doch noch angenehmer.

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