Rettungskreuzer Ikarus 11 - 20: Verschollen im Nexoversum (und 9 weitere Romane)

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Einen Hoffnungsschimmer gab es: Wenn sie in der Lage waren, die Milchstraße zu erreichen, dann gab es garantiert die Technologie, welche die Celestine dringend für die Reparatur des Antriebs benötigte. Das Problem war nur, an die Aggregate heranzukommen.


»Ich empfange Funksignale«, meldete Shilla.

Jason ließ das Werkzeug fallen und hastete sofort in die Zentrale, als er den telepathischen Ruf vernahm. »Wer ist der Absender?«

»Konnte noch nicht identifiziert werden. Falls es eine unverschlüsselte Nachricht ist, handelt es sich um keine der Datenbank bekannte Sprache.«

»Das wäre auch zu schön gewesen, hätte man uns mit einem warmen Hallo, einem gut gekühlten Bier und einer Sternenkarte begrüßt, auf der unser Heimweg markiert ist«, erwiderte Jason trocken. »Haben die Sensoren das Schiff schon erfasst?«

»Es befindet sich noch außerhalb der Reichweite, aber … gleich … Hier kommt das Bild.«

Da der Holografieprojektor demontiert worden war, ließ Shilla das Objekt auf dem Hauptmonitor erscheinen.

»Was ist denn das?«, wunderte sich Jason.

Wenn die Angaben stimmten, und daran bestand natürlich kein Zweifel, war der sich nähernde Raumer gigantisch. Er sah aus, als hätte man ihn aus unzähligen verschiedenen Schiffen zusammengeflickt. In bizarren Winkeln ragten waghalsige Konstruktionen, denen keine konkreten Funktionen zugeordnet werden konnten, in alle Richtungen.

Es war unmöglich, in diesem Durcheinander eine bestimmte geometrische Grundform zu erkennen. Einzelne Sektionen schienen alt und reparaturbedürftig; sie trugen tiefe Narben von eingeschlagenen Teilchen und waren überzogen mit kosmischem Staub. Andere Segmente hatte man offenbar erst vor wenigen Jahren hinzugefügt, denn sie wirkten sauber, vergleichsweise modern und technisch weiterentwickelt.

Jason kannte kein Volk, das solche – einem verwirrten Geist entsprungene? – Riesenraumer baute. Von einem derart aberwitzigen Schiff, wie mochte da erst die Crew ausschauen? Er schluckte. Hoffentlich folgten die Gedankengänge dieser Leute nicht den Gipfeln und Schluchten der Außenhülle ihres fliegenden Irrsinns …

»Wenigstens ist es kein Haischiff«, sagte Jason. »Kannst du die Gedanken der Besatzung lesen?«

Shillas Blick wurde für einen Moment leer, als sie sich konzentrierte. Dann schüttelte sie bedauernd den Kopf. »Sie sind noch zu weit weg und die Impulse sind sehr fremdartig. Zumindest kann ich sie dort drüben nicht spüren.«

»Es sieht nicht so aus, als ob sie uns angreifen wollten«, überlegte Jason. »Sie fliegen langsam und ohne Schutzschirm. Es gibt keine Anzeichen, dass Waffensysteme scharf gemacht werden. Für gewöhnlich sendet man auch keinen Funkspruch und kündigt eine Salve an. Hm, ob sie uns helfen können?«

»Mach dir lieber keine großen Hoffnungen«, riet Shilla. »Wenn du mich fragst: Das ist ein einziges fliegendes Ersatzteillager. Allerdings fürchte ich, dass die Leute nichts entbehren können, sofern sie überhaupt etwas haben, das für unsere Zwecke brauchbar ist. Ich möchte wetten, ziehst du irgendwo auch nur eine Schraube heraus, bricht der ganze Kahn auseinander. Manche Bereiche müssen unglaublich alt sein. Das ursprüngliche Schiff existiert vielleicht schon gar nicht mehr. Man hat offenbar seit Generationen Verschleißteile immer wieder notdürftig geflickt, mit neuen Aggregaten ergänzt oder ummantelt. Ausgetauscht wird bloß, was völlig unbrauchbar geworden ist. Ich traue denen zu, dass sie sogar den Staub verwenden, um Risse abzudichten … Nein, bei denen gibt es nichts für uns zu holen. Eher werden sie uns anbetteln.«

»Vermutlich hast du recht. Wer ein Schiff fliegt, das aussieht, als wären die einzelnen Teile von sämtlichen raumfahrenden Völkern der Galaxie geborgt, wird kaum die Technologie besitzen, die wir benötigen, um die Celestine wieder flottzumachen. Womöglich müssen wir aufpassen, dass sie nicht unser Schiff assimilieren, weil sie ein paar der Schrottstücke als nützlich erachten könnten. Aber in unserer gegenwärtigen Situation bleibt uns nichts anderes übrig, als abzuwarten, was sie von uns wollen … und das Beste zu hoffen. Wir antworten auf ihren Funkspruch.«


Eine riesige Schleuse öffnete sich und der Gigantraumer verschluckte die manövrierunfähige Celestine. Ein Traktorstrahl positionierte sie in einem geräumigen Hangar, in dem zwei kleine Boote standen, die nicht minder abenteuerlich anmuteten als das Mutterschiff.

Es war dem Bordcomputer immer noch nicht gelungen, die Sprache der Fremden zu entschlüsseln. Jedoch wertete Jason es als ein gutes Zeichen, dass Shilla keine feindseligen Emotionen hatte auffangen können.

»Die Atmosphäre ist für uns atembar«, las die Vizianerin die Werte ab, die von den Außensensoren übermittelt wurden. »Die Konzentration der Edelgase ist höher, als wir es gewohnt sind, aber unbedenklich. Da drüben kommt auch schon das Empfangskomitee. Ich kann keine Waffen an ihnen entdecken und keine Aggressionen wahrnehmen.«

»Dann sollten wir sie nicht warten lassen.« Jasons Hand glitt flüchtig über den Griff seines Strahlers, den er deutlich sichtbar im offenen Halfter stecken hatte. Sicherheitshalber. Die wesentlich gefährlicheren Ausrüstungsgegenstände verbarg er in den unzähligen geheimen Taschen seiner Kleidung.

»Das wird voraussichtlich nicht nötig sein«, kritisierte Shilla seine Vorsichtsmaßnahmen. »Vielleicht fassen die Fremden dein martialisches Auftreten als eine Unhöflichkeit auf oder es erschreckt sie sogar. Das könnte die Kontaktaufnahme erschweren.«

»Ich bin lieber unhöflich als tot.«

Shilla seufzte und schloss sich ihm an.

Sie trugen beide leichte Raumanzüge, die ihnen einen gewissen Schutz im Fall unangenehmer Überraschungen bieten würden.

Als sich die Schleuse öffnete und die Rampe ausgefahren wurde, roch Jason metallische, abgestandene Luft. Die besten Filter und Aufbereitungsanlagen gab es hier nicht. Er schritt langsam auf die Fremden zu, darauf bedacht, keine hastigen Bewegungen zu machen und die Hände nicht in die Nähe seines Strahlers zu bringen. Shilla hielt sich eine Armlänge hinter ihm.

Nun konnte Jason die Wartenden besser erkennen, die in einiger Entfernung stehen geblieben waren. Die Fremden nutzten ebenfalls die Zeit, bis Jason und Shilla den kurzen Weg zurückgelegt hatten, um die Gäste neugierig zu mustern.

An der Spitze der kleinen Gruppe hatte ein Arachnoid seine langen, haarigen Beine angewinkelt und den kugeligen Körper auf den Boden gesenkt, um seine acht Punktaugen in Kopfhöhe der Besucher zu bringen. Er trug keine Kleidung oder Ausrüstungsgegenstände bei sich, wirkte jedoch nicht nackt mit seinem purpur-orange-getigerten Pelz. Allein ein kleiner, grauer Würfel baumelte an einem dünnen Kettchen unterhalb des tropfenförmigen Kopfes.

Die Begleiter des Arachnoiden gehörten anderen Völkern an. Jason bemerkte einen fast durchsichtigen Insektoiden, eine blasshäutige Humanoide, ein Wesen, das ihn entfernt an eine Qualle erinnerte, die sich auf dünnen Beinchen grazil bewegte, und eine amorphe Lebensform. Obwohl er schon viel gesehen hatte, war er nie zuvor Wesen dieser Art begegnet. Es musste die Celestine wirklich ans andere Ende des Universums verschlagen haben …

Jeder der Fremden besaß den gleichen unscheinbaren Würfel und Jason überlegte, ob es sich um eine Waffe, einen Schutzfeldprojektor, ein Abzeichen, ein religiöses Schmuckstück oder ganz etwas anderes handeln mochte.

Der Arachnoid schien der Anführer zu sein. Jason blieb vor ihm stehen.

»Mein Name ist Jason Knight und das ist Shilla.« Erst wies er auf sich, dann auf die Vizianerin. Diese Gesten wurden fast überall verstanden.

Gespannt wartete er auf die nächste Reaktion – würden sie sich verständigen können oder gab es Probleme? Mit dem, was daraufhin geschah, hatte er jedoch nicht gerechnet.

Die Wesen raunten und zirpten aufgeregt miteinander, während sie Shilla anstarrten. Sieben der Punktaugen des Arachnoiden wandten sich der Vizianerin zu, während eines auf Jason gerichtet blieb. Das Spinnenwesen zitterte leicht und rieb seine Vorderbeine aufgeregt aneinander. Jason hatte den Eindruck, als hätte sein Gegenüber am liebsten die Flucht ergriffen. Die anderen hingegen schienen eher fasziniert näher drängen zu wollen.

»Was ist los?«, fragte Jason in Gedanken. »Habe ich etwas falsch gemacht?« Die Anspannung wollte nicht von ihm weichen.

»Nein«, gab Shilla voller Unbehagen zurück, »das Interesse gilt mir. Ich weiß jedoch nicht, wieso. Bin ich vielleicht in etwas hineingetreten?«

»Scheint, als lassen deine Pheromone selbst hier jeden sabbern …«

»Idiot!«

»Kann mich jemand verstehen?«, erkundigte sich Jason etwas lauter, um die Aufmerksamkeit von Shilla abzulenken, die, als suche sie Schutz, dichter an ihn herangetreten war, sodass ihre Schulter seinen Arm berührte. »Leider spreche ich nicht Ihre Sprache. Wer sind Sie?«

Der graue Würfel des Arachnoiden knackte und gab ein Zischen von sich. Ein Kommunikator, begriff Jason. Er redete weiter, um das Gerät mit mehr Vokabeln zu versorgen. Schließlich knackte es erneut und es folgten drei Worte:

»Ich … Charkh … Sentok

»Commander Charkh von der Sentok?«, riet Jason.

»Korrekt …«, kam sie Antwort des Arachnoiden, der sich inzwischen von seiner Überraschung erholt hatte, »bitte weiter … sprechen … Was geschehen … mit Ihren Kommunikatoren?«

 

Jason begann zu schwitzen. Wieso erkundigte sich Charkh ausgerechnet nach einer Nebensächlichkeit statt nach ihrer Herkunft und den Defekten der Celestine? An Charkhs Stelle hätten ihn diese Antworten brennend interessiert. Die banale Frage nach den Kommunikatoren war fast so merkwürdig wie die übermäßige Neugierde, die alle Shilla entgegenbrachten, während man ihn darüber fast vergaß. Ob man sie beide mit jemandem verwechselte? Gab es hier Lebensformen wie die Vizianer und die Menschen? Allzu überrascht schien man jedenfalls nicht von seinem und Shillas Aussehen.

Bedächtig erwiderte er: »Sie sind bei dem Unfall beschädigt worden.«

Konnte es sein, dass sich alle Völker dieser Galaxie mittels der würfelförmigen Kommunikatoren verständigten? Wenn sich Jason unwissend zeigte oder zugab, dass sie keine besaßen, würde Charkh sofort begreifen, dass sie gestrandete Fremde und von seinem Wohlwollen abhängig waren. Es widerstrebte Jason, sein und Shillas Schicksal blauäugig in die Hände von Unbekannten zu legen.

Nach einer guten Viertelstunde hatten die Kommunikatoren ausreichend Informationen gesammelt, um eine relativ flüssige Unterhaltung zu ermöglichen.

Jason entschied, dass es das Beste sei, die Karten nur so weit auf den Tisch zu legen, wie es notwendig war. Charkh und seine Crew wussten bestimmt, dass er und Shilla sich in einer Notlage befanden. Es zu leugnen, würde alles nur komplizieren. Außerdem waren sie auf Beistand angewiesen. Allerdings brauchten die potenziellen Helfer nicht zu wissen, wie prekär die Situation tatsächlich war. Erst musste Jason viel mehr über ihre Gastgeber und ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort in Erfahrung bringen.

Jason war Händler.

Vielleicht, überlegte er, konnte er ein Geschäft mit diesen Leuten machen? Bestimmt fand sich etwas in den Frachträumen der Celestine, das für sie als Tauschobjekt von Interesse war.

In knappen Worten erklärte Jason, dass an Bord der Celestine bei einem Überlichtflug erhebliche technische Probleme aufgetreten seien und sie Hilfe bei der Reparatur des Antriebs benötigten. Durch den ungeplanten Rücksturz in den Normalraum und den Ausfall eines Teils der Navigationsanlagen hatten sie die Orientierung verloren und daher auch Bedarf an astrometrischer Unterstützung.

Charkh sicherte ihm sogleich die uneingeschränkte Hilfe der Sentok-Besatzung zu, ohne – zu Jasons Verwunderung – nach Gegenleistungen zu fragen. Entweder waren das keine tüchtigen Geschäftsleute oder die dicke Rechnung würde erst am Schluss präsentiert werden …

»Sicher werden Sie sich von den Strapazen Ihrer Reise etwas ausruhen wollen«, sagte Charkh. »Es wäre höchst unhöflich, würden wir sogleich die Details besprechen. Sessha, mein Zweiter Offizier«, ein Punktauge fixierte kurz die Humanoide, »wird Sie zu Ihren Kabinen begleiten. Wir hoffen, Sie finden dort alles zu Ihrer Zufriedenheit. Sollten Sie besondere Wünsche haben, zögern Sie nicht, uns diese mitzuteilen.«

»Wir sind Ihnen zu großem Dank verpflichtet.« Jason gab sich alle Mühe, seine Ungeduld zu zügeln, um die Fremden nicht zu beleidigen. Es gab so vieles, was er fragen wollte, und wesentlich lieber noch hätte er ohne Verzögerung die Reparaturarbeiten fortgesetzt, um schnellstmöglich mit der Celestine wieder im freien Raum zu sein. Dieses erstaunliche Entgegenkommen war ihm einfach suspekt.

»Wenn Sie sich ausgeruht haben«, fuhr Charkh fort, »wird man Sie in die Zentrale geleiten. Bitte, fühlen Sie sich wie zu Hause auf der Sentok, Edle Bevollmächtigte, Herrlicher Lakai.« Er neigte den Kopf zum Gruß, straffte seine Beine und entfernte sich mit wiegendem Gang durch einen schräg ansteigenden Korridor. Seine Leute folgten ihm tuschelnd und letzte verstohlene Blicke auf Shilla werfend.

»Hä?«, dachte Jason verwirrt, doch die Vizianerin schwieg.

Allein Sessha war zurückgeblieben und lächelte die beiden zuvorkommend an. Ihre Augen begegneten denen Jasons und sie betrachteten einander etwas länger als notwendig.

»Folgt mir bitte. Ich stehe Euch jederzeit zur Verfügung, wenn Ihr etwas … begehrt.« Sessha strahlte ihn an. Ihre blassen Wangen waren leicht gerötet.

Die Doppeldeutigkeit der Worte war Jason nicht entgangen. Auch nach menschlichen Maßstäben war Sessha eine attraktive Frau. Jason hatte eine Schwäche für hübsche Frauen. Wie schön, dass sie an jedem Ort des Universums empfänglich waren für seinen Charme … Plötzlich begann er, sich heimisch zu fühlen.


Nachdem sich Sessha zurückgezogen hatte, untersuchte Jason schnell, aber systematisch seine Unterkunft nach verborgenen Überwachungsanlagen. Zu seiner Überraschung konnte er nichts entdecken. Die Technologie war nicht so fortschrittlich, dass man Kleinstmikrofone und Kameras vor seinem Detektor hätte verbergen können. Charkh und die Crew behandelten ihre Gäste mit ausgesuchter Höflichkeit und ohne Hintergedanken – war das nicht viel zu schön, um wahr zu sein? Jasons nagendes Misstrauen blieb.

Er ließ seinen Blick schweifen. Der Raum war recht groß und enthielt einen Spind, ein Regal, ein bequem wirkendes Bett, einen Schreibtisch mit Stuhl und eine kleine Sitzgruppe. In eine Wand eingelassen entdeckte er etwas, das sich als Essensautomat entpuppte. Wahllos drückte er einen Knopf. Es blubberte, dann konnte er dem Fach eine Schale mit einem grünen, Blasen werfenden Brei nebst Löffel entnehmen.

Skeptisch musterte er die unbekannte Substanz und führte eine kleine Probe in seinen Analysator ein, der die Unbedenklichkeit der Speise bestätigte. Erstaunlich, dachte Jason, sie haben sogar auf uns abgestimmte Nahrungsmittel. Wie kann das sein? Gab es vielleicht doch schon Kontakte zwischen unseren Galaxien, möglicherweise vor der Großen Stille?

Da Jason hungrig war, fing er an, den Brei zu löffeln, während er die Kabine weiterinspizierte.

»Schmeckt wie … Spinat«, stellte er fest und verzog das Gesicht. »Das Zeug wächst wohl in jedem Teil des Universums, um überall die kleinen Kinder zu quälen …« Und die großen, fügte er in Gedanken hinzu.

Er schaute in den Spind, der nichts weiter enthielt als zwei Standardanzüge aus elastischem Material, das sich jeder Größe anpassen konnte.

»Toll«, stellte Jason fest. »Falls ich mich bekleckere …«

Hinter einer Tür befand sich die Hygienezelle, die ebenfalls seinen Bedürfnissen gerecht wurde.

Er setzte sich hinter den Schreibtisch. In die Platte eingelassen waren ein aufklappbarer Monitor und verschiedene Bedienungsfelder. Die Schriftzeichen konnte er nicht lesen, aber sicher ließ sich bei Bedarf die Zentrale der Sentok anrufen und eine Verbindung zum Bordcomputer herstellen.

Es war wirklich fast alles so, wie er es gewohnt war; als wäre der Raum extra für ihn eingerichtet worden …

Jason ließ seine Finger über den sensitiven Feldern schweben, entschied sich jedoch dagegen, ihre Funktionen zu erkunden. Das wollte er sich für später aufheben. Im Moment erschien es ihm übereilt, Charkhs Hilfsbereitschaft auf die Probe zu stellen, indem er sich unautorisierten Zugang zur Datenbank verschaffte.

Lediglich den Würfel, den Sessha ihm auf den Tisch gelegt hatte, nahm er ohne Zögern an sich. Den Löffel im Mund und die Spinatschüssel in der Linken, ließ er das Gerät an der zartgliedrigen Kette in der freien Hand einen Augenblick lang pendeln. Ein interessantes Teil, fand er, das schon nach wenigen Minuten eine völlig unbekannte Sprache zu übersetzen vermochte. Die ihm bekannten Kommunikatoren waren nicht annähernd so effizient. Komisch, dachte er, teilweise haben diese Leute eine Technik, die unserer weit voraus ist, doch in manchen Bereichen scheint die Entwicklung stehen geblieben zu sein. Warum ist beispielsweise eine so wichtige Maschine wie die Sauerstoffaufbereitungsanlage nicht auf dem neuesten Stand?

Statt sich den Kommunikator um den Hals zu hängen, steckte er ihn fürs Erste in eine seiner Taschen. Dann leerte er die Schale und stellte sie in den Speisenautomaten, der das Geschirr auch reinigen würde.

Als er die Kabinentür öffnete, blickte er in einen verlassenen Korridor. Keine Wachen, auch kein neugieriges Besatzungsmitglied lungerte in der Nähe herum. Leicht schüttelte er den Kopf. Dieses unglaubliche Vertrauen in die Aufrichtigkeit der Gäste war naiv, um nicht zu sagen: höchst unvorsichtig. Ein Saboteur oder Pirat hätte leichtes Spiel gehabt mit diesen Leuten. Außer knöchelhohem Staub, in den er, Shilla und Sessha ihre Stiefelabdrücke gemalt hatten, war nichts Bemerkenswertes zu sehen. Demnach erhielt die Crew der Sentok nicht allzu oft Besuch, was diese Sorglosigkeit erklären mochte.

Wie lange mochte es wohl her sein, dass die letzten Besucher in diesem Trakt des Schiffs den Staub aufgewirbelt hatten? Vermutlich eine ganze Weile. Na, wenigstens hatten kleine Reinigungseinheiten die selten genutzten Kabinen sauber gehalten …

Jason betätigte den Melder am benachbarten Schott. Bevor sie sich in die Zentrale begaben, wollte er mit Shilla sprechen.


»Wow!«, entfuhr es Jason, und er drehte sich erst einmal um seine eigene Achse, während er die Zimmerflucht bestaunte, die unmittelbar neben seiner Kabine lag und Shilla als Unterkunft zugewiesen worden war. Hatte er sich eben noch über den Komfort seines Raumes gefreut, so erschien ihm dieser nach dem Vergleich richtig ärmlich.

Der Vizianerin standen ein separater Schlaf-, ein Ess-, ein Arbeits- und ein Aufenthaltsbereich zur Verfügung und ihre Hygienezelle allein war schon größer als Jasons gesamtes Zimmer.

Offensichtlich hatte Shilla die Funktionsweise des Bads ausgiebig getestet, denn das lange Haar ringelte sich noch etwas feucht um ihre Schultern. Sie hatte den Schutzanzug gegen ein locker fallendes, weißes Gewand getauscht, das ihrer fraulichen Statur schmeichelte.

Jason erhaschte einen Blick in den begehbaren Schrank, in dem sich ähnliche Roben auf gut drei Meter lückenlos reihten.

»Du fühlst dich offenbar wie zu Hause«, sagte er sarkastisch. Die Gefühle, die Sesshas blendendes Lächeln in ihm ausgelöst hatten, waren vergessen …

»Was ärgert dich?«, gab Shilla telepathisch zurück.

Jason ließ sich in einen Sessel fallen. »Keine Ahnung. Vielleicht sind mir Charkh und seine Leute einfach nur zu freundlich. Ich bin es gewohnt, dass man mich aus den unterschiedlichsten Gründen umbringen will, doch so was … habe ich noch nie erlebt. Warum hast du eigentlich die Königinnensuite, während ich in der Abstellkammer hausen muss?«

»Deine Kabine sieht nicht so aus?«, Shilla war ehrlich erstaunt. »Ach so, deshalb bist du verstimmt.«

»Unsinn«, widersprach Jason. »Mich irritiert, dass man unsere Bedürfnisse so gut kennt und dass man uns keine Fragen stellt, wer wir sind und woher wir kommen. Dann noch das Aufheben, das um dich gemacht wird. Was hat das alles zu bedeuten? Charkh schien im ersten Moment sogar Furcht vor dir zu empfinden. Hast du eine Erklärung?«

Shilla ließ sich neben ihm auf die Armlehne sinken und legte den Kopf schief. »Leider nicht. Zwar kann ich langsam einzelne Gedankenmuster verstehen, aber was ich bisher aufschnappen konnte, ergibt keinen Sinn. ›Die Bevollmächtigte muss zufrieden sein‹, hat die junge Frau gedacht, als sie ging. Ähnliches geht auch den anderen Personen durch den Kopf. Sie wollen uns helfen und uns … vor allem mich … zufrieden wissen.«

»Hm.« Jason kraulte gedankenverloren seinen Kinnbart. »Auf jeden Fall scheinen sie mehr von dir zu halten als von mir. Wenn sie dich ›Bevollmächtigte‹ nennen … Bevollmächtigt von wem? Zu was? Sonderbar. Wäre es möglich, dass dein Volk hier bekannt ist?«

»Ausgeschlossen. Wir haben zwar die Raumfahrt entwickelt, aber nur in der Anfangszeit Schiffe gebaut, um einige Welten innerhalb der Milchstraße zu erforschen. Theoretisch besitzen wir einen Antrieb, der es ermöglicht, die Entfernungen zu anderen Galaxien zu bewältigen, aber er wurde nie realisiert. Ich bin seit Jahrhunderten die Erste, die Vizia verlassen hat.«

»Dann gibt es hier wohl eine ähnliche Spezies. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich an zwei verschiedenen Orten im Universum zwei völlig identische Völker entwickeln? Nein, du brauchst es mir nicht zu sagen. Ich weiß selbst, dass es praktisch unmöglich ist. Das Rätsel wird nicht kleiner.«

 

Jason erhob sich und schritt zu dem kleinen Tisch hinüber, auf dem er etwas entdeckt hatte. »He, ist das dein Kommunikator?« Er griff nach der Kette und hielt sich den Würfel vor die Augen. »Der sieht anders aus als meiner oder die Dinger von Charkh und seinen Leuten. Du wirst schon wieder bevorzugt …« Das Gerät wies nicht das stumpfe Grau auf, sondern schimmerte silbern. »Hast du ihn schon ausprobiert?«

»Natürlich nicht. Zum einen war niemand hier, mit dem ich mich hätte unterhalten können, zum anderen kann ich nicht sprechen – vergessen? Der Kommunikator ist für mich nutzlos.«

»Probier es einfach.« Jason hatte eine vage Ahnung.

Geschickt fing Shilla das kleine Objekt auf und legte es neben sich.

»Wie aktiviert man ihn?«

Die Frage hallte nicht nur in Jasons Kopf, sondern auch akustisch durch den Raum. Beide zuckten zusammen, denn der Kommunikator verlieh der Vizianerin eine scheußliche, quakende Stimme.

»Offenbar muss der Benutzer nur nahe genug sein und das Gerät beginnt automatisch zu arbeiten, falls er das wünscht. Du als Telepathin benötigst natürlich ein anderes Modell. Wie konnten sie das nur wissen?«

Der Kommunikator gurgelte wie eine Kröte: »Charkh wird uns hoffentlich …«

Jasons Faust krachte auf den Würfel.

»… einige Antworten geben.«, kamen die restlichen Worte wohlmoduliert und mit samtigem Timbre.

Er zwinkerte. »Schon besser.«


»Ich hoffe, Ihr seid zufrieden, Edle Bevollmächtigte«, sagte Charkh unterwürfig.

»Die … äh … Bevollmächtigte wünscht, dass ich für sie spreche«, antwortete Jason hastig, um den Fokus auf sich zu lenken. Sie hatten vereinbart, dass er seine Eloquenz nutzen würde, um die notwendigen Informationen aus dem Kommandanten der Sentok herauszuholen, während sich Shilla im Hintergrund halten, beobachten und telepathisch lauschen würde.

Sie hatten mit Charkh, Sessha und dem Insektoiden, der Crii-Logan genannt wurde, an einem Tisch in einer Nische der Zentrale Platz genommen. Die Sitzgelegenheiten passten sich automatisch der jeweiligen Anatomie an. Allerdings standen die zweckmäßigen, zumeist sehr alt wirkenden Einrichtungen in einem deutlichen Kontrast zu der Moderne und dem Luxus in den Gästekabinen. Wie sah es wohl in Charkhs privatem Quartier aus?

Jason bezweifelte, dass dem Kommandanten dieselben Annehmlichkeiten zur Verfügung standen wie den Besuchern, von den Räumlichkeiten der Crew ganz zu schweigen.

Wie gravierend der Unterschied tatsächlich war, hatte Jason bereits auf dem Weg zur Zentrale bemerkt.

Sessha hatte ihn und Shilla abgeholt.

Ab und zu war den beiden ein weiteres Mitglied der Besatzung vorgestellt worden, das gerade seinen Posten aufsuchen wollte. Natürlich waren alle neugierig auf die Gäste und fanden fantasievolle Ausflüchte, um die Pflichten für einen Moment vernachlässigen und einen Blick auf die Bevollmächtigte und ihren Lakai werfen zu dürfen. Mit einem verständnisvollen Lächeln ging der Zweite Offizier der Sentok über die geringfügige Insubordination hinweg. Die Crew trug einfache, meist abgetragene Anzüge, die wohl schon den einen oder anderen Vorbesitzer gekannt hatten. Die Ausrüstung des technischen Personals war klobig und ließ entsprechende Rückschlüsse auf die Maschinen zu, die damit gewartet wurden. Bewaffnet war niemand.

Sie hatten mehrere Bereiche durchquert, die offensichtlich verschiedenen Zeitaltern und den Werften unterschiedlicher Völker entstammten, denn Design und Qualität der Ausstattung waren uneinheitlich. Selbst die jüngeren Anbauten und Ergänzungsstücke konnten sich nicht mit der Einrichtung der Gästekabinen messen. Im Vergleich zur Technik der Kommunikatoren waren die übrigen Geräte erschreckend primitiv.

Sessha hatte sie über Rollfelder, durch verwinkelte Röhren und Aufzüge in die Zentrale geführt. Für Jason war es ein Rätsel, wie sie sich den komplizierten Weg hatte einprägen können. Er selber hatte keinerlei Zeichen entdeckt, an denen er sich hätte orientieren können, falls er allein den Rückweg finden musste. Und überall lagen die dicken Staubschichten von Äonen. Allein in jenen Sektoren, durch die sich die Mannschaft häufig bewegte, hielten die scharrenden Stiefel eine Gasse offen. Vielleicht waren das die Wegweiser … Gab es an Bord keine Reinigungsroboter – oder hatte Shilla recht und der Staub dichtete tatsächlich Risse in den Wänden ab?

Auf der Sentok passte einfach nichts zusammen.

Jason musterte den Arachnoiden. Diesmal zeigte er keine Angst vor Shilla. Falls er sich in ihrer Gegenwart unbehaglich fühlte, so hatte er sich jetzt besser unter Kontrolle. Nur, warum sollte er sich vor der Vizianerin ängstigen, nicht aber vor Jason?

»So sei es«, bestätigte Charkh. »Es ist mir eine Ehre, dem Herrlichen Lakai der Edlen Bevollmächtigten dienen zu dürfen.«

Jason zuckte leicht zusammen, als Shilla in seinem Kopf lachte. Lakai! Er – ein Lakai … dazu noch Shillas Herrlicher Lakai … »Na, warte, du Biest!«, dachte er. »Wenn das vorüber ist, dann …« Er befand, dass es besser sei, den Rest herunterzuschlucken und sich auf sein Gegenüber zu konzentrieren. Dass er zwangsläufig den Kürzeren zog, wenn er sich mit der Telepathin anlegte, hatte er schon vor langer Zeit gelernt.

»Seid Ihr mit Eurer Unterbringung zufrieden, Herrlicher Lakai?«, erkundigte sich Charkh und es war eine ernsthafte Frage, keine Floskel.

Dass man die Gäste um jeden Preis zufrieden sehen wollte, war offenbar eine fixe Idee dieser Leute, überlegte Jason. Hatten sie etwas zu befürchten, wenn die Gäste Grund zur Klage fanden? Wenn ja, von wem? Von der Bevollmächtigten selbst oder von jenen, in deren Auftrag sie handelte? Und was war die Aufgabe einer Bevollmächtigten?

»Ja, die Bevollmächtigte und ich sind sehr zufrieden. Und … äh … ich würde es vorziehen, wenn Sie mich Knight nennen, Commander Charkh.«

»Wie Ihr wünscht, Herrlicher Lakai Knight.«

Jason stöhnte innerlich und gab sich geschlagen. »Die Bevollmächtigte hat einige Fragen.«

»Wir werden sie nach bestem Vermögen beantworten.«

»Wo sind wir hier?« Als Jason die Verwunderung der Fremden bemerkte, fügte er hinzu: »Hinter uns liegt eine lange Reise. Als das Schiff havarierte, fielen auch die Navigationsanlagen und Teile des Bordcomputers aus. Wir benötigen ein Update der verlorenen Daten, damit wir nach der Reparatur des Antriebs unseren Flug fortsetzen können.«

»Dies ist die Galaxie Anata-Wa-Eigo, Euch vermutlich besser unter der Bezeichnung Zen-33 bekannt«, erklärte Charkh. »Zen-33 liegt im zweiten Quadranten des Nexoversums. Die Sentok befindet sich drei Lichttage von der Handelswelt Reputus entfernt, wo man Euren Raumer reparieren wird. Wir hoffen, die Edle Bevollmächtigte verzeiht uns die Unannehmlichkeiten des langen Fluges; die Gehirnfrachter sind nun mal langsame Schiffe.«

»Aha«, machte Jason, ahnend, dass er ein recht dümmliches Grinsen aufgesetzt hatte.

Natürlich konnte er nichts mit den Bezeichnungen anfangen, von denen Charkh glaubte, sie wären jedem in der Runde geläufig. Ein kurzes Signal von Shilla verriet ihm, dass sie nicht klüger war als er. Statt Antworten hatte er nur neue Fragen gefunden. Zeigte er sich zu unwissend, würde Charkh Verdacht schöpfen, dass sie nicht jene waren, für die er sie hielt. Und ob die Fremden dann noch so entgegenkommend sein würden? Was zum Teufel war das Nexoversum und in welchen beschissenen Tiefen des verdammten Universums waren sie bloß gelandet?

»Commander, ich würde gern die Datenbank der Sentok benutzen, um unseren Bordrechner wieder voll funktionsfähig zu machen.«

Etwas raschelte leise. Crii-Logan nickte entschuldigend in die Runde, ließ eine kleine Tüte in der Jackentasche verschwinden und rollte mit seiner langen Zunge einige grüne Pillen in den Mund hinein.

»Auf Reputus wird man sich aller Probleme annehmen, Herrlicher Lakai Knight«, entgegnete Charkh. »Unsere veralteten Daten dürften kaum …«

Ungeduldig unterbrach ihn Jason: »Die Bevollmächtigte befindet sich auf einer wichtigen Mission und muss ihre Reise schnellstmöglich fortsetzen. Alles, was hier bereits erledigt werden kann, braucht nicht bis Reputus zu warten. Ich bin sicher, die Sentok besitzt alle notwendigen Informationen für unsere Navigationssysteme.«

»Wie Ihr wünscht. Die Datenbank steht Euch selbstverständlich zur Verfügung.«