Schwarzes Gold

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Als er ankommt, stellt er den Wagen im Évêché ab und geht zu Fuß. Abstecher zur Kaffeerösterei auf der Canebière, wo er einen elektrischen Espressokocher und ein Kilo gemahlenen Kaffee aus Italien kauft. Zu Hause hat er kaum geduscht, als das Telefon klingelt. Vincent Royer, ein Kommilitone von der Jurafakultät.

»Porticcio rief an, um mir zu sagen, dass du eine Weile in Marseille bist und er dir seine Wohnung geliehen hat. Du hättest es schlechter treffen können!«

»Sagen wir, ich beschwere mich nicht.«

»Weißt du, dass ich nach Marseille zurück bin, um mich als Anwalt niederzulassen?«

»Porticcio erzählte davon. Gefällt es dir hier?«

»Ja, ich liebe meine Heimatstadt. Und ich habe großes Glück. Ich bin Partner von Maître Lombardino, wir haben beim bevorstehenden Riesenprozess um die Zerschlagung der berüchtigten French Connection die Verteidigung einiger Angeklagter übernommen, insgesamt über dreißig Beschuldigte. Ich vermute, du hast im Évêché davon reden hören?« Daquin brummt etwas. »Ich bin zuständig für das Dossier der Ehefrau des Hauptangeklagten. Das ist faszinierend, in beruflicher Hinsicht.«

»Kann ich mir vorstellen.«

»Wir könnten uns vielleicht treffen …«

»Morgen, komm zum Abendessen zu mir, besser gesagt zu Porticcio, am Quai du Port. Du kennst die Adresse, wenn ich recht verstanden habe. Etwas später, gegen neun, ich weiß nicht, um wie viel Uhr ich im Évêché fertig bin …«

»Abgemacht. Sehr gern.«

Vincent, Mitglied der kleinen Clique an der Jurafakultät. Vage Erinnerung … Ich denke morgen darüber nach.

Heute Abend macht sich Daquin daran, die Plattensammlung seines Freundes, überwiegend Klassik, nach Jazz zu durchstöbern, und setzt sich mit seinem Cognac in einen Liegestuhl auf der Loggia. Die Lichter des Vieux-Port blinken in der Nacht. Es ist kühl. Morgen ist ein anderer Tag.

3

Mittwoch, Marseille

Die großen nationalen Tageszeitungen melden Pieris Ermordung auf einer Spalte im Innenteil, Rubrik Vermischtes:

MARSEILLER REEDER AUF DER PROMENADE DES ANGLAIS IN NIZZA ERSCHOSSEN

Maxime Pieri, ein Akteur bei der wirtschaftlichen Umstrukturierung des Hafens von Marseille, scheint mit einigen Jahren Verspätung für seine anrüchigen Verbindungen zum Guérini-Clan in der unmittelbaren Nachkriegszeit gebüßt zu haben.

Gleich am Morgen versammeln sich Daquin und seine beiden Inspektoren in ihrem Büro. Grimbert kommt allen anderen zuvor.

»Wie von Ihnen beauftragt, habe ich einen Bullen gesucht, der Pieri gut kannte. Ich war gestern bei einem meiner alten Freunde, der beim Marseiller Drogendezernat arbeitet. Sie müssen wissen, Commissaire, dass die Beziehungen zwischen dem Drogendezernat und dem Rest der Kriminalpolizei miserabel sind. Vor weniger als zwei Jahren hat der Minister persönlich den Marseiller Drogenfahndern vorgeworfen, sie seien faul und unfähig und alle mehr oder weniger korrupt. Letztes Jahr sind sie deshalb allesamt entlassen worden und als Ersatz ist ein fertig zusammengestelltes Team aus Paris gekommen, mit einem Chef, der aus den Großen Brigaden im Quai des Orfèvres stammt. Die Regionalpresse schrieb, sie seien hier, um die ›Korsen-Polizei zu bekämpfen‹. Die Atmosphäre können Sie sich vorstellen … Um die Sache zu verschärfen, verlangten die Pariser, von der Marseiller Kriminalpolizei unabhängig zu sein, verließen den Évêché und quartierten sich in irgendwelchen Wohnungen in der Stadt ein. Eine echte Ohrfeige. Die gesamte Marseiller Kriminalpolizei fühlte sich angegriffen und stellte die Kommunikation mit dem Drogendezernat ein. Tja, auf der Suche nach Unterstützung setzten die Pariser ganz auf die Zusammenarbeit mit den Amerikanern, die, um die French zu zerschlagen, angebliche Spitzenkräfte der CIA ins amerikanische Konsulat von Marseille versetzt haben und den Drogenfahndern Kohle, Autos und Funkgeräte zuschanzten. Und dann merkten die Pariser irgendwann, dass Karteien ohne Ortskenntnisse tot sind und dass die Amis sie in Sackgassen führen. Ich erzähle Ihnen nicht, was für Böcke sie geschossen haben. Ein Ding: Die Amis haben Millionen in den Bau eines Schnüffel-LKWs gesteckt, gespickt mit Antennen und Sensoren, ein Labor auf Rädern, mit dem sie durch die Straßen der Stadt und der Vororte rollten und das die bei der Herstellung von Heroin entstehenden Dämpfe erschnüffeln und die Raffinationsfabriken orten sollte. Wenn er vorbeifuhr, kamen alle Marseiller aus den Bistros, hoben ihre Gläser und tranken einen Schluck Pastis auf das Wohl des Schnüfflers. Natürlich haben sie keine einzige Fabrik gefunden, es gibt nämlich keine, nur Chemiehandwerker, die in Landhausküchen arbeiten. Nach einiger Zeit hatten die Pariser die Nase voll davon, sich lächerlich zu machen, und holten meinen Kumpel Casanova zurück, das lebende Gedächtnis der Abteilung und der einzige Marseiller, der die Säuberung überlebt hat. Er hat zugesagt, uns heute Vormittag zu helfen, weil er mein Kumpel ist. Unter der Bedingung, dass wir das für uns behalten, mit niemandem im Évêché darüber sprechen und ihm keine peinlichen Fragen über die Arbeitsweise des Drogendezernats stellen. Sind Sie damit einverstanden?«

»Delmas?«

»Kein Problem.«

»Sehr gut, rufen Sie ihn an, ich schließe solange den Espressokocher an, den ich gestern besorgt habe.«

Erster Espresso aus dem neuen Kocher. Das ist nie der beste. Noch ehe er ausgetrunken hat, nimmt Daquin den Faden auf:

»Bevor Ihr Freund eintrifft, liefere ich Ihnen eine erste kurze Auswertung von meinem Tag in Nizza. Gemischte Bilanz. Bonino beim SRPJ in Nizza scheint mir zuverlässig zu arbeiten. Nach dem, was er mir erzählt hat, ist Frickx der europäische Repräsentant einer großen Tradingfirma, der Co Trade, und laut Zeugenaussage von Madame Frickx sollen der Trader Frickx und der Reeder Pieri regelmäßige Geschäftsbeziehungen unterhalten haben. Frickx war gestern in Südafrika, er wird heute Abend an der Seite seiner Frau in Nizza sein, für morgen haben wir ein Gespräch mit ihm in Nizza geplant. Madame Frickx selbst scheint außer Verdacht zu sein. Weniger positiv lief es beim Staatsanwalt. Coulon verweigert Rekonstruktion des Tathergangs und Hausdurchsuchung. Man fragt sich, warum er ein beschleunigtes Verfahren eröffnet.«

Grimbert mit schiefem Lächeln: »Um fünfzehn Tage verstreichen zu lassen, damit die Aufregung sich legt, bevor er einen Richter einsetzt.«

»Sie dürften recht haben.«

Casanova kommt im richtigen Moment, nämlich zum zweiten Espresso. Die vier Männer richten sich angesichts des begrenzten Platzes notdürftig ein, und man wendet sich dem Studium von Pieris Vergangenheit zu. Delmas beginnt.

»Die Polizeiakten geben Auskunft über Pieris Personenstand. Er ist 1926 auf Korsika geboren, in Calenzana. Im Alter von zehn Jahren verliert er Vater und Mutter, die vor seinen Augen erschossen werden, wahrscheinlich bei einer Vendetta, der Fall wurde nie aufgeklärt. Die Großmutter klemmt ihn sich unter den Arm und setzt auf den Kontinent über, um den Mördern zu entgehen. Richtung Marseille, Le Panier, Rue des Pistoles, eine von Korsen bevölkerte Straße, die mehrheitlich aus Calenzana stammen. Sie verkauft Obst und Gemüse auf Märkten, um zu überleben. Dann kommen Krieg und deutsche Besetzung.«

Grimbert löst ihn ab. »Seiner Akte bei der Handelskammer zufolge beteiligt sich Pieri 1944 an der Befreiung von Marseille, geht zur Armee, Kriegsverdienstkreuz im Juni 1945. Da ist er neunzehn. Danach Funkstille bis 1962.«

Casanova wendet sich an Daquin. »Sie als Pariser müssen verstehen, was zu der Zeit in Marseille in Gang kommt. Schon vor dem Krieg begann sich um die Brüder Guérini ein eingeschworener Clan zu bilden. Alles Korsen, alle in Marseille, viele aus demselben Dorf, Calenzana. Für einen Korsen ist das Dorf von großer Bedeutung. Bei der Befreiung von Marseille kämpften die Guérinis Seite an Seite mit Defferre und den Sozialisten. Oma Guérini soll Defferre sogar mehrfach das Leben gerettet haben. Das ist der Wendepunkt ihrer Geschichte. In der sehr unruhigen Zeit nach der Befreiung macht der Guérini-Clan ein Vermögen mit dem Schwarzhandel von Zigaretten, ein Riesenunternehmen, das sich über das ganze westliche Mittelmeer erstreckt, von Tanger aus geleitet. Und nach und nach setzt sich der Clan als Herrscher über Marseille durch, dank seiner Verbindungen ins Rathaus, unabhängig davon, ob ein Rechter das Bürgermeisteramt bekleidet oder Defferre. Als der Bürgermeister vertrauenswürdige Männer braucht, sei es, um 1947 eine kommunistische Demonstration zu zerschlagen oder 1950 den Streik der Hafenarbeiter zu brechen, wendet er sich an die Guérinis und die Sache läuft. In beiden Fällen wird die Ordnung wieder hergestellt. Das verbindet zwangsläufig.«

Delmas berichtet weiter: »In den Polizeiakten steht, dass Pieri nicht verheiratet ist, weder eine offizielle Geliebte hat noch Kinder.«

»Das kann ich bestätigen«, sagt Casanova.

»Bis in die Sechzigerjahre lebt er mit seiner Großmutter zusammen. Zu dieser Zeit kauft er ihr ein Häuschen in Calenzana, in das sie umzieht. Sie stirbt 1968. Ansonsten sind die Akten ausgesprochen diskret. Ein paar wenige Meldungen vom Zoll wegen Verdachts auf Zigarettenschmuggel, keine Festnahme, keine Verurteilung. 1959 notiert ein Polizist ein Gerücht, dem zufolge Pieri bei einer Abrechnung ums Leben gekommen sei, aber 1960 taucht er wieder auf der Bildfläche auf. Nichts über eine mögliche Beteiligung am Heroinhandel.«

Daquin unterbricht. »Dabei ist das doch die Zeit, als die Guérinis neben ihren vielen anderen Aktivitäten die French Connection organisieren. Hält sich Pieri aus den Drogen heraus?«

 

»Sicher nicht. Wir wussten, dass Pieri einer der treuesten Soldaten der Guérini-Brüder war, ehe er Antoine Guérinis Erster Kapitän wurde. Als solcher watete er in Heroin. Aber es war eine Zeit relativer Straflosigkeit. Und wenn ich relativ sage … Die Guérini-Brüder wurden ebenfalls nicht behelligt.«

Grimbert übernimmt wieder. »1962 gründet Pieri die Somar, die also sieben Jahre lang parallel zum voll funktionstüchtigen Guérini-Clan existiert. Gibt es Verbindungen zwischen der Somar und dem Clan?«

Casanova lächelt. »Spiel nicht den Unschuldigen, Englishman. Es ist ausgeschlossen, dass es keine Verbindung zwischen der Somar und den Guérinis gab, und das weißt du so gut wie ich. Als die Familie Guérini zu Fall kam, zwischen 1967 und 1969, hat man hier in Marseille und in Frankreich nicht viel Geld gefunden. Meine persönliche Meinung ist, dass ihnen die Somar von ihrer Gründung an dazu diente, es in Sicherheit zu bringen.«

Jetzt ist Daquin an der Reihe, den Naiven zu spielen. »Es gab damals keine Ermittlung in Bezug auf diesen Aspekt der Geschichte?«

Casanova ist sichtlich verlegen. »Erst mal waren Finanzermittlungen damals noch nicht in Mode. Und dann wäre es ein Wunder, wenn die Somar nur mit dem Geld der Guérinis gearbeitet hätte, wenn Sie verstehen, was ich sagen will.«

Ein Moment Schweigen, dann spricht Delmas. »Von seinem Wiederauftauchen 1960 an finden sich in den Polizeiakten Notizen, dass Pieri regelmäßige Geschäftsreisen in die USA unternimmt, mindestens vier im Jahr. Mehr steht da nicht.«

Casanova erläutert: »Täuschen Sie sich nicht, er war bestimmt kein Drogenschmuggler. Er war zuständig für die Gesamtverhandlungen mit den New Yorker Familien. Die French war ein gut geführtes Unternehmen, die Aufgaben waren streng aufgeteilt. Keine Genremischung, so lautete die Regel. Damit Sie das richtig verstehen: Die Guérinis, die die Heroinbranche kontrollierten, besaßen auch das komplette Opernviertel hier in Marseille, Bars, Bordelle, Nachtclubs, alles. Drogenverkäufer wurden nicht geduldet, nicht ein einziges Gramm Pulver war dort im Umlauf. Keine Genremischung. Wir dachten damals, Pieri wäre der Mittelsmann zwischen den Guérinis und den amerikanischen Familien, die das Heroin in New York vertrieben. Sie waren eng verbunden, seit die Guérinis 1947 die Kommunisten und 1950 die Hafenarbeiter aufgemischt hatten, und auch die CIA fanden sie nach ihrem Geschmack. Die Guérinis und ihre Soldaten waren Meister im Kampf gegen den Kommunismus. Wir würden diese Harmonie doch nicht stören. Niemand hatte damals etwas daran auszusetzen. Auch nicht in den höheren Sphären, den französischen oder den amerikanischen.«

Noch ein kurzer Austausch, dann zieht Casanova sich zurück. »Ich lasse euch in Ruhe arbeiten.«

Grimbert legt den Artikel aus Info Éco Avenir, den er aus dem Archiv der Handelskammer »ausgeliehen« hat, auf Daquins Schreibtisch.

»Ein interessanter Beitrag über die Wirtschaftskrise in Marseille 1964, der mich zum Nachdenken gebracht hat, allerdings enthält er ein verblüffendes Porträt von Pieri, das ihn als Pionier der Wiederbelebung des Marseiller Unternehmertums darstellt.«

Daquin überfliegt den Artikel. Eine Ode auf Pieri. Seltsam in einer Wirtschaftszeitung, die normalerweise sehr zurückhaltend sind. Er legt ihn beiseite. Den muss er aufmerksam lesen, in Ruhe.

Grimbert fährt fort: »Ich war auch beim Finanzamt. Die Akte Somar wird von den Spezialisten für die Finanzmauscheleien der Stadt und deren Gravitationsfelder sehr aufmerksam bewacht. Das ist ein Alarmsignal.«

Daquin fasst zusammen: »Aus allem, was heute Vormittag hier gesagt wurde, scheint mir hervorzugehen, dass sich unser Ausgangsansatz bestätigt: die zentrale Rolle der Somar. Solange sich nichts Besseres findet, erstes Ziel: Informationen über Co Trade finden, das ist wichtig, damit ich morgen nicht mit leeren Händen zum Gespräch mit Frickx gehe. Die Abteilung für Finanzdelikte des SRPJ kann uns vielleicht helfen?«

»Die besteht nur aus zwei Personen, aber eine davon kenne ich gut, ich werd’s versuchen.«

»Ich kann auch unsere Kollegen beim französischen Konsulat in New York bitten, uns zu schicken, was sie über Co Trade und Frickx finden können. Was halten Sie davon?«

»Warum nicht? Schließlich ist das amerikanische Konsulat in Marseille hyperaktiv, wir können versuchen, es ihnen mit gleicher Münze heimzuzahlen …«

»Anschließend treiben Sie sich ein bisschen in der Nähe von Pieris Wohnung herum, klassische Nachbarschaftserkundung. Vielleicht könnten Sie bei unseren Freunden vom Zoll vorbeigehen, ihnen ein paar Fragen über die Somar stellen. Und gleich morgen müssen wir zur Somar und den Angestellten unter dem Vorwand, sie über die Umstände von Pieris Tod zu informieren, möglichst viele Auskünfte zu seiner Person und zur Funktionsweise des Ladens entlocken. Ich würde auch gern eine halbamtliche Rekonstruktion des Mordes durchführen, da der Staatsanwalt nichts Offizielles will. Haben Sie hier im Évêché einen guten Spezialisten für Anschläge mit Schusswaffen, einen diskreten Mann?«

»Einen Spezialisten sicher, einen diskreten Mann – man darf nicht zu viel verlangen. Wenden Sie sich an den Direktor, er ist sehr stolz auf die mobilen Einsatzkommandos der Polizei, die er gerade neu eingeführt hat, es wird ihm ein Vergnügen sein, einen Kontakt herzustellen, und es ist gut für die Beziehung zu unseren Vorgesetzten.«

»Und sagen Sie, Grimbert, woher haben Sie diesen Spitznamen, Englishman?«

»Ihnen entgeht aber auch nichts … Als ich in Marseille ankam, war ich fünf Jahre alt, und ich war Engländer. Ich bin auf Malta geboren. Die Insel war damals britisch. Aber ich spreche schlecht Englisch, meine Muttersprache ist Maltesisch. Ich spreche auch Deutsch, gar nicht mal schlecht, mein Vater war Deutscher. Deutscher Jude. Er ist 1938 geflohen und erst auf Malta zum Stillstand gekommen, wo er meine Mutter geheiratet hat, aber er konnte sich nie an die maltesische Mundart gewöhnen. Zu Hause haben wir Maltesisch und Deutsch gesprochen.«

Einen Teil des Nachmittags verbringt Daquin damit, das Dossier noch einmal zu lesen. Sich die Personen einprägen, die kleinsten Details, sich nichts entgehen lassen. Ebenso die Polizeiakte von Emily Frickx mit dieser Spur abgedrehten Leichtsinns und den Artikel aus Info Éco Avenir mit seinem Porträt eines Marseiller Banditen als Held des modernistischen Unternehmertums. Er weiß nicht, was wichtig ist und was nicht, man muss also alles in Betracht ziehen.

Er verlässt das Büro relativ früh, um Einkäufe zu machen und zu kochen, wobei er noch nicht über das Menü entschieden hat. Normal. Er erinnert sich kaum an Vincent, er weiß nicht, ob es ihm Freude macht, ihn wiederzusehen, oder eher nicht, er weiß nicht, warum er ihn zum Abendessen eingeladen hat. Wie soll man unter diesen Umständen ein Menü zusammenstellen? Er durchquert das Panier-Viertel, läuft am Vieux-Port vorbei, geht dann hoch zum Markt von Noailles, angezogen von den Farben, dem Lärm, den Menschen, die durch die Sonne bummeln, sich begegnen, einander zurufen, sich anblaffen, eine Stadt, die zu ihrem eigenen Vergnügen eine Show abzieht. Vor dem Obst- und Gemüsestand einer faltigen alten Marktfrau bleibt er stehen, sieht ihr zu, wie sie von einem Kunden zum anderen flattert, einen Wortstrom ausgießt, während sie aufmerksam jede Frucht, jedes Gemüse wählt, mit wachem Blick und präzisen Bewegungen. Sie muss Pieris Großmutter ähneln … Warum empfinde ich eine Art Zärtlichkeit für sie?

Hat die Alte es gespürt? Sie ruft ihm zu: »Und Sie, junger Mann, was darf es für Sie sein?«

Daquin zögert: Tomaten … und warum eigentlich nicht die Alte machen lassen?

»Geben Sie mir, was ich für ein Ratatouille für zwei Personen brauche.«

»Ah! Ein Abend unter Verliebten?«

Lächeln. »Wenn Sie es sagen …«

»Ich richte das für Sie.«

Sie packt Tomaten, Paprikaschoten, Zucchini, Zwiebeln und Auberginen zusammen, verstaut sie sorgsam in einer Tüte und wirft ihm dann einen argwöhnischen Blick zu. »Sind Sie der Koch? Wissen Sie wenigstens, wie man Ratatouille macht?«

»Keine Sorge, ich habe mein Rezept …«

»Vor allem keine Originalität, das beste Rezept ist das Ihrer Mutter.«

Daquin hat in diesem Punkt seine Zweifel, beschließt aber, sich nicht dazu zu äußern.

Danach macht er einen Abstecher zur Kaffeerösterei auf der Canebière, um seinen persönlichen Vorrat an Arabica zu besorgen, italienische Röstung und frisch gemahlen. Es ist nicht viel los, guter Kaffee ist kein obligatorischer Bestandteil der Marseiller Kultur. Dann geht er zurück zu seiner Wohnung am Quai du Port.

Kaum angekommen, begibt er sich in die Küche, das erste Mal seit seiner Ankunft in Marseille. Freude, in seinen Händen wieder frisches Gemüse zu spüren. Die Erinnerung an Beirut steigt in ihm hoch, und Beirut hat einen Namen: Paul Sawiri, sein Liebhaber, älter als er und sehr viel weiser, der ihn die Liebe zum Kochen gelehrt hat. Kochen, sagte er, tut man nicht für sich selbst, sondern für einen anderen oder mehrere andere, Freunde, Liebhaber. Jedes Gericht ist ein Liebesakt, die Art und Weise der Zubereitung, die Würzung, hängt von der Person ab, mit der man es essen wird. Genau da liegt das Problem: Wer ist Vincent? Mit wem wird er heute Abend essen? Er macht sich an die Arbeit. Erst die Tomaten schälen, ein paar Sekunden in heißes Wasser tauchen, dann die Schale abziehen. Das Gemüse fein würfeln. Messer frisch geschliffen, sorgfältige, präzise Handgriffe, bei denen die Spannung des Tages allmählich von ihm abfällt. Dann das Gemüse einzeln in Öl anbraten, angefangen mit den Auberginen, die man im Anschluss auf Küchenpapier beiseite legt, um das überschüssige Öl aufzusaugen. Nach den Auberginen die Zwiebeln, Zucchini und Paprikaschoten anbraten, diese Arbeit nimmt einen weniger in Anspruch, die Gedanken schweifen ab. Vincent, der Musterschüler in ihrer Clique an der Jurafakultät. Zurückhaltend, fleißig, pummelig. Manche sagten: heimlich in dich verliebt, Théo. Er hat das nie ernst genommen und sich nie für ihn interessiert. Vincent spielte Tennis und Golf. Die ganze Clique nannte ihn »den idealen Schwiegersohn«.

Jetzt, wo Zucchini, Zwiebeln und Paprika angebraten sind, ist das Wesentliche erledigt. Man muss nur noch das gesamte Gemüse in einen Topf tun, die gewürfelten Tomaten und ein Kräuterbouquet zugeben, mit Salz und Pfeffer abschmecken. Und die nötige Zeit kochen lassen. Er legt eine Platte von Count Basie auf und streckt sich auf dem Sofa aus. Er atmet den Duft des köchelnden Gemüses, und zum ersten Mal fühlt er sich in dieser Wohnung zu Hause.

Porticcio hat mich vorgewarnt, dass sich Vincent aller Wahrscheinlichkeit nach bei mir melden wird. Er hat hinzugefügt: »Wart’s ab, du wirst überrascht sein. Der ›ideale Schwiegersohn‹ ist auf dem besten Weg, ein Star der Marseiller Anwaltschaft zu werden, die schon eine hübsche Kollektion davon hat.« Habe ich ihn aus Neugier eingeladen? Um zu erfahren, wie ein zukünftiger Marseiller Staranwalt aussieht und was er mir zu erzählen hat? Andere Hypothese: Ich habe bereits genug vom Alleinsein. Ein ehemaliger schmachtender Verehrer? Ich werde mit ihm schlafen.

Vincent kommt um Punkt einundzwanzig Uhr, eine Flasche Champagner in der Hand. »Trinkst du immer noch so gern Champagner?«

»Immer noch. Die Flasche ist kalt … Setz dich auf die Terrasse, ich bringe etwas, was ihm Ehre macht.«

Als Daquin mit einem Tablett zurückkommt, betrachtet Vincent die Segeljacht des Bürgermeisters, die zehn Meter entfernt im Vieux-Port vertäut liegt, er dreht sich um, schaut ihm ins Gesicht, schweigend, bereit. Daquin setzt das Tablett ab und stellt sich neben ihn.

»Wie sehr du dich verändert hast.« Er streift mit der Hand sein Gesicht. Du hast abgenommen, die Bäckchen sind verschwunden, die Knochen sind endlich sichtbar, befreit. Er streichelt mit den Fingerspitzen den vorstehenden Wangenknochen. Ich liebe es, die Kraft deines Gesichts zu spüren. Er zeichnet den Augenbrauenbogen nach, den Nasenrücken, die Augen haben sich vertieft, ich liebe diesen dunkelgrauen Blick. Die Hand streift den Mund, die Lippen öffnen sich, Daquin beugt sich hinunter, haucht einen Kuss darauf.

Vincent fragt: »Vor oder nach dem Apéritif?«

»Nach dem Champagner und vor der Foie gras.«

Zwei Stunden später fläzen sich die beiden Männer in den Liegestühlen auf dem Balkon, Daquin im Bademantel, Vincent in einem zu großen T-Shirt, das er im Bad gefunden hat. Seit einer guten halben Stunde erzählt Vincent Geschichten aus dem Marseiller Anwaltsmilieu, Daquin hört zu und lacht. Eine zweite Champagnerflasche ist angebrochen, die Scheibe Foie gras und die Toasts sind verschlungen.

 

»Von Ratatouille will ich nichts hören«, sagt Vincent.

Daquin seufzt. »Kann ich verstehen. Das war ein Castingfehler. Zur Strafe werde ich drei Tage davon essen, zum Glück ist das ein Gericht, das in Schönheit altert.«

Daquin leert die zweite Flasche Champagner, dann entschließt er sich zu sprechen.

»Ich bin jetzt drei Tage hier, und ich habe das Gefühl, mitten im Treibsand zu leben. Ein Ermittler meines Teams hält mich an der Hand und erklärt mir, wo ich meine Füße hinsetzen darf und wo nicht, mit wem ich reden darf und mit wem nicht, und ich weiß noch nicht, ob ich ihm vertrauen kann oder nicht. Ihm zufolge ist das Drogendezernat von Marseille in der Hand der Amerikaner. Was sagst du?«

»Ja, der Druck der Amerikaner auf die französische Regierung ist sehr stark, und beim Drogendezernat von Marseille sind sie allgegenwärtig.«

»Warum?«

»Aus mehreren Gründen. Zwanzig Jahre lang war das französische Heroin in den USA eine ›success story‹. Die Amerikaner hielten es für ein hervorragendes Beruhigungsmittel und brachten es in den Gefängnissen in Umlauf. Als die Jugend der feinen Gesellschaft anfing, es in rauen Mengen zu konsumieren, fanden sie das weniger komisch. Außerdem sind die Amerikaner durch und durch protektionistisch. Nixon hat einige Freunde in der Mafia von Florida, die in Kokain machen, eine Droge, die vor der Haustür der USA hergestellt wird. Er hat sich darangemacht, ihnen das Terrain freizuräumen, indem er das französische Heroin ausschaltet.«

»Warum lässt man sie auf unserem Hoheitsgebiet einfach machen?«

»Weil sie 1945 gewonnen haben und weil de Gaulle tot ist.«

»Welche Verbindung besteht zwischen dem Krieg Zampa-Le Belge und dem Krieg der Amerikaner gegen das Heroin?«

»Die Frage wirkt einfach, ich fürchte, die Antwort ist sehr kompliziert. Zunächst hat keiner von beiden das Format eines Guérini. Le Belge versucht Geschäfte zu machen, indem er alle Überreste der French aufsammelt, die er findet. Keinerlei Zukunftsvision. Zampa ist viel vernünftiger. Er fährt mehrgleisig. Ein bisschen Drogen, viel Schutzgelderpressung und Prostitution, ganz klassisch. Und Glücksspiel. In diesem Sektor ist Nizza groß im Kommen, Zampa kontrolliert die Casinos über einen seiner Männer, Fratoni, und das Rathaus ist ihm gewogen. In Nizza hat er es zweifellos geschafft, sein Unternehmen zukunftsfähig zu machen.«

Daquin streckt die Beine aus, schließt die Augen. Zampa, das Erbe der Guérinis, Pieris Ermordung, Nizza, Casino im Palais de la Méditerranée. Kein Zufall. Aber welcher Zusammenhang? Er seufzt.

»Marseille ist eine furchterregende Stadt. Alle kennen sich, alle überwachen einander, nichts bleibt verborgen und nichts kommt ans Licht.«

»Ich sag’s mal anders: Es ist eine bemerkenswerte Stadt, was die Dichte des Geflechts ihrer sozialen Beziehungen angeht.«