Das schwarze Korps

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Loe katkendit
Märgi loetuks
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»Just heute habe ich den Laden dichtgemacht, René. Alle meine Jungs entlassen, meine Lager geschlossen, und in zwei Tagen reise ich ab nach Monaco. Jetzt stehe ich, oder besser gesagt stehen wir, weil du an einem Gutteil der Geschäfte beteiligt bist, vor dem Problem, dass das Geld gewaschen werden muss. Man darf es nicht mehr riechen, sehen, schmecken. Dazu brauche ich etwas Zeit. Und ich hoffe, die Wehrmacht verschafft mir genug. In dem Punkt habe ich allerdings ziemliches Vertrauen in sie. Sind schon gute Jungs, diese deutschen Soldaten.«

Deslauriers angelt sich einen Stumpen, zündet ihn an, nimmt den ersten tiefen Zug, atmet aus, das beruhigt, beugt sich dann zu Anselme. »In zwei Tagen, sagst du. Mehr brauche ich nicht.«

In einer Ecke hat sich eine Pokerrunde gebildet, mit Greven und Clouzot, der Einsatz ist also sehr hoch. Knochen hat sich zwischen Jean Luchaire – den kleinen Journalisten, der sich in einer solchen Partie, denkt Bauer, nicht lange halten wird – und Bussière gesetzt. Interessant, ihm zuzusehen, Spiel und Mensch sind eins. Bauer tritt näher und stellt sich hinter ihn. Bourseul gesellt sich zu ihm, sehr aufrechte Erscheinung, schmal, elegant in seinem dunklen Anzug, Pomade im Haar, gepflegter kleiner Oberlippenbart, Lächeln auf den Lippen. In vier Jahren Besatzung ist er der vermögendste Textilfabrikant Nordfrankreichs geworden. Über die gemeinsam getätigten Geschäfte hinaus – Aufträge des deutschen Militärs, Übernahme jüdischer Unternehmen – sind die beiden Männer Freunde, haben viele gemeinsame Abende in den Pariser Luxusbordellen verbracht, und Bourseul informiert Bauer zuverlässig über die tatsächliche Lage der französischen Unternehmen. Bauer zieht ihn beiseite.

»Ich habe einen amerikanischen Nachrichtenoffizier festgenommen.« Er hält einen Moment inne. Bourseul zeigt keine Reaktion. »Er sagt, einige deiner Freunde hätten bereits Kontakt zum amerikanischen Generalstab aufgenommen.«

»Derzeit wird viel geredet.«

Bauer versteht: Du bist nicht Herr der Lage.

Bauer versteht: Ich schulde dir nichts. Und bebt vor Zorn.

»Erinnere deine Freunde daran, dass sie an zwei Wahrheiten nicht vorbeikommen, Maurice: In dieser Stadt liegt die Macht über Leben und Tod, vor allem den Tod, immer noch bei mir. Und sollten die Amerikaner siegen, werden nicht sie das Sagen haben. Sollten wir abziehen, werden die Kommunisten die Macht übernehmen.«

Bourseul registriert die verzerrten Mundwinkel, den beinahe irren Blick. Schließt für einen Moment die Augen. »Wollen wir uns morgen treffen? Mir reicht’s für heute Abend. Wir hatten alle einen vollen Tag.«

Im hinteren Salon tanzen einige Paare zur Klaviermusik. Die Sperrstunde naht. Die Salons leeren sich allmählich, als Galey, der Filmbeauftragte der Regierung, aufgeregt und voller Mitteilungsdrang hereinschneit. Er eilt auf Dora zu, beide sind schnell umringt.

»Ich komme gerade aus Vichy …« Ein Raunen. »Wir sollten dem Marschall Carmen vorführen. Heute in aller Frühe sind wir mit dem Wagen aufgebrochen. Um zehn machen wir Halt bei einem Landgasthof und hören dort von der Landung der Engländer und Amerikaner. Ich wollte nach Paris zurück, in Vichy wird jetzt alles in Aufruhr sein, die haben jetzt anderes im Kopf als eine Filmvorführung, bringt doch nichts, die ganze Reise umsonst zu machen. Aber Christian-Jaque besteht darauf, wir kommen also nach Vichy, und dort ist alles vollkommen ruhig. Die Leute scheinen der Ansicht zu sein, dass die Landung vermutlich eine Falschmeldung ist, oder aber eine Nachricht ohne Belang. Oder jedenfalls nicht so sehr von Belang wie die Vorpremiere von Carmen. Die Vorführung fand im Beisein des Marschalls statt …«

»Hat es ihm gefallen?«

»Er hat die ganze Zeit geschlafen, und es hat ihm sehr gefallen.« Gelächter. »Ich wollte, dass Sie es als Erste erfahren.«

Der Kreis löst sich auf. Greven und Clouzot steigen, begleitet von einem Dutzend Mädchen, zur unterhalb der Salons im Gartengeschoss errichteten Orangerie hinab. Inmitten der Bäumchen und Blumen stehen, durch Paravents voneinander abgetrennt oder auch nicht, Betten für jene bereit, die zur Sperrstunde nicht den Heimweg antreten möchten. Dieser nächtliche Ausklang, bei dem potenzielle Filmsternchen für Stimmung sorgen, steht für gewöhnlich hoch im Kurs. Heute Abend ist die Zahl der Gäste rückläufig. Alle gehen heim, um den englischen Sender zu hören, sagt Jocelyne Gaël, eine Schauspielerin, die sich auf zahlreiche Liebschaften mit Gestapomännern eingelassen hat, halblaut und mit verstecktem Lächeln.

Deslauriers legt Geneviève Fath, die zusammen mit ihrem Mann gerade aufbrechen will, die Hand auf die Schulter. »Lass ihn allein nach Hause gehen. Treib ein weiteres Mädchen für mich auf und kommt dann beide zu mir runter.«

Galey nimmt Dora beiseite. »Ich brauche Sie, Dora. Ich habe große Mühe, den Film in Paris auf die Leinwand zu bringen. Er wurde von den Italienern finanziert, die bei der deutschen Zensur nicht mehr gut angeschrieben sind. Wenn Sie mir Ihre Anwesenheit bei der Premiere zusagen könnten«, Blick zu Bauer, »Sie verstehen, würde mir das helfen, meine Genehmigung zu bekommen …«

»Aber sicher. Sie können ganz auf mich zählen.«

3

Freitag, 9. Juni

Die Alliierten haben zwei künstliche Häfen errichtet, eine Pipeline durch den Ärmelkanal gelegt, die Stadt Bayeux genommen und einen 50 Kilometer langen Landstreifen erobert, der 10 bis 15 Kilometer weit ins Landesinnere reicht. Die deutschen Truppen leisten überall sehr starken Widerstand, insbesondere in der Gegend um Caen. Die für den ersten Landungstag gesteckten Ziele sind immer noch nicht erreicht.

Von den für den Tag der Landung geplanten 1050 Sabotageakten (Telefonleitungen, Eisenbahnschienen, Brücken usw.) hat der innerfranzösische Widerstand 950 ausgeführt. Sabotageakte und Bombardierungen behindern das Vorankommen deutscher Truppen- und Munitionstransporte erheblich. Die 11. Panzerdivision, die innerhalb von acht Tagen von der Ostfront nach Straßburg verlegt wurde, wird 23 Tage brauchen, um die Normandiefront zu erreichen. Die SS-Panzerdivision »Das Reich« benötigt 17 Tage, um aus dem Raum Toulouse an die Normandiefront zu gelangen.

Loiseau sitzt in kurzärmeligem Hemd und Drillichhose zwischen zwei Sträuchern auf der grasbewachsenen Böschung. Er beißt auf seiner Lippe herum, bis sie blutet. Die Nacht ist mild. Zu seinen Füßen laufen zwei schmal zwischen den Hochebenen liegende Täler zusammen. An jedem der Talflüsse verläuft eine Straße, und wo sie sich treffen, ist ein Dorf. Kaum fünfzig Bauernhäuser, weißer Stein und schräge Ziegeldächer, reihen sich mitsamt ihren rückwärtigen Gärten entlang der Straße. In dem Garten, der ihm am nächsten ist, erkennt Loiseau deutlich Bohnenstangen, ein Tomatenbeet, ein Dutzend Obstbäume. Der Geschmack von mittags in praller Sonne vom Baum gepflückten Kirschen steigt ihm in den Mund. Er bekommt eine Erektion. Reibt sich die Augen, die Wangen, wie um wach zu werden. Tief in den Tälern ist es finster und still. Morandot und Martin werden von Norden und Nordwesten her kommen, auf den Straßen von Méru und Gisors. Und Genet von Süden her, auf der Straße von Paris. Genet, der kleine Neue, der diesen Vollidioten Falicon ersetzt, lebloser Haufen vor dem mit Schnitzereien verzierten Schreibtisch. Deslauriers … Trockene Kehle. Hinter ihm auf der Hochebene schreit ein Nachtvogel. Er steht auf. Zieht seine Hose zurecht, um Platz zu schaffen für seinen zusammengedrückten Sack, sein erigiertes Glied. Vertritt sich die Beine. Feuchte Hände. Blickt auf die Uhr. Zwei Minuten vor Mitternacht. Im Norden wird eine Fackel entzündet, eine weitere im Süden. Jetzt.

Mit festem Schritt stürmt Loiseau den Hang hinab, auf den runden Dorfplatz zu, wo die Straßen sich treffen und das Kriegerdenkmal steht, auf der einen Seite das Rathaus, auf der anderen die Schule. Loiseau hat sich die Schule ausbedungen.

Bewaffnete Männer holen eilig die Bewohner aus ihren Häusern, mit Fußtritten, Kolbenhieben, Schüssen, und treiben sie unter strenger Bewachung auf den Dorfplatz. Kaum Schreie, kein Aufbegehren, panisches Entsetzen.

Loiseau ist durch den Klassenraum im Erdgeschoss in die Schule eingedrungen, ordentlich aufgeräumt, schwarze Tafel. Er steigt mit der Pistole in der Hand in großen Sätzen etwas kurzatmig in den ersten Stock, trifft oben an der Treppe auf einen Mann im Schlafanzug, erschießt ihn, läuft ins Schlafzimmer, eine Frauengestalt sitzt auf dem Bett, weit aufgerissene Augen, offener Mund, stumm, reglos, wirft sich auf sie, schlägt sie mit einem Kolbenhieb bewusstlos, presst ihr mit einem Arm das Kopfkissen aufs Gesicht, öffnet mit der anderen Hand hastig den Reißverschluss seiner Hose und kommt, noch während er in sie eindringt. Im Nebenzimmer weint ein Baby, unerträgliches Geschrei. Verstört bringt Loiseau seine Kleider in Ordnung, packt das Baby am Bein und schleudert es aus dem Fenster, das Geschrei hört auf. Jetzt fühlt er sich klarer im Kopf. Steigt in den Keller hinab, macht Licht. Eine Reihe Benzinkanister, wie von Morandot angekündigt. Er verteilt die Kanister, kippt sie aus, wickelt Zündschnur ab bis hoch ins Erdgeschoss, steckt sie an, kehrt dann zu den gefangenen Dorfbewohnern und ihren Bewachern auf den Platz zurück.

Morandot führt die Gruppe der Möbelpacker an, die von Méru her kommt, gefolgt von zwei Planenlastwagen. Er zeigt zuerst auf das Haus von Lanternier, dem stellvertretenden Bürgermeister, praktisch ein Analphabet und Besitzer der größten Herde im Dorf, und lotst seine Männer direkt zum Keller. Hinter einer von leeren Lattenkisten verdeckten Tür die in Fässern gelagerten Buttervorräte, Kanister mit Milch, Käselaibe in Regalen. Binnen Minuten ist alles in die Lastwagen verladen. Oben im Haus schleppen die Männer Leinenwäsche weg, kippen Schubladen aus, lassen ein paar edle Tropfen mitgehen. Man kann sich nicht lange aufhalten. Schon dirigiert Morandot sie zum Haus der alten Blanchot, das kleinste im Dorf, ganz mit wildem Wein bewachsen. Er hat den Hühnerstall entdeckt, rund dreißig Hühner, die geköpft werden wollen, im Halbdunkel, inmitten von Federn und schrillem Gegacker. Die Männer lachen und drängen mit hochgekrempelten Ärmeln heran, Kindheitserinnerungen werden wach. Und in der Anrichte im Esszimmer stehen etwa fünfzig Flaschen Obstler, die in Paris ein Vermögen wert sind. Dann das Haus von Vauvert und das der Petitots. Die Laster immer hinterher.

 

Schließlich gelangt Morandots Kolonne auf den Dorfplatz, wo sie sich mit der von Martin zusammenschließt, die die Straße von Gisors heruntergekommen ist. Als die auf dem Platz zusammengepferchte kleine Schar in Schlafanzügen und Nachthemden sie eintreffen sieht, macht sich Unruhe breit. Die beiden da kennen wir doch. Den einen mit den schwarzen Knopfaugen, den muskelbepackten Armen, den kräftigen Arbeiterhänden, und den anderen, etwas rundlich, beginnende Glatze, rötlicher Schnauzer, ein netter Kerl, etwas einfältig, beide angeblich Arbeiter in einer Metallfabrik in Aubervilliers, kamen zwecks kleiner Schiebergeschäfte hergeradelt, um ihre Werkskantine mit Lebensmitteln zu versorgen, zweitägige Geheimverhandlungen, hier ein Gläschen, da ein Gläschen. Und jetzt Gestapo, sagt einer der Dorfbewohner, der die Ausweise an den Windschutzscheiben der Lkws erkannt hat. Waren bloß als Maquisards verkleidet, bestätigt die alte Blanchot. Ruhe, brüllt einer der Bewaffneten und feuert eine Salve in die Luft.

Jetzt trifft auch der dritte Trupp ein. Loiseau steht auf den Stufen des Rathauses und überwacht das Ganze. Die Operation ist beendet. Die Lastwagen ordnen sich zu Kolonnen, Fahrtrichtung Paris. In der brennenden Schule kommt es zur Explosion, die Flammen schlagen tosend bis zum Dach empor. Die Männer drängen in die Lastwagen. Die drei Truppführer geben ihnen Deckung, indem sie ihre Maschinenpistolen auf die Menge richten, die grollt und zittert. Morandot eröffnet das Feuer, Martin, gegen ein Lkw-Rad gelehnt, die Hand um den Kolben der Waffe geklammert, betrachtet die Szene, schießt aber nicht. Hat noch nie getötet. Eiskalt die MP in seiner feuchten Hand. Gebannt sieht er zu. Die Kugeln bohren sich in die Menge, die Wucht der Einschläge spritzt sie auseinander. Menschen rennen auf die Häuser zu, Körper brechen im Zeitlupentempo zusammen, in zu Einzelbildern aufgelösten Bewegungen. Schreie, tosendes Feuer, durchsetzt mit dem Lärm der MP-Salven. Dann gleitet seine Hand zum Abzug, drückt ab. Zu voller Größe aufgerichtet und breitbeinig hat er die ruckende Waffe im Griff, auf den Lippen ein unbestimmtes Lächeln, erleichtert, befreit. Oben im Dorf bricht ein zweiter Brand aus. Morandot und Martin hören auf zu schießen und springen in die anfahrenden Lkws. Beim Verlassen des Dorfs nimmt ein Mann, der eben den ersten Schluck aus einer Flasche der alten Blanchot getrunken hat, das Ortsschild unter Beschuss: Mortemart.

Als Loiseau bei Deslauriers erscheint, ist er gewaschen, umgezogen und sorgfältig gekämmt. Er wirkt fast entspannt, und das ist selten.

»Wie das Dorf heißt, wussten wir nicht, aber anhand der Angaben von Hauptsturmführer Bauer haben wir die Organisation, die die Fallschirmspringer aus England und ihre Ausrüstung in Empfang genommen hat, identifiziert und zerschlagen.«

Schweigen. Ende des Berichts? Deslauriers, ans Fenster gelehnt, lächelt. »Kann ich ein bisschen mehr erfahren?«

»Das Gebiet, das Hauptsturmführer Bauer im Visier hatte, war der südliche Vexin français.« Deslauriers nickt. »Wir haben die Hochebenen abgesucht und ziemlich schnell ein Fallschirmabsprunggelände entdeckt. Daraufhin haben wir unter dem Vorwand von Schwarzmarktgeschäften Agenten in die drei nächstgelegenen Dörfer eingeschleust. Und dank der Schwatzhaftigkeit einiger Personen haben wir die Namen der Anführer der Organisation erfahren.«

»All das in zwei Tagen?«

Gelassen: »Es war das Lehrerehepaar im Dorf Mortemart.« Er hält einen Moment inne. Deslauriers verdreht die Augen, Loiseau, aus dem Dienst entfernter Grundschullehrer, hat auf ewig eine Rechnung mit seinem Berufsstand offen, aber er sagt nichts. »Also haben wir letzte Nacht eine Razzia in dem Dorf veranstaltet. Bei den Lehrern fanden wir die Signallichter, englische Zigaretten und ein Radiofunkgerät. Wir haben das Ehepaar vor den Augen des gesamten Dorfes erschossen, und ihr Haus wurde niedergebrannt. Die Informationen von Hauptsturmführer Bauer haben sich bestätigt, und das ist ein Sieg über die Terroristen, den errungen zu haben wir stolz sind.«

»Hast du deinen Bericht auswendig gelernt?«

Loiseau, merkwürdig ruhig und selbstsicher, streichelt mit den Fingerspitzen die Brust einer der Schreibtischkaryatiden und antwortet nicht.

Deslauriers blickt zur Straße hinaus. Sonne, Ruhe. Ein Satz will ihm nicht aus dem Kopf: Ich glaube kein Wort, und ich pfeif drauf. Ich glaube kein Wort, und ich pfeif drauf.

Bauer wird entzückt sein. Er kann weiter mit seinem Amerikaner spielen, und mehr verlangt er nicht. Dann: Dieser Frühling ist der schönste, den ich in Paris erlebt habe … Stopp. Dreht sich um.

»Sehr gut. Ich werde deinen Bericht noch etwas ausschmücken und ihn dann an Hauptsturmführer Bauer weiterleiten, der hochzufrieden sein wird. Mach mir eine Liste der Männer, die bei der Expedition dabei waren, ich sorge dafür, dass sie bezahlt werden.«

Gegen Mittag geht Domecq ins Capucin in der Rue Blanche. Die Bar ist noch geschlossen, und im Keller ist man mit Saubermachen beschäftigt. Der Wirt steht hinter der Theke und ist dabei, seine Flaschen zu zählen und die Kasse zu kontrollieren.

»Tag, Inspecteur. Was darf ’s sein?«

»Kaffee, danke.«

»Doch wohl mit einem Schuss Cognac …«

»Von mir aus auch mit Cognac.«

»Ich trink einen mit, aber ohne Kaffee.«

Der Wirt unterbricht das Schweigen nicht, trinkt in kleinen Schlucken und wirft hin und wieder einen Blick zu Domecq, der nicht von seiner Tasse aufsieht. Dann: »Angélique ist nicht mehr hier.« Domecq zeigt keine Reaktion. »Letzten Sonntag war Deslauriers da und hat Falicons Mädchen abgeholt, Angélique und Rose. Kein Wort der Erklärung, keine Entschädigung. Und ich sitze in der Scheiße, wenn die Kunden kommen.« Beugt sich zu Domecq, halb spöttisch: »Wenn du zum Schuss kommen willst, musst du noch mal wiederkommen, Inspecteur.«

Das Wetter ist sehr schön, schon ein wenig heiß. Der Tisch ist im Sommer-Esszimmer im Gartengeschoss gedeckt, die Türen zu Terrasse und Garten stehen weit offen. Ein runder Tisch, weißes Tischtuch, drei Gedecke, rot-weißes Porzellangeschirr, Kristallgläser, Silberbesteck. In der Mitte ein Strauß roter und weißer Orchideen. Auf der Anrichte steht unter schützenden Glasglocken ein kaltes Mahl für drei Personen bereit. Im Garten betätigt sich Dora Belle im Schatten einer Linde. Mit Gummihandschuhen und einer großen Gartenschere gerüstet, schneidet sie hier und da eine verwelkte Rose ab, liest ein paar vertrocknete Blätter auf. Sie ist ganz in Weiß, trägt eine Bluse, die einen großen Teil der Schultern unbedeckt lässt, eine weite Leinenhose, flache Sandalen und auf dem Haar einen großen Strohhut.

Im Erdgeschoss klingelt es. Dora entledigt sich des Huts und der Gartenhandschuhe, legt alles in der Orangerie ab, aus der die Betten wieder entfernt sind, mit der sie beim Fest am 6. Juni vollgestellt war, und geht hinauf, um ihren Gast Pierre Laval zu empfangen. Dora kennt ihn seit langem. Vor dem Krieg war er Stammkunde im Perroquet bleu, und sie mochte ihn nicht. Er hielt sich stets viel auf seine Eleganz zugute, aber Dora fand ihn immer vulgär in seinen Anzügen mit den gepolsterten Schultern, den weißen Hemden und weißen Krawatten, gedrungene Gestalt und verschlagenes Lächeln. Doch sie geht mit einem professionellen Strahlen auf ihn zu. Er küsst ihre Hand.

»Herr Präsident, es ist mir eine Ehre, Sie hier zu empfangen …«

»Gnädige Frau, ich bin es, der sich geehrt fühlen darf, eine große Schauspielerin wie Sie zu begrüßen.« Sie nimmt ihm Hut, Stock und Handschuhe ab. »Sie wissen, welch großes Interesse ich unserem Film entgegenbringe.« Sie geleitet ihn zur Treppe. »Und folglich Ihnen, deren glühender Bewunderer ich bin.« Sie führt ihn hinunter ins Esszimmer. »Wann haben wir das Vergnügen, Sie wieder in unseren Kinos zu sehen?«

»Ich drehe zurzeit nicht. Es herrscht eine gewisse Flaute … Champagner, Herr Präsident?«

»Gern.«

Dora füllt zwei Gläser. Sie gehen ein paar Schritte im Garten, Dora spricht über ihre Blumen. Erneutes Klingeln. Deslauriers, der wie immer gelangweilt wirkt. Laval und er geben sich reserviert die Hand. Dora lässt sie allein auf der Terrasse stehen, nebeneinander, dem Garten zugewandt, und macht sich im Esszimmer zu schaffen, überprüft den gedeckten Tisch, füllt das Wasser in den Vasen auf, richtet eine Blume. Hin und wieder wirft sie einen Blick zu den beiden Männern, Deslauriers, groß, breit, aufrecht, und der kleinere Laval, leicht gebeugt, vorgereckter Kopf.

»Vor zwei oder drei Tagen wurde Monsieur Benezet verhaftet.« Deslauriers verzieht keine Miene. »Einer meiner allerbesten Freunde.« Immer noch keine Reaktion. »Ich bin hier, um Sie zu bitten, Ihr Möglichstes zu tun, damit er freigelassen wird.«

»Warum wenden Sie sich an mich? Wir kennen uns doch kaum …«

»Bei den französischen Polizeibehörden weiß niemand, wo er gefangen gehalten wird.« Ein Moment vergeht. »Ich habe Henri Lafont davon erzählt …«

Rückblende: Laval und Lafont, der Regierungschef und der Gestapomann, essen gemeinsam, duzen sich, sind dicke Freunde, Spießgesellen, Komplizen. Eine Falle?

»Der Lafont, mit dem Sie befreundet sind.«

»Genau. Und er hat mir geraten, Sie aufzusuchen. Er meint, nur Sie wüssten, wo sich Benezet befindet. Ich bin zu einem Handel bereit.«

Konstatiere: Der große Lafont, der glaubte, über Paris zu herrschen, hat die Lage immer weniger im Griff. War klug, Benezet vorsorglich unter falschem Namen einzusperren. Jetzt, mit Loiseaus Bericht, hat Bauer freie Hand. Du wirst zahlen, du armseliges Würstchen.

»Fünf Millionen.«

Laval zuckt zusammen. »Das ist eine … enorme Summe. Ich dachte, dass unter Franzosen …«

Deslauriers, nunmehr belustigt: »Mal im Ernst, Herr Präsident. Ihr Freund hat einen amerikanischen Offizier in seiner Wohnung versteckt. Das ist in Zeiten wie diesen sehr kompromittierend. Ich habe Hauptsturmführer Bauer nichts davon gesagt, was Ihrem Freund vermutlich das Leben gerettet hat. Ihnen liegt an ihm. Und ich kann mir ziemlich gut vorstellen, warum. Amerikaner stehen dieser Tage hoch im Kurs.« Eine Pause. »Aber natürlich nicht bei Hauptsturmführer Bauer.« Erneute Pause. »Kurz: Fünf Millionen, und Sie bekommen ihn von mir in aller Diskretion zurück. Wenn nicht, übergebe ich ihn Bauer.«

Laval macht ein paar Schritte in den Garten, schleudert sein Champagnerglas in ein Blumenbeet, kehrt in Richtung Deslauriers zurück und stößt im Vorbeigehen hervor: »Morgen haben Sie das Geld.« Dann betritt er das Esszimmer. »Ich kann unmöglich bleiben, gnädige Frau … Meine Tage in Paris sind derart ausgefüllt … Nehmen Sie es mir nicht übel …«

Dora schenkt ihm ein breites Lächeln und geleitet ihn ins Erdgeschoss zur Tür. Geht wieder hinunter. Deslauriers steht immer noch reglos auf der Terrasse.

»Den wären wir los.«

»Ich verschwinde auch, Dora. Für ein Tête-à-tête bist du mir eine zu gefährliche Frau.«

Dora hat sich nicht umgezogen. Sie hat sich lediglich eine sehr weitmaschige Baumwollstrickjacke über die Schultern geworfen. Im Boudoir im ersten Stock, ein ganz in Rosa und Weiß gehaltenes Schmuckkästchen, Louis-XV-Sessel und Klavier, spielt sie mit Domecq Dame. Dessen klarer blauer Blick unter den dichten schwarzen Brauen fixiert das Spielbrett, dann Doras Gesicht, als entschlüssele er dort seine Strategie. Vergeblich. Das zur Straße hin gelegene Fenster ist geöffnet, der späte Nachmittag ist drückend heiß, und die Tür des kleinen Boudoirs, die zur Treppe und zum Flur führt, steht ebenfalls offen, um Durchzug zu machen.

Neben dem Spielbrett eine Flasche Champagner und zwei halbvolle Gläser sowie ein Tablett mit Petits Fours, vor Zucker blitzenden Fruits déguisés, Makronen, Törtchen, bei denen Domecq munter zulangt.

 

»Der Konditor vom Ritz lässt sie mir bringen. Vermutlich, um sich Bauer warmzuhalten, als hätte ich irgendwelchen Einfluss auf ihn.« Im Takt ihrer Worte putzt sie in einem vernichtenden Spielzug alle Domecq noch verbliebenen Steine weg und lacht. »Drei Partien zu null, Fortschritte machst du keine.«

Domecq steht auf, Hemd und Hose khakibraun, ziemlich zerknittert, reckt und streckt sich. Sie betrachtet ihn erstaunt.

»Wie stellst du es an, bei dem, was du verdrückst, so schlank zu bleiben?«

Domecq muss laut lachen. »Ganz einfach, wie jeder hier in der Stadt komme ich vor Hunger fast um, wenn ich mich nicht gerade bei dir vollstopfe.«

»Laval war heute zum Mittagessen hier.« Der vor ihr stehende Domecq stockt in seiner Bewegung. Sie nimmt eine Zwetschge mit Marzipanfüllung, beißt langsam hinein, leckt sich die Fingerspitzen. Kostet diesen Moment aus, in dem sie ihn in der Hand hat. Und er lässt sie das Tempo bestimmen, den Augenblick genießen, das ist seine Art, sie zu achten. »Er wird René fünf Millionen zahlen, um einen gewissen Benezet freizubekommen, ein Freund von ihm, der verhaftet wurde, weil er einen amerikanischen Offizier bei sich einquartiert hatte.« Unschlüssig, dann Erdbeertörtchen. »Benezet, das sagt mir irgendwie was. Er muss vor dem Krieg häufiger im Perroquet bleu gewesen sein.«

Auf der Straße Schreie, Tumult. Domecq tritt ans Fenster. Auf dem Gehweg eine Gruppe von vier Männern, die einen sich heftig zur Wehr setzenden Mann in Handschellen und mit blutverschmiertem Gesicht prügeln, schleppen, mit sich schleifen. Ein letzter Revolverhieb schlägt ihn bewusstlos, und die Gruppe verschwindet eilig ein paar Häuser weiter im Eingang von Nummer 3a an der Place des États-Unis.

Domecq wendet sich wieder Dora zu. »Stört es dich nicht, so dicht bei Lafonts Gefängniszellen zu wohnen und regelmäßig zu sehen, wie unter deinen Fenstern Menschen in den sicheren Tod gehen?«

Dora steht auf, schließt das Fenster. Das Spiel der weiten Baumwollmaschen auf ihren Schultern, ihren Armen, der Schattenwurf auf ihrer Haut, perlrosa, perlgrau.

»Manchmal verstehe ich dich nicht.« Die weit geöffneten emailleblauen Augen wirken riesig in ihrem Gesicht, nehmen ihm das Runde, machen die Züge hart. »Findest du deine Bemerkung in diesem Haus nicht deplatziert? Und unnötig aggressiv mir gegenüber?«

Die Haustür fällt ins Schloss, Fußtrappeln auf der Treppe, Ambre in der Uniform der Klosterschülerin des Couvent des Oiseaux, marineblauer Plisseerock, hellblaue Hemdbluse, weiße Kniestrümpfe, bleibt auf der Schwelle zum Boudoir ruckartig stehen. Schön. In gewisser Weise das Abbild ihrer Mutter. Das goldene Haar, die riesigen tiefblauen Augen, die markanten Wangenknochen, das dreieckige Gesicht. Der unbekannte Vater hat nicht viele Spuren hinterlassen. Aber ihre Züge sind feiner, ebenmäßiger als Doras, die Nase gerade, der Mund unauffällig, das Gesamtbild deutlich kühler. Er liegt genau darin, Doras unumschränkter Charme, in der Summe ihrer unvollkommenen kleinen Asymmetrien und anrührenden Rundungen.

»Sieh an, der neue Liebhaber meiner Mutter. Wenigstens ist der da Franzose. Bulle, aber Franzose.«

Sie verschwindet in den Flur, und man hört ihre Zimmertür knallen. Dora nimmt es wortlos hin, steht da, rührt sich nicht. Dann: »Urteile nicht schlecht über sie. Es ist nicht leicht, die Tochter einer ehemaligen Hure zu sein.«

Noch weniger leicht ist es, wenn die ehemalige Hure ein neues Leben beginnt, indem sie die offizielle Mätresse eines Pariser SS-Führers wird. Aber das kann ich ihr nicht sagen.

Domecq fühlt sich hoffnungslos allein.

Langer Marsch durch Paris, um das Unbehagen loszuwerden, das sein Nachmittag mit Dora und die kurze Begegnung mit ihrer Tochter hinterlassen haben. Außerdem muss er die Zeit herumbringen. Läuft hinunter zur Place de l’Alma, dann gemächlich am Ufer entlang. Die Atmosphäre in der Stadt wandelt sich kaum merklich. Unverändert das schöne Wetter und die augenscheinliche Unbekümmertheit all der Menschen, die hin und her laufen, als wären sie sehr beschäftigt. Aber die Männer und die Lkws der Wehrmacht, die auf dem Platz vor dem Invalidendom Halt gemacht haben, kehren vielleicht gerade von der Normandiefront zurück, sie wirken verbraucht. Der Krieg rückt näher. Erste Risse im Erscheinungsbild der Sieger. Ein Stück weiter, nahe der Place de la Concorde, immer noch unvermindert viele Straßensperren, bewaffnete Soldaten, Hakenkreuzfahnen. Aber weniger, deutlich weniger Touristen in Uniform.

Um kurz vor 18 Uhr erreicht er das Inspektorenzimmer des Sittendezernats. Ein relativ langgezogener, nicht sehr hoher Raum, dessen Fenster auf einen Innenhof gehen und fahles Licht spenden. Die Farbe an den Wänden ist schmutzig und grau, die Schreibtische stehen dicht gedrängt und etwas planlos im Raum, und nur im Slalom gelangt man ganz nach hinten zu den beiden Milchglastüren der Büros vom Chef und seinem Stellvertreter. Hinter diesen Scheiben ist immer Licht, aber wenig Leben, und man weiß nie, ob der Chef da ist oder nicht. Das Inspektorenzimmer betritt er ziemlich selten.

Auf den nicht eben vollen Schreibtischen keine zwei gleichen Lampen und dahinter altersschwache Stühle. Heute sind nur wenig Leute da. Ein paar vereinzelte Inspektoren arbeiten an einem Bericht, lesen Zeitung, unterhalten sich. Bordelle, Nachtclubs, Glücksspiel, Drogen, Prostitution, alles in Händen der französischen Gestapo unter Aufsicht von Lafont, und das Leben im Sittendezernat spielt sich in einer höchst eigentümlichen Atmosphäre ab, eine Art Konservierungskammer für Tätigkeiten und Gebräuche aus der Zeit, in der das Dezernat tatsächlich eine Funktion hatte.

Domecq setzt sich an seinen Schreibtisch etwa in der Raummitte und macht sich an einen Bericht über den Vorabend im Bagatelle. Bereits seit Tagen kursierte das Gerücht, dass dort im Lauf des Abends eine Lieferung Kokain eintreffen würde. Folglich war der Nachtclub schon um 21 Uhr gerammelt voll. Die übliche Pariser Schickeria …

Blickt auf. Nur noch zwei Inspektoren im Raum. Die anderen sind wohl einen trinken gegangen, übungshalber, bevor sie reihum die Nachtclubs und Bordelle abklappern, die sie überwachen sollen. Doch diese zwei scheinen sich hier einnisten zu wollen. Also muss er sich weiter beschäftigen.

Vertieft sich wieder in seinen Bericht, listet auf: Sacha Guitry, Cocteau, Jean Marais, Serge Lifar, Drieu … Schreibt dann weiter: Um zehn Uhr abends betreten Villaplana und Clavié, zwei von Lafonts Männern, das Bagatelle. Marthe Richard, die sich ebenfalls in der kleinen Schar tummelt, erkennt in Villaplana den ehemaligen Torwart der französischen Fußballnationalmannschaft und küsst ihn. Die Gäste jubeln ihm zu, es kommt zu einem wahren Tumult, um neben dem Kokain auch ein Autogramm von Villaplana zu ergattern, der seinen Schriftzug gleich auf die Tütchen setzt, während Clavié die Geldscheine entgegennimmt.

Domecq hält inne. Sieht sich nach allen Seiten um. Endlich allein. Es ist 19 : 30 Uhr. Er ist in der Zeit. Er schreibt einen abschließenden Satz: Wie soll ich in Anbetracht dessen, dass das Bagatelle unter Lafonts Schutz steht, in der Angelegenheit weiter vorgehen? Lässt den Bericht gut sichtbar auf seinem Schreibtisch liegen und eilt zu den Toiletten.

Hinterste Kabine. Nicht verriegeln. Er steigt auf den Toilettensitz, packt den Rand des Dachfensters, Klimmzug, macht über einem Innenhof zwei Schritte auf der Dachkante, lässt sich dann durch die nächste Luke in einen Abstellraum voll Eimer und Besen hinab, die die Putzfrauen morgens vor dem Eintreffen der Polizisten benutzen. Er nimmt einen Karton vom obersten Regal, holt ein sperriges Radiogerät heraus, wickelt das Antennenkabel ab und legt es in der Dachrinne aus, nimmt Kartons und Lappen zu Hilfe, um die Geräusche zu dämpfen, und setzt sich auf einen Hocker. Er macht sehr bedächtige, sehr verhaltene Bewegungen, um den Kokon aus Stille und innerem Frieden nicht zum Platzen zu bringen, der ihn im Herzen der Polizeipräfektur umgibt, dem sichersten Ort von Paris. Dies ist ein Augenblick des Glücks. Dann wartet er, 20 : 07 Uhr, der Zeitpunkt seiner Verabredung mit London. Der Kontakt ist hergestellt. Die Gestapo verhaftet (den mir unbekannten) Benezet in seiner Wohnung und mit ihm einen amerikanischen Offizier, den er beherbergt hat. Laval zahlt Deslauriers fünf Millionen für Benezets Freilassung. Instruktionen? Hockt auf seinem Schemel und wartet, während er versonnen an London denkt und an jene unbekannten Stimmen, die laut durch die Rue d’Assas hallten: Die Engländer sind da … Da kommt die Antwort: Nachricht empfangen. Höchste Priorität. Wir wollen alles über den amerikanischen Offizier, Benezet und die Kontakte zu Laval wissen.