Schwarzes Gold

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Mittwochabend, Nizza

Frickx landet in Nizza aus London kommend etwa zur vorgesehenen Zeit, gegen einundzwanzig Uhr. Er hat kein Gepäck, nur einen schwarzen Lederaktenkoffer, nützlich, um seinen Auftritt als eiliger Geschäftsmann zu unterstreichen. Rasch durchquert er die Ankunftshalle des Flughafens, wendet sich mit großen Schritten Richtung Parkhaus, geht hinein, diskrete Blicke nach rechts und links, nichts Auffälliges. Vertrauen haben. Er erreicht den hintersten Gang in der Nähe der Einfahrt, sucht den großen Peugeot von Simon, der Nummer zwei bei der Somar, mit dem er verabredet ist. Er kann ihn nirgends sehen. Ein weißer Lieferwagen macht ihm Zeichen mit den Scheinwerfern. Frickx tritt näher, erkennt Simons Silhouette hinter dem Steuer. Er hat nicht seinen eigenen Wagen genommen. Warum? Misstrauisch? Er öffnet die Tür, setzt sich auf den Beifahrersitz, schließt die Tür wieder. Lebhafte Unterhaltung. Die Minuten verstreichen. Dann öffnet Frickx die Tür, stellt sich neben den Lieferwagen, beginnt sein Jackett auszuziehen. Das ist das Signal. Frickx hört den Motor eines sich nähernden Motorrads. Er redet durch die offene Tür weiter mit Simon, er muss seine Aufmerksamkeit fesseln, während er sorgsam sein Jackett über den linken Arm faltet, Geist und Körper in Alarmbereitschaft. Das Motorrad fährt dicht an der Motorhaube des Lieferwagens vorbei, ohne zu verlangsamen, der Sozius stellt sich auf die Fußrasten, feuert dreimal in Simons Richtung, die Schüsse sind stark gedämpft. Die Windschutzscheibe zerbirst, Simons Körper sinkt in Zeitlupe auf den Beifahrersitz, das Motorrad verschwindet geschmeidig.

Frickx, reglos, das Jackett überm Arm, atmet tief durch. Um ihn herum kein Geräusch mehr. Er inspiziert den Lieferwagen. Simon scheint so tot wie nur möglich, aufgerissener Mund, starre Augen, drei blutende Wunden im Brustkorb. Er holt seine Ledertasche aus dem Fußraum, schlägt die Tür zu und läuft im Slalom zwischen den Wagen hindurch bis zur Flughafenhalle. Er begibt sich zum Schalter einer Autovermietung. Eine Mercedes-Limousine wartet auf ihn. Kurs auf die Villa in Cap Ferrat. Als er den Flughafen verlässt, ist alles ruhig, der Tote im Lieferwagen wurde offenbar noch nicht entdeckt.

In der Villa ist es still, alle Lichter gelöscht. Frickx geht auf direktem Weg hoch zum Schlafzimmer im ersten Stock. Emily schläft, gestützt von einem Stapel Kopfkissen, ausgestreckt auf dem Rücken im Ehebett, ihr Gesicht ist ausdruckslos, sie sieht mitgenommen aus. Auf dem Nachttisch ein eingeschaltetes Nachtlicht neben einer Wasserkaraffe und einer Sammlung Medikamentenpackungen. Eine Frau in weißem Kittel schläft auf einem Liegestuhl am Fußende des Bettes. Das Eintreten von Frickx hat sie aus dem Schlaf hochfahren lassen.

Er stellt sich vor: »Michael Frickx, der Ehemann Ihrer Patientin. Sie wurden über mein Kommen unterrichtet, glaube ich?« Mit einer Bewegung in Richtung Bett: »Wie geht es ihr?«

Er nimmt Emilys Hand, spricht laut, als legte er es darauf an, sie zu wecken, die Krankenpflegerin antwortet ihm flüsternd, dass alles gut ist, er soll sich keine Sorgen machen, aber seine Frau braucht viel Ruhe.

Emily hat schon die Augen geöffnet. Frickx beugt sich hinab, küsst sie auf die Stirn, streichelt ihre Hände. Lächeln aufrichtiger Zuneigung. »Emily, mein Schatz, ruh dich aus. Alles ist gut. Morgen kommt dein Cousin David.« Schmeichelnde, beruhigende Stimme. Er wendet sich an die Pflegerin: »Ich habe ihren Cousin angerufen, er ist im Ausland, er kommt morgen. Er wird ihr Gesellschaft leisten.«

Emily kann kaum ihren Blick fixieren, seufzt, murmelt. Er setzt sich neben sie aufs Bett, streicht ihr übers Gesicht, übers Haar, bis sie wieder einschläft.

Dann legt er sich im Gästezimmer zu Bett und schläft sofort ein.

Nacht von Mittwoch auf Donnerstag, Hafen von Istanbul

Der aus dem rumänischen Constanţa kommende Frachter der Somar erreicht Istanbul am späten Nachmittag und legt wie üblich im Hafen von Salipazari auf dem Bosporus an. Er befährt die Küste zwischen dem Libanon, Zypern, der Türkei und Rumänien. Der Kapitän, ein junger Mann unter vierzig, dessen Gesicht aber bereits von tiefen Furchen durchzogen ist, sinnt über den Tod von Pieri nach, von dem Simon ihn am Tag über Funk unterrichtet hat. Er hat seiner fünfköpfigen Mannschaft gerade die Erlaubnis erteilt, den Abend in der Stadt zu verbringen. Er will allein an Bord bleiben, um Pieri so würdig wie möglich zu verabschieden. Er setzt sich in seine Kajüte, Bullaugen geöffnet, um die Kühle des türkischen Frühlings zu spüren, auf dem Tisch eine Flasche Whisky, ein Glas und ein großes Schulheft, Spiralbindung und Karopapier, in das er seit langem Gedichte überträgt, die ihn berühren, um sie in trübsinnigen Momenten nachlesen zu können. Dies ist ein trübsinniger Moment. Er schlägt eine weiße Seite auf und beginnt langsam zu schreiben.

Gebet für Maxime Pieri

Ermordet. Ein Dreckskerl hat auf dich geschossen. Ich wette, du warst unbewaffnet. Du bist schon seit langem nicht mehr bewaffnet ausgegangen. Ich kann es immer noch nicht glauben. Und doch habe ich immer gedacht, dass es so kommen muss. Du liebtest das schnelle Leben, du liebtest das Spiel mit der Gefahr. Ich weiß nicht, wie man betet. Heute bete ich. Ich wusste nie, wie ich mit dir reden soll, unter Männern nimmt man sich nie Zeit zu reden. Heute nehme ich mir die Zeit. Im Panier, in meiner Kindheit, warst du mein Nachbar, du warst mein Held, mein Vorbild. Befreier von Marseille, Kriegsverdienstkreuz, von allen geachtet. Vertrauensmann der Guérinis, die Stadt in deiner Hand. Ich bin mit achtzehn in die Armee eingetreten, um es dir gleich zu tun. Ich habe den ganzen Indochinakrieg mitgemacht und bin nach Marseille zurückgekehrt, ich war dreiundzwanzig Jahre alt, haufenweise Erinnerungen an Blut und Tod, opiumsüchtig bis in die Knochen. Während drei Jahren voller Drogen und Plackerei habe ich nach dir gesucht. Ich war sicher, du wärst meine Rettung. Als ich dich endlich fand, war ich am Boden. Du hast mich aufgesammelt, beherbergt, gepflegt. Du hast mir eine Arbeit in der Handelsmarine gegeben. Du hast mir eins deiner Schiffe anvertraut, das geheimste, das gefährlichste. Ich habe es zu schützen gewusst. Ich bin stolz auf dein Vertrauen. Ich bin stolz darauf, dich nie enttäuscht zu haben. Ruhe in Frieden. Ich bewahre dein Andenken.

14. März 1973, Istanbul

Kapitän Nicolas Serreri

Er schließt das Heft, bekreuzigt sich, die einzige Gebetsgeste, das er kennt, steht auf, tritt an das Bullauge, betrachtet den dunklen Schemen von Istanbul bei Nacht. Eine Stadt, die er wahnsinnig liebt. Er muss eines Tages Catherine mit hernehmen. Auf dem Quai sieht er zwei seiner Matrosen, die auf die Santa Lucia zusteuern. Kommen sie schon zurück? Gute Matrosen. Genau hier hat er sie aufgelesen, in Istanbul, etwas mehr als einen Monat ist das her. Zwei Kerle hatten ihn ohne Vorwarnung verlassen. Das kommt oft vor auf Frachtern wie der Santa Lucia, die schlecht zahlen für viel Arbeit und keinen Komfort, aber bei einer fünfköpfigen Mannschaft reißt das ein Loch. Das Büro des Hafenkapitäns hatte ihm diese beiden geschickt, die eine Heuer suchten. Sie waren intelligent, fleißig, unbestimmter Herkunft und machten sich schnell unentbehrlich. Nicolas liebt es, mit ihnen zu singen und Karten zu spielen, wenn sich bei den Zwischenstopps die Zeit in die Länge zieht. Die zwei Männer erreichen die Gangway, kommen sie herauf. Warum eigentlich nicht ein Glas mit ihnen trinken? Nicolas öffnet seine Kajütentür, macht ihnen ein Zeichen, sich zu ihm zu gesellen. Sie treten ein. Nicolas wendet sich ab, um zwei Gläser vom Regal zu nehmen. Im nächsten Moment packt einer der beiden Nicolas’ Arme, fixiert sie mit einem brutalen Griff, der seine Schultergelenke knirschen lässt, in seinem Rücken. Der andere lässt den Stein des dicken Siegelrings an seiner rechten Hand aufspringen und entblößt ein Dutzend feine Nadeln, die er mit derselben Bewegung in Nicolas’ Hals rammt. Der wehrt sich, um den Angriff abzublocken, dann wehrt er sich plötzlich nicht mehr. Die Männer legen den Körper auf den Boden, gießen etwas Whisky in das Glas auf dem Tisch, leeren die Flasche in das winzige Waschbecken und lassen sie dann auf dem Boden der Kajüte liegen. Einer von ihnen öffnet das Heft auf den ersten Seiten, liest eine beliebige Stelle:

Ein wenig von diesem endlosen absoluten Blau

Wäre genug

Um die Last dieser Tage zu erleichtern

Und den Morast dieses Ortes zu reinigen.

»Diese Schwuchtel hat Gedichte geschrieben.«

Er lacht, lässt das Heft aufgeschlagen auf dem Tisch. Sie laden sich den Toten auf, tragen ihn nach draußen, geben Acht, dass man sie vom Quai aus nicht sieht, schwingen ihn über die Reling und lassen ihn nicht aus den Augen, während er langsam davontreibt. Dann verlassen sie ohne Eile das Schiff und steigen durch die menschenleeren Straßen des Hafens zur kaum erleuchteten Stadt hinauf.

Donnerstagmorgen, Cap Ferrat

Vom Fenster des Gästezimmers überwacht Frickx – geduscht, frisch rasiert, tadelloser grauer Anzug, weißes Hemd, bordeauxrote Krawatte – das Gittertor und den Hof des Hauses. Ein Wagen fährt vor, parkt. Pünktlich, wie erwartet. Er läuft schnell nach unten, um David zu begrüßen.

»Geht’s, hältst du durch?«

 

»Natürlich. Was für eine Frage! Saint-Tropez ist ein zauberhaftes Dorf.«

Die Pflegerin, geweckt von den Geräuschen, steht auf dem Treppenabsatz und beobachtet das Kommen und Gehen. Frickx nutzt die Gelegenheit, um David vorzustellen.

»David, Emilys Cousin. Ich habe ihn gebeten, mich für ein paar Tage an ihrem Krankenbett zu vertreten. Ich muss dringend geschäftlich ins Ausland.« Er nimmt David am Arm, zieht ihn mit sich auf den Hof, außer Reichweite der neugierigen Ohren der Krankenpflegerin. »Ich breche sofort nach Genf auf. Ich habe einen Wagen gemietet, ausgeschlossen, dass ich noch mal über den Flughafen Nizza reise. Emily schläft, sie ist mit Medikamenten vollgepumpt, du hast Zeit. Lass uns ein Stück die Straße entlanglaufen, ich habe dir ein paar Dinge zu sagen.«

Sobald sie das Tor passiert haben, kommt Frickx zur Sache. »Was die Somar betrifft, ist alles in Ordnung, Simon hat mir versichert, dass es in den Firmenunterlagen nichts Schriftliches gibt, das sich bis zu mir zurückverfolgen ließe. Und außer ihm ist niemand über unsere Geschäfte auf dem Laufenden, auch nicht über die der Santa Lucia. Den Rest kennst du. Was mich beunruhigt, ist Emily an Pieris Seite, das war nicht geplant.«

»Niemand weiß das besser als ich.«

»Durch ihre Anwesenheit taucht mein Name in einer Affäre auf, in der er niemals hätte erwähnt werden dürfen. Das ist übel. Ich war gezwungen, zur Villa zu fahren, was nicht in meinem Plan stand, und du bist immer noch hier, dabei solltest du seit ein paar Stunden im Ausland sein. Das ist gefährlich. Ich hasse Überraschungen.«

»Schön und gut, aber Emily war nun mal an dem Abend an Pieris Seite. Daran kannst du nichts mehr ändern. Uns bleibt nur, die Lage so weit wie möglich in den Griff zu bekommen.«

»Ich wusste nicht mal, dass Pieri und sie sich kennen. Ich will wissen, was sie mit ihm zu schaffen hatte. Das ist lebenswichtig für mich, für uns, deshalb musst du bei ihr bleiben.«

»Ein Liebesabenteuer?«

»Das glaube ich nicht. Nicht Emily, an so etwas ist sie nicht interessiert. Und es ist auch nicht dieser Aspekt, der mir Sorgen bereitet.« Er überlegt einen Moment. »Hör zu, David, ich glaube nicht an Zufall. Pieri hat mit meiner Frau zu Abend gegessen. Warum? Misstraute er mir? Was hat er ihr gesagt? Fischte er nach Informationen? Welchen? Hat er ihr von unseren Geschäften erzählt? Stell dir die möglichen Konsequenzen vor! Du musst der Sache auf den Grund gehen.«

»Ich kann’s versuchen, aber es wird nicht einfach. Ich habe Emily seit sieben Jahren nicht gesehen, ich weiß nicht, wie sie mich aufnehmen wird. Und Pieri kannte ich gar nicht. Wie soll ich das deiner Meinung nach bewerkstelligen?«

»Gib dein Bestes, ich vertraue dir. Bleib so lange bei Emily wie nötig. Im Zweifel muss man von ihrer Seite dichtmachen. Ich selbst werde sehr beschäftigt sein, ich muss hinter Pieri aufwischen, es gibt Arbeit für mich in Genf. Und ich muss mit den neuen Verträgen vorankommen. Aber ich rufe dich regelmäßig an. Alles klar?«

»Ja, du kannst los.«

Rückkehr zum Haus. Frickx nimmt den Mercedes, sieben Stunden Fahrt bis Genf. Wenn er das Mittagessen auslässt, hat er nach seiner Ankunft noch den ganzen Nachmittag zum Arbeiten.

Emily schläft immer noch. Die Pflegerin ist in der Küche zugange, wo sie gerade das Frühstückstablett fertig vorbereitet hat. David geht hin, nimmt ihr das Tablett aus der Hand.

»Ich werde mich selbst um meine Cousine kümmern. Packen Sie Ihre Sachen und gehen Sie. Selbstverständlich werden Sie für die ganze Zeit bezahlt, die für Ihren Einsatz geplant war.«

Als sie weg ist, trägt er das Tablett mit Milchkaffee, Croissants, Marmelade nach oben in Emilys Zimmer.

Emily erwacht wie im Nebel, richtet sich tastend auf ihren Kissen auf, dann schafft sie es, auf David zu fokussieren. Sie erstarrt, macht große Augen. Eine heftige Brise aus Kindheitserinnerungen fegt durch ihren Kopf. Die Gerüche, die Geräusche, die Wärme des Glücks.

»Bist du das, David? Träume ich?«

»Nein, du träumst nicht.«

»Mein Cousin. Sieben Jahre Abwesenheit, keinerlei Nachrichten, und dann wache ich eines Tages auf und du bist da, mitten in einer Tragödie. Was machst du hier? Wo ist Michael?«

David stellt das Tablett auf dem Bett ab. »Er ist heute Morgen in aller Frühe nach Mailand abgereist.«

Ein schriller Aufschrei. »Abgereist?«

»Ja, ein Geschäftstermin, er hat mich gebeten, dir Gesellschaft zu leisten.«

Sie sitzt jetzt aufrecht, steif, die Augen weit aufgerissen. »Abgereist, dieser Mistkerl … Ohne mir Bescheid zu sagen. Gestern ein kurzes Guten Abend, mit seinem Lächeln und diesem Ton eines Handelsvertreters, der seine Kundschaft umschmeichelt.« Ihre Stimme überschlägt sich. »Und heute Morgen haut er ab und ich kann verrecken.«

Mit einer heftigen Geste wirft sie die Decke von sich, springt auf, stößt das Frühstückstablett um, Kaffee, Marmelade spritzen, das Porzellan zerbricht. Eine Miniaturkatastrophe. Sie bricht in krampfartiges Schluchzen aus, das ihren ganzen Körper schüttelt. David tritt zu ihr, schließt sie in die Arme, zieht sie vom Bett weg, sie lässt sich in seinen Armen wiegen, ohne mit Schluchzen aufzuhören, er führt sie ins Bad und hält ohne ein Wort ihren Kopf unter die kalte Dusche. Die Schreie und Schluchzer verebben. Er lässt sie los, dreht den Wasserhahn zu, nimmt ein Handtuch, wischt ihr das Gesicht ab, trocknet ihre Haare, zärtliche Gesten. Zurück ins Zimmer, er hilft ihr in einen Sessel. Sie holt tief Luft, atmet mehrere Male langsam durch. David betrachtet sie. Die Ruhe kehrt zurück in das klare, zarte Gesicht, das aus der braunen Masse ihrer nassen Haare auftaucht, kehrt zurück in alle Muskeln dieses schlanken, sportlichen Körpers, den er jahrelang begehrt hat, den er vielleicht immer noch begehrt. Er lächelt.

»So mag ich dich lieber.«

»Weißt du, was ich durchgemacht habe?«

»Ja.«

»Ein Mann an meiner Seite, der gerade mit mir spricht, seine Hand lag auf meiner Schulter, als er erschossen wurde, ich spürte, wie die Hand abglitt, sich in meine Stola krallte, sie im Fallen mitriss, ich stand entblößt da, sein Blut spritzte mir ins Gesicht, auf die Schultern, in die Augen, in meinen Mund.«

»Du wurdest nicht verletzt? Der Schütze muss in Höchstform gewesen sein, um so genau zu zielen. Du bist eine Frau, die sehr viel Glück gehabt hat.«

Emily denkt einen Moment über diese Sicht der Dinge nach. »Ich war noch nie mit einem gewaltsamen Tod konfrontiert, so direkt, meine ich.«

»Weil du jahrelang nicht aus dem Garten deines Großvaters herausgekommen bist. In dem Land, aus dem wir stammen, du und ich, gibt es gewaltsame Tode an jeder Straßenecke. Hast du dich nie gefragt, auf wie viele Tausend tote Minenarbeiter, zerschmettert oder vergiftet, sich das Vermögen unserer Familie gründet? Hör auf, die verwöhnte Göre zu spielen, und reiß dich zusammen.«

Neuerliche Stille, dann fragt Emily in normalem Gesprächston: »Wo ist die Krankenpflegerin?«

»Ich habe sie nach Hause geschickt. Du bist nicht krank, und jetzt bin ja ich da.« David geht zum Nachtschränkchen, angelt sich die Medikamente. »Ich werde dieses Scheißzeug ins Klo spülen.« Er tut es, ohne dass sie aufmuckt. »Hör mir zu, Emily. Ich wiederhole, du bist nicht krank. Du bist jung, reich, gesund und ein Glückspilz. Jetzt zieh dir was über, es ist noch frisch und wir frühstücken auf der Terrasse.«

Die Terrasse thront auf einem felsigen Steilhang, der bis zum Meer hinabfällt. Hinter den Pinien, die an dem Abhang wachsen, die Bucht von Villefranche, das Meer, die offene See. Während David sich in der Küche zu schaffen macht, betrachtet Emily die Brandung ein paar Dutzend Meter tiefer. Er hat recht. Wie konnte ich mich so gehen lassen? Pieri wurde ermordet … Ich dagegen bin am Leben, ich werde mich nicht kleinkriegen lassen. Atme, finde deinen Rhythmus.

Als er Rührei, Toast, Fromage blanc und heißen Tee bringt, macht sie sich mit gesundem Appetit darüber her. Er schaut ihr lächelnd zu. »Ich wusste es.«

Sie hebt den Blick von ihrem Teller. »Hast du schon mal erlebt, wie jemand zu deinen Füßen eines gewaltsamen Todes stirbt?«

»Das fragst du mich, Emily? Hast du vergessen, dass ich 1966 als Freiwilliger zur Armee gegangen bin? Seitdem habe ich in einem Krieg gekämpft und bei Operationen zur Aufrechterhaltung der Ordnung mitgewirkt …«

»Nein, das habe ich nicht vergessen, aber ich habe nie verstanden, warum du dich verpflichtet hast. Und ich habe es dir übelgenommen.«

»Ich habe mich verpflichtet, einen Tag nachdem der Alte mir eröffnet hat, dass er dich mit Frickx verheiratet. Falls du das nicht kapiert hast, er hat es sehr wohl kapiert, ohne dass ich es ihm hätte erklären müssen.«

Emily beugt sich vor, mustert ihn, zögert. Das Gespräch gerät auf schlüpfriges Gelände, das weiß sie. In der morgendlichen Stille zwischen Felsen, Pinien und Meer steigen Erinnerungsfetzen an die Oberfläche. Cousin und Cousine, unzertrennlich. Frühmorgens Reittraining auf dem Gestüt ihres Großvaters in Durban. Der Rausch eines schnellen Galopps, unsere Pferde Flanke an Flanke, ein wortloses Glück, dann in den Pool, wir ließen uns in der Sonne treiben, die Körper erschöpft vom wilden Ritt. Sie entdeckt sein Gesicht neu. Kantig, glatt, unergründlich. Weniger Wangenpolster, oder irre ich mich? Die gleiche blonde Haarsträhne auf der Stirn, die goldbraunen Augen. Die festen, vollen Lippen. Sie erinnert sich, wie sie ihre Handrücken streiften, David hatte die Angewohnheit, in einer Art Parodie französischer Höflichkeit ihre Hände zu küssen, wenn sie sich in der ersten Dämmerung im warmen Dunkel der Ställe trafen, erfüllt mit dem Geruch der Pferde, ihrem vertrauten Atem, und sie erschauerte, lachte verwirrt. Unzertrennlich … Sie hat das seltsame Gefühl, dass dieses Kapitel noch nicht zu Ende geschrieben ist.

Sie schenkt ihm eine Tasse Tee ein. Die Kanne zittert in ihrer Hand, als sie sagt: »Du warst in mich verliebt?«

»Ich war irrsinnig verliebt, und du wusstest das genau.«

»Ja und nein.«

»Wie, ja und nein?«

»Ich wusste, dass du verliebt warst, aber ich wusste nicht, was dieses Wort bedeuten sollte, und ich weiß es bis heute nicht.« Sie lässt sich in ihren Sessel sinken. »Verstehst du, heute, in dieser Stunde, im Angesicht dieses Meeres, dieses Himmels, dieser Felsen, nach dem Tod von Maxime Pieri und in Anwesenheit meines Cousins, spreche ich zum ersten Mal mit Nachdruck aus, dass ich das Leben mit Michael nicht länger ertrage. Ich habe meine Pflicht ihm gegenüber erfüllt, ich bürge für seine Präsenz in der Familie Weinstein und ihrer Minengesellschaft. Er dagegen hat seine nicht erfüllt. Ich habe ihn geheiratet, um in New York zu leben, er sperrt mich in Mailand ein, das ich nicht ausstehen kann. Es ist aus, ich verlasse ihn.«

»Michael ist ein Genie auf seinem Gebiet. Super erfinderisch, keinerlei Skrupel, Chuzpe ohne Ende, waghalsig, wenn nötig, aber nie so weit, dass er seinen klaren Kopf verliert, ich wette, er wird in den nächsten Jahren ein überragender Trader werden. Er ist ein potenzieller Multimilliardär.«

»Das ist mir vollkommen egal.« Sie grübelt einen Moment vor sich hin. »Hat er dich gebeten, herzukommen?«

»Ja.«

»Er kennt dich praktisch nicht, er hat dich gerade ein- oder zweimal getroffen, aber er weiß, dass wir früher sehr eng miteinander waren und dass ich in geschwächter Verfassung bin. Er pfercht uns zusammen hier ein. Ich frage mich, was er sich dabei denkt.«

David sagt nichts dazu.