Mein Leben mit den Eagles

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Ich zog bei Barry Scurran ein, dem Bassisten des Maundy Quintet, der im zweiten Jahr an der Universität studierte und ein Apartment in einer Wohn­anlage in der Nähe des Campus hatte. Er ließ mich zunächst ein paar Tage auf seinem Sofa schlafen, doch schließlich gab er mir sein freies Zimmer, für das ich von da an Miete bezahlte. Einige Male ging ich noch zum Haus meiner Eltern zurück, wenn diese bei der Arbeit waren, um ein paar Klamotten und einige LPs zu holen, ohne die ich schlicht nicht leben konnte. Ich hinterließ keine Nachricht, und sie hatten keine Ahnung, wo ich mich aufhielt.

Schließlich setzte ich mich ans Telefon und rief Mama an, um ihr zu sagen, dass ich in Ordnung sei.

„Bitte komm nach Hause, Don“, flehte sie. „Ich … wir … machen uns solche Sorgen um dich.“

„Nein, Mama“, entgegnete ich trocken. „Ich werde nicht zurückkommen und dieses Spielchen nicht länger mitmachen.“

Mein Vater trat zwar nicht direkt mit mir in Kontakt, teilte mir jedoch über meine Mutter mit, dass ich das Auto zurückbringen müsse, das ich mit seiner Hilfe gekauft hatte, wenn ich nicht in seinem Haus leben wollte. Wütend fuhr ich den Volkswagen heim und parkte ihn vor dem Haus. Die Zündschlüs­sel ließ ich im Schloss stecken. Er wusste ganz genau, wie wichtig ein Auto für meinen Lebensstil war. Noch bitterer war, dass er nun begann, es selbst zu fahren. Ich sah es oft in der Stadt und verfluchte ihn zähneknirschend.

Wenigstens hatte ich immer noch Susan, und das Maundy Quintet lief gut. Bernie, Tom und ich schrieben weiterhin gemeinsam Songs, wenn unser Repertoire auch hauptsächlich aus Coverversionen beliebter Stücke bestand, um das Publikum bei Laune zu halten. Wir kamen gut miteinander aus und ließen uns bei der Auswahl der Musik von Toms gesanglichen Fähigkeiten leiten. Bernie und Tom waren in musikalischer Hinsicht die eigentlich trei­bende Kraft und schrieben einen ganzen Haufen eigener Nummern, wenn ich heute auch zugeben muss, dass sie nicht besonders gut waren. Damals waren wir zwar anderer Meinung, aber Klassiker waren es freilich nicht. Man muss eben irgendwo anfangen.

Was ich an Bernie stets am meisten bewundert habe, ist seine kompromiss­lose Zielstrebigkeit. Wenn er das Spiel auf der Pedal Steel Guitar lernen wollte, dann kaufte er eine, setzte sich hin und übte. Nach einem Monat oder so konnte er sie dann so spielen, dass er mit sich zufrieden war. Er zeigte mir, dass man flexibel und anpassungsfähig sein musste, wenn man die Herausforderung annehmen wollte, die ein völlig neues Instrument oder Genre darstellte. Ich habe die Pedal Steel oder die Mandoline nie so spielen gelernt wie er, aber es ging trotzdem ganz gut. Ohne ihn hätte ich es nicht einmal versucht.

Bernie war ein großer Fan der Beatles und der englischen Musik. George Harrison war sein Held. Einmal trug er sogar eine Beatles-Perücke, und er nahm eine Art englischen Akzents an. Er kleidete sich „englisch“ und versuchte, sein unglaublich lockiges Haar zu glätten. Dann kaufte er sich eine braune Gitarre von Gretsch, Modell Tennessean, dieselbe, die auch Harrison spielte. Mann, er liebte dieses Instrument. Ich bewunderte die Beatles sehr und fand ihre Bega­bung außergewöhnlich, doch für mich hatte Rhythm and Blues einfach viel mehr Seele. Zwischen den Frauen, die wegen B. B. King weinten, und den Mäd­chen, die im Shea-Stadion hysterisch die Beatles ankreischten, bestand ein him­melweiter Unterschied. Ich war außerdem schlau genug, um zu begreifen, dass die Beatles ihren Mangel an Emotionalität durch Coolness ausglichen.

Als die Hollies nach Gainesville kamen und einen Auftritt an der Univer­sität hatten, ergriff ich die Chance, sie einmal live zu sehen. Die eigenständige und angesehene Gruppe aus dem englischen Manchester hatte mit Songs wie „Searchin’“, „Just One Look“ und „I’m Alive“ bereits eine Serie von Charts-Hits verzeichnen können. Ich drängelte mich durch die Zuschauer bis ganz nach vorn und beobachtete, wie Allan Clark und Graham Nash ihren jüngsten Hit, „Bus Stop“, sangen. Ich war stark beeindruckt. Sie sahen so anders aus. Ich prägte mir ein, welche Kleidung sie anhatten und wie sie ihr Haar trugen. Etwas in Graham Nashs Stimme sprach mich zudem ungemein an. Er spielte nicht nur sehr gut, er schien dabei auch wirklich Spaß zu haben. Als er zu mir in die erste Reihe hinablächelte, während er sang, konnte ich nicht anders, als sein Lächeln zu erwidern.

Während Bernie sich noch abmühte, sein Haar zu glätten, bevorzugte ich die klassische Pagenfrisur mit langem Fassonschnitt und eingedrehten Seiten. Immer noch hellblond, sah ich fast so aus wie Brian Jones von den Rolling Stones. Als Band übernahmen wir voll und ganz den Blumenkinder-Look der damaligen Zeit mit seinen langen, blusigen Hemdsärmeln und den weiten Schlaghosen. Wir ließen auch ein paar Werbefotos von der Gruppe machen, auf denen wir heute lächerlich anmuten, insbesondere der Schlagzeuger Boo­mer Hough mit seiner perfekten Frisur, seinem vornehm-englischen Zwei­reihersakko und den vor der Brust verschränkten Armen. Gott weiß, wofür uns die Leute hielten.

Wir nahmen zwei Singles auf und begannen, regelmäßig zwischen Day­tona, Tallahassee, Atlanta, New York, Miami und Lauderdale zu touren, oft mit Susan und Judy im Schlepptau, die als unsere persönlichen Groupies fun­gierten. Susan kutschierte mich in ihrem MG TD, den ihr Vater ihr gekauft hatte, überallhin. Er hatte ein Schaltgetriebe. Wenn sie erst einmal im vierten Gang war, legte sie ihren linken Fuß auf das Armaturenbrett aus Walnussholz, weil sie es satthatte, die Kupplung zu benutzen.

In jenem Frühjahr zogen ihre Eltern wieder nach Boston und ließen Susan und ihren Bruder Bill zurück. Bill blieb zum Studium noch ein paar Jahre in Gainesville, und seine Anwesenheit gab Susan einen Aufschub von einigen Monaten, also bis zum Ende des Sommers. Die Familie hatte das Haus ver­kauft, also zog Susan zu Judy Lee nach Micanopy, das ungefähr sechzehn Kilometer südlich von Gainesville lag. Um dorthin zu gelangen, musste ich einen Teil der Paynes Prairie überqueren, eines riesigen Gebiets aus Marsch­land, Feuchtwiesen und offenen Gewässern, das heute ein State Reserve Park und Nationalpark ist. Damals, in den Sechzigern, war es nur irgendein uner­schlossenes Sumpfgebiet.

Es gab eine Straße mit dem Namen Savannah Boulevard, die mitten durch das Sumpfgebiet führte. Zu beiden Seiten verliefen tiefe Wasserkanäle. Die schlauen Reptilien – die Frösche, Eidechsen, Schlangen und Alligatoren – kro­chen jeden Abend hoch auf den Asphalt, um die Wärme aufzusaugen, die von der Hitze des Tages übrig war. Jedes Mal, wenn ich Susan mit Barrys Motorrad besuchte, musste ich ungefähr fünf Kilometer mit den Füßen auf dem Lenker fahren. Falls ich eine Schlange überfuhr, konnte diese so nicht über das Vor­derrad an meine Beine gelangen. Ich kam mir vor wie bei einer mittelalterli­chen Probe: „Wenn du das bestehst, junger Ritter, kannst du das Herz des schönen Burgfräuleins gewinnen.“

In jenem Sommer spielten wir als Vorgruppe einer Band namens The Cyrkle, die mit dem Paul-Simon-Song „Red Rubber Ball“ einen Nummer-2-Hit gelandet hatte. Sie ergatterte sogar einen der begehrten Plätze im Vorpro­gramm auf der letzten US-Tournee der Beatles. Ihr Manager fand uns sympa­thisch und nahm uns mit nach New York, wo wir ein paar Clubkonzerte gaben. Ein paar von den Jungs bekamen jedoch Heimweh, sodass die Sache im Sand verlief. Bernie und ich gingen zurück nach Daytona Beach und schlugen uns mit kleinen Auftritten durch. Wenn sie konnten, gesellten sich Judy und Susan zu uns. Eines Abends hatte ich wegen irgendeines Unsinns einen Riesenstreit mit Susan, und sie stürmte davon. Ich glaube, sie wollte, dass ich ihr mehr Aufmerksamkeit schenkte, doch ich hatte alle Hände voll zu tun, mich zu amüsieren und high zu werden. Als wir unseren Auftritt beendeten, gingen Bernie und ich wie üblich rüber und sahen uns die Allman Joys an, danach rauchten wir ein bisschen Gras.

Ich wusste freilich nicht, dass Susan gemeinsam mit Judy ganz Daytona Beach nach mir abgesucht hatte, um die Angelegenheit wieder zu kitten. Schließlich betraten die beiden das Lokal und sahen uns dort sitzen. Alles, was sie von Duane und Gregg sehen konnten, waren ihre Hinterköpfe und ihr wunderschönes, langes, seidenes Haar. Da sie das Schlimmste vermutete, rannte Susan weinend hinaus.

Wütend marschierte Judy auf uns zu, um uns zur Rede zustellen. „Hey“, schrie sie Bernie an. „Was zum Teufel macht ihr hier mit diesen beiden Mädels?“

Gregg und Duane blickten überrascht zu ihr auf. Als sie ihre Bärte und Schnurrbärte sah, wurde ihr klar, dass sie sich geirrt hatten. Mann, wir lach­ten, bis uns die Tränen kamen.

Gerade als mit der Band, meiner musikalischen Entwicklung und in mei­nem Privatleben alles wunderbar lief, ließ Bernie eine Bombe platzen. Er war schon eine ganze Weile lang unzufrieden gewesen, sehnte sich nach größerem Erfolg und kam immer noch nicht mit seiner Familie aus. Wie meine Eltern auch nervten sie ihn oft mit Fragen, was er aus seinem Leben machen wolle, und versuchten, ihn zu einer akademischen Laufbahn zu drängen. Bernie war wütend, dass sie ihm nicht mehr Unterstützung zuteilwerden ließen.

„Musikalisch ist hier nichts los, Mann“, beklagte er sich immer. „New York oder Kalifornien sind angesagt, und ich werde niemals in New York leben. Ich hasse es. Demnächst schmeiße ich den Kram hin, gehe einfach zurück nach Kalifornien und mache richtig Musik.“

Er hatte das schon so oft gesagt, dass ich beinahe dazu übergegangen war, es zu ignorieren. Doch dann verkündete er eines Tages, dass er seine Koffer packen würde.

„Komm mit mir mit, Don“, drängte er mich mit leuchtenden Augen. „In Kalifornien ist das Wetter klasse, die Frauen auch, und dort geht es richtig ab. Dort liegen meine Wurzeln. Wir könnten zusammen eine Band gründen und etwas richtig Anständiges an den Start bringen.“

 

Ich schüttelte den Kopf. „Gainesville mag nicht viel zu bieten haben, aber es ist alles, was ich kenne“, sagte ich zu ihm. Die Wahrheit aber war, dass ich Angst hatte, alles hinter mir zu lassen. Auch mir hatte New York nicht gefallen. Im Gegensatz dazu schien Kalifornien allerdings weit entfernt, fremdartig und Furcht einflößend. All die Zeitschriftenartikel und Fernsehsendungen, die ich darüber gelesen und gesehen hatte, ließen darauf schließen, dass es eine sün­dige Stadt war, wo die Menschen sich „antörnten, in Stimmung brachten und ausstiegen“. Drogenmissbrauch war weitverbreitet, und zwar nicht nur Mari­huana. LSD und andere Halluzinogene waren der letzte Schrei, und auch in sexueller Hinsicht lief alles nur Erdenkliche. Trotz allem, was mein Vater über mich dachte, war ich immer noch ein naiver junger Teenager mit eher alt­modischen Moralvorstellungen. Ich wusste, dass ich nicht an die Westküste gehörte. Jedenfalls noch nicht jetzt.

Da ich aus armen Verhältnissen stammte, war ich von Haus aus vorsichtig. Ich brauchte Sicherheit, ein todsicheres Schema, nach dem ich Geld verdienen und die Miete bezahlen konnte. Ohne feste Jobangebote und sonstige greifbare Möglichkeiten einfach ins Unbekannte aufzubrechen erschien mir beängsti­gend. Bernie kannte in Los Angeles im Grunde niemanden und verfügte auch nur noch über sehr wenige Kontakte in der dortigen Musikszene. In meinen schlimmsten Albträumen malte ich mir aus, wie er sich mit Drogendealern und Zuhältern einließ und nie wieder Banjo spielte. Er hingegen wollte sein Glück jedenfalls versuchen, und es gab nichts, was ich hätte sagen können, um ihn noch umzustimmen.

An seinem Abreisetag ging ich hinüber zum Haus seiner Eltern und half ihm, sein Auto zu beladen.

„Ich wünschte, du würdest mitkommen, Kumpel“, sagte er und umarmte mich.

„Ich weiß“, sagte ich, den Tränen unangenehm nahe.

Er grinste breit und klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter. „Ich ruf dich an, sobald ich mich eingelebt habe. Wenn alles gut läuft, kannst du ja nachkommen, und wir können zusammen etwas machen, oder?“

„Klar“, log ich. „Sobald du dich eingelebt hast.“

Er setzte sich auf den Fahrersitz seines Ford Falcon und drehte den Zünd­schlüssel um. Mit einer dicken blauen Abgaswolke aus dem Auspuff erwachte der Motor zum Leben. Das Auto war bis unters Dach mit Instrumenten, Klei­dung und Equipment bepackt. Nur der Beifahrersitz war frei. Bernie ging tat­sächlich fort. Er fuhr nach Kalifornien, um seinen musikalischen Traum zu verwirklichen. Als ich ihm nachwinkte und zusah, wie sein Auto auf der stau­bigen Straße in Richtung Westen verschwand, musste ich all meine Kraft zusammennehmen, um ihm nicht hinterherzurennen und auf diesen freien Sitz zu hüpfen.

FÜNF

Der Sommer endete, und mit ihm mein Traum – Susan musste nach Bos-ton zurückkehren. Wir waren immer noch unsterblich ineinander verliebt, aber ein Teil von ihr sehnte sich danach, wieder nach Hause zu kommen. Sie vermisste das nördliche Wetter, die tausend Farben des Herbsts und die lan­gen, kalten Winter. Außerdem hatte sie sich an einem angesehenen College für Mädchen eingeschrieben und freute sich schon auf die nächste Phase ihrer akademischen Laufbahn. So betrachtet, hätten wir unterschiedlicher nicht sein können.

Als sie die Stadt verließ, saß sie vorn im Auto ihres Bruders Bill. Ich dachte, ich müsste sterben, so sehr schmerzte es. In einem Zeitraum von wenigen Monaten hatte ich meine erste große Liebe und meinen besten Freund verloren und darüber hinaus den Kontakt zu meinen Eltern vollständig abgebrochen. Ich konnte es kaum fassen, dass mir so viel Unheil auf einmal widerfuhr.

Ich war nur selten aus Florida rausgekommen – abgesehen von ein paar Ausflügen nach Oklahoma und Washington in meiner Kindheit und ein paar Auftritten in New York. Nun hingegen reiste ich, so oft ich konnte, nach Bos­ton. Ich nahm den Bus oder fuhr bei Bill mit, wann immer es ihn heimwärts zog. Einmal kratzte ich sogar genügend Geld zusammen, um mir einen Flug leisten zu können. Es war das erste Mal, dass ich mit dem Flugzeug flog, einer DC-3-Spornradmaschine, und es erschien mir wie ein Wunder, über Amerika hinwegzufliegen, anstatt zu fahren. Bis ich wieder nach Hause fliegen musste, hatten Susan und ich viel Spaß in Massachusetts, und es gelang uns, dort anzu­knüpfen, wo wir uns verabschiedet hatten. Die erneute Trennung jedoch fiel uns dafür umso schwerer.

Wieder allein in Gainesville, veränderte sich alles. Ich war achtzehn Jahre alt und fühlte mich von allem abgeschnitten. Das Maundy Quintet löste sich auf, als Tom Long aufs College ging und mich mit einem Schlagzeuger und dem Bassisten Barry zurückließ. Zum ersten Mal seit vielen Jahren hatte ich keine Band und war eine Zeit lang vollkommen orientierungslos.

Meine Liebe zu Susan stand aufgrund der Entfernung zwischen uns unter einem entsetzlichen Druck. Nach mehreren Monaten, in denen ich hin- und herreiste und versuchte, die Beziehung aufrechtzuerhalten, gestand ich mir ein, dass es keinen Sinn hatte.

„Es funktioniert einfach nicht“, sagte ich ihr in einem Ferngespräch. „Es sei denn, einer von uns ist bereit, dorthin zu ziehen, wo der andere lebt, und das wird nicht passieren.“ Ich glaube, ich brach ihr das Herz und meines auch, aber ich wusste, dass wir keine Zukunft hatten. Als ich den Hörer auflegte, dachte, ich würde sie niemals wiedersehen und nichts mehr von ihr hören.

Ich erteilte immer noch Gitarrenunterricht für Jugendliche und hatte auch noch eine Reihe anderer Jobs, konnte mich jedoch nicht entscheiden, ob ich wieder zur Schule gehen sollte oder nicht. Meine Eltern und Jerry drängten mich, aufs College zu gehen und einen Beruf zu erlernen, aber ich dachte, damit würde ich alles verraten, was ich bisher zu erreichen versucht hatte. Wie auch immer ich mich entschied, ich wusste, dass ich unbedingt Musik machen wollte, weil dies das Einzige war, worin ich mich für einigermaßen begabt hielt.

Ein Typ namens Paul Hillis, der ebenfalls bei Lipham’s als Musiklehrer arbeitete, war gerade nach zwei Jahren am Berklee College of Music aus Boston zurückgekehrt. Er war sechs Jahre älter als ich, ein exzellenter Gitarrist, der sich vor allem in Jazztechniken bestens auskannte. Als er zurückkehrte, konnte ich es kaum erwarten, ihn spielen zu hören und zu sehen, was er gelernt hatte. Zu meiner großen Überraschung jedoch hatte er das Instrument gewechselt. „Die Gitarre ist so begrenzt“, erklärte er abfällig. Er behauptete, auf einem Klavier ließe es sich leichter komponieren, und auch Harmonielehre und Theo­rie verstünde man besser.

Er eröffnete in Gainesville die Paul-Hillis-Musikschule, und ich schrieb mich dort ein, um von ihm Jazztheorie und Komposition zu lernen. Im Gegen­zug unterrichtete ich dafür seine neuen Gitarrenschüler. Für jede Stunde, die ich für ihn arbeitete, widmete er mir eine Stunde seiner eigenen Zeit. In weni­ger als sechs Monaten lernte ich, was man ihm auf dem Berklee College of Music in zweieinhalb Jahren beigebracht hatte. Ich verinnerlichte jede noch so kleine Information.

Über bei den Verbindungskonzerten geknüpfte Kontakte und Freunde in der Musikszene sprach mich eine in Ocala ansässige junge Band namens Flow an. „Steig bei uns ein“, sagten sie. „Wir haben das Maundy Quintet gehört und kennen deine Arbeit. Wir brauchen einen richtig guten Leadgitarristen.“ Die Band bestand aus drei Musikern: dem Schlagzeuger Mike Barnet, dem Key­boarder und Sopransaxofonisten John Winter sowie dem Sänger und Bassisten Jack Newcomb.

Flow waren zweifellos das, was mein Vater eine Hippieband genannt hätte. Sie hatten sich auf eine freie Form des Jazzrock spezialisiert und rauchten eine Unmenge Gras. Ich musste jedes Mal nach Ocala fahren, um mit ihnen zu proben. Um zwei Uhr nachmittags waren sie oft noch im Bett, entweder bekifft oder weil sie sich noch von der vorangegangenen Nacht erholen mussten.

Ihr gemietetes Haus strotzte vor Dreck. In der Spüle türmte sich schmut­ziges Geschirr, das nie jemand abzuwaschen schien. Sie waren totale Kiffer, aber auch gute Musiker. Wenn wir uns trafen, spielten wir richtig gut zusam­men. Sie lebten wirklich für die Musik. Dabei ging es ihnen nicht so sehr um großartige Songs und deren Vermarktung wie bei den Beatles. Vielmehr woll­ten sie rockig-poppige Songs schreiben und dazu den Rahmen nutzen, den Jazzmusiker bei ihren Improvisationen verwendeten – ein freier Fluss kreativer Energien, wie sie es nannten.

Wir sangen zunächst ein paar Strophen und einen Refrain und gingen dann in der Mitte des Stücks in einen freien Soloteil über, der irgendwo zwi­schen einer und fünf Minuten dauern konnte, je nachdem, wie gut es eben lief. Dann nahmen wir die Spannung wieder etwas heraus, sangen noch eine Stro­phe und einen Refrain, und das war’s dann. Es war perfekte Drogenmusik, aber mit einem moderneren Sound, als ihn eine Jazzband hatte. Für die dama­lige Zeit war das ziemlich innovativ. Das Beste daran war aber, dass man jedes Mal wieder aufs Neue ins kalte Wasser geworfen wurde, bildlich gesprochen.

Zwei ihrer Freunde waren die Tourneemanager der Young Rascals, die mit dem Song „Good Lovin’“ einen großen Hit gelandet hatten und in der Ed Sullivan Show aufgetreten waren. Sie hatten versprochen, aus New York herzukommen und sich Flow einmal anzuhören, wenn wir uns dazu bereit fühlten. Ich war hinzugenommen worden, um der Gruppe mehr Profil zu verleihen. Dafür konnte ich mich auf einer kreativen Spielwiese austoben: Jeden Abend, jedes Mal, wenn ich spielte, hatte ich Gelegenheit, zu improvi­sieren. Unter Anwendung von allem, was mir Paul Hillis über das Melodie­spiel beigebracht hatte, lernte ich, spontan zu spielen und frei zu denken, ohne jede Befangenheit oder Angst. Anfangs war ich noch sehr unsicher, doch als ich erst einmal oft genug ins kalte Wasser gesprungen war, fühlte ich mich im Umgang mit den Mitteln, die mir zur Verfügung standen, recht wohl. Jemand spielte einen Rhythmus, und ich legte einfach los. Manches von dem, was ich spielte, war ganz in Ordnung, manches war klasse. Es gab einen konstanten kreativen Fluss. Je freier ich wurde, desto mehr gewann ich an Selbstvertrauen. Es war für meine spätere Arbeit als Songwriter und Arrangeur ungeheuer hilfreich.

Nun, da Susan und Bernie fort waren und niemand diese Lücke füllte, hätte ich leicht aus der Bahn geraten können, insbesondere, da die Band so viel Gras rauchte. Aus irgendeinem Grund, den ich bis heute nicht ganz verstanden habe, hatte ich zum Glück jedoch nur ein geringes Suchtpotenzial. Zwar rauchte ich ab und zu gern ein bisschen Gras, aber ich hörte immer rechtzeitig auf, wenn ich das Gefühl hatte, die Kontrolle zu verlieren. Ich hatte eine Reihe paranoider Erlebnisse gehabt und in den Straßen von New York auch Heroin­abhängige herumliegen sehen. Soweit ich das beurteilen konnte, machte das Marihuana meine Bandkollegen nur unmotiviert und lethargisch. Ich kann mich nicht entsinnen, dass einer von ihnen jemals einer geregelten Arbeit nachging. Außerdem hatte ich immer noch einen Heidenrespekt vor dieser ganzen Drogengeschichte. Ein schöner Rock ’n’ Roller war ich!

Oft lief ich mit griesgrämiger Miene umher, vermisste Susan und zerfloss in Selbstmitleid. Ich traf mich mit ein paar Mädchen, aber nichts war auch nur annähernd so aufregend wie zwischen Susan und mir. Eines der Mäd­chen trug den ungewöhnlichen Namen Season Hubley. Sie kam von New York nach Gaines­ville, um Freunde an der Uni zu besuchen. Sie war das erste Mädchen seit Susan, das ich wirklich mochte, und ich dachte, es könnte viel­leicht etwas laufen, aber sie schien sich nicht für mich zu interessieren. Sie war nur auf der Durchreise. Dann stellte mich Susans Bruder Bill der Zim­mergenossin seiner Freundin, Jan Booty, vor. Jan, eine Diplomatentochter, war für länger hier, da sie in Gainesville Kunst studierte. Sie war sehr kreativ, und ich mochte das sehr an ihr. Schließlich zogen wir für eine Weile zusam­men. Wir teilten uns ein Haus mit einem anderen Paar, Barry und Patti, und Jans zwei Hunden, Rhythm und Blues. Als ich schon eine Weile mit Jan zusammenlebte, kam Jerry zu Besuch.

Seit er verheiratet war, hatten wir kaum noch Kontakt zueinander. Er arbeitete in einer kleinen Anwaltskanzlei in Gainesville, und wir hatten nicht besonders viel gemeinsam. Nun jedoch, da ich in Sünde lebte, hielt er es für seine Pflicht, mir mitzuteilen, was er über mich dachte. Ich habe immer den Verdacht gehegt, dass ihn Papa dazu angestachelt hatte.

„Was zum Teufel machst du mit deinem Leben, Don?“, fragte er mich und verzog das Gesicht. Er war erst fünfundzwanzig, doch in Schlips und Kragen wirkte er viel älter. „Mir kommt es so vor, als ob du deine Zeit verschwende­test.“ Bevor ich noch antworten konnte, ließ er sich über alles aus, was ich in seinen Augen falsch machte: Meine Ansichten über den Vietnamkrieg seien unpatriotisch, meine Verbindungen zu Demonstranten, Musikern und Dro­genkonsumenten höchst fragwürdig, meine Moral- und Wertvorstellungen völlig aus der Spur. Seiner Meinung nach steuerte ich auf eine Katastrophe zu. Er hielt mich für einen hoffnungslosen Fall und ließ mich das wissen.

 

Wir fingen einen Riesenstreit an, in dessen Verlauf ich vieles sagte, von dem ich wusste, dass ich es später bereuen würde. „Du bist ja schlimmer als Papa“, warf ich ihm vor. „Du hast dich so lange angepasst, dass du vom wirk­lichen Leben gar keine Ahnung hast. Was willst du als Nächstes tun, Jerry? Deinen Gürtel herausziehen und mich schlagen?“

Schließlich verließ er angewidert das Haus, doch nicht bevor wir beide gesagt hatten, was uns schon lange auf der Zunge lag. Als ich ihn gehen sah, bezweifelte ich, dass wir je wieder miteinander sprechen würden. Es schien, als ob sich alle, die mich liebten, früher oder später von mir abwendeten.

Die Musik rettete mich vor der Traurigkeit, die sich auf mein Leben gelegt hatte. Sowohl die Arbeit mit Flow als auch Barry, der Ehemann des Paars, mit dem Jan und ich uns das Haus teilten, weckten bei mir zum ersten Mal ein Interesse für Jazz. Barry stammte aus New York und war süchtig nach Jazz, der bei ihm scheinbar pausenlos lief. Durch seinen Einfluss begann ich, diese Musik genauer anzuhören. Ich vertiefte mich in das Jazzgitarrenspiel, lernte bestimmte Soli und fand Geschmack an Leuten wie Sonny Rollins und Django Reinhardt. Bald begann ich, die Gitarre in einem ganz anderen Licht zu sehen. Country, Rock ’n’ Roll und Bluegrass klangen im Vergleich mit etwas so Kom­plexem und Intellektuellem ziemlich archaisch. Nachdem ich bei Paul so viel Theorie gelernt hatte, schien Jazz auf einmal genau das Richtige.

Eines Freitagmorgens hörte ich gerade eine Platte von Mel Bay, während Barry laut aus der Village Voice vorlas, die er sich mit der Post aus New York schicken ließ, da es so gut wie unmöglich war, diese Zeitschrift in Gainesville zu bekommen.

„O mein Gott“, sagte Barry und setzte sich plötzlich auf. „Miles Davis spielt morgen Abend im Village Gate.“

Ich hatte zwar von Miles Davis gehört, doch hatte ich noch nie jemanden live Jazz spielen hören – außer vielleicht in der Bar des Holiday Inn, und auch da war es nur Filmmusik gewesen.

„Miles Davis?“, fragte ich unschuldig.

„Nur einer der besten Jazzmusiker der Welt!“, rief Barry ungläubig und starrte mich einen Augenblick lang schweigend an. Dann fügte er autoritär hinzu:

„Pack deine Sachen. Wir fahren hin.“

Es hatte keinen Zweck, mit ihm zu streiten, also schnappten wir uns jeder ein paar saubere T-Shirts und eine Zahnbürste, tankten seinen VW voll und brachen auf. Wir fuhren nonstop und schliefen abwechselnd. Die Fahrt ­dauerte über sechzehn Stunden. Als wir in Manhattan ankamen, mieteten wir ein Zimmer in einem heruntergekommenen, billigen Hotel, nahmen eine Dusche, zogen frische T-Shirts an und bestiegen ein Taxi ins Greenwich Village. Wir betraten das Village Gate und nahmen ziemlich weit vorn Platz. Ungefähr zwanzig Minuten später stand die Band, über die wir am Morgen zuvor in Gainesville gelesen hatten, vor uns auf der Bühne.

Diese Musiker machten mich fertig. Die Finesse, die Improvisation und die Freiheit in ihrer Kunst – etwa in Stücken wie „Bitches Brew“ – waren unglaublich. Es war eine der spektakulärsten Besetzungen, die Miles Davis jemals hatte: Er selbst spielte Trompete, der erst siebzehnjährige Tony Wil­liams Schlagzeug, Herbie Hancock Klavier, Wayne Shorter Tenorsaxofon und Ron Carter Bass.

In der Mitte der zweiten Konzerthälfte machte Miles Davis eine Pause und setzte sich an einen Tisch bei den Toiletten, um ein Bier zu trinken. Es gab keine Garderobe und auch sonst keine Rückzugsmöglichkeit für ihn. Ich war entschlossen, zu ihm hinzugehen und ihm zu sagen, wie sehr mir seine Musik gefiel, und setzte mich in Bewegung. Als ich nur noch ein paar Schritte von ihm entfernt war, sah er mich mit einem durchbohrenden Blick an, als wolle er sagen: „Komm ruhig näher, Junge, dann fresse ich dich bei lebendigem Leib.“ Also ging ich einfach an ihm vorbei und auf die Herrentoilette.

Dort drinnen starrte ich mich in dem zerbrochenen Spiegel an und nahm meinen ganzen Mut zusammen. „Ich muss es ihm sagen, ich muss es ihm sagen“, wiederholte ich es wie ein Mantra . Als ich wieder herauskam, wild entschlossen, ihm die Hand zu schütteln wie damals B. B. King, war er natür­lich längst weg.

Jenes Konzert war vermutlich eines der prägendsten Erlebnisse meines ganzen Lebens. B. B. King hatte mich mit seinem Rhythm and Blues vom Stuhl gerissen, aber das Konzert im Village Gate war zweifellos mein stärkster Jazzeinfluss, ein Ereignis, das mir zeigte, wozu richtige Musiker in der Lage waren. Die Fingerfertigkeit, das Repertoire und die Dynamik bildeten ein ganz eigenes, noch viel komplexeres Genre für sich. Das war abermals ein ganz anderes Niveau, eine neue Herausforderung für mich. Ich war zu dieser Zeit bereits ein großer Jazzfan und spielte ihn auch mit Flow. In jener Nacht im Hotel tat ich kaum ein Auge zu und ließ den Auftritt wieder und wieder vor meinem geistigen Auge Revue passieren. Am nächsten Morgen fuhren Barry und ich in andächtigem Schweigen nach Hause.

Kurz darauf lag ich an einem sonnigen Sommernachmittag gerade mit Jan im Bett und schaute zu, wie sich die Vorhänge sanft im Wind blähten, als im Radio ein Song kam. Ich setzte mich auf, hörte genauer hin und erkannte die Stimme sofort. Der Moderator sagte, dass die Nummer „For What It’s Worth“ heiße und von Buffalo Springfield sei, aber ich wusste Bescheid. Die Stimme, die ich gerade gehört hatte, gehörte Stephen Stills, dem Ausreißer mit dem Militärhaarschnitt, der bei den Continentals gespielt hatte.

„Wow!“, dachte ich und lehnte mich mit einem Lächeln in die Kissen zurück. „Er hat’s geschafft! Das ist wirklich toll. Vielleicht gelingt mir eines Tages auch so etwas.“

Der Song wurde zur Hymne einer ganzen Generation junger Leute, die landesweit gegen das Establishment rebellierten. Jedes Mal, wenn ich ihn hörte, dachte ich an Stephen und lächelte. Anders als er und Bernie war ich jedoch noch nicht bereit, meine musikalische Karriere auf Kosten von allem anderen zu verfolgen.

Im Herbst 1968 waren Flow bereit für das Probekonzert in New York. John Calagna und Andy Leo, die beiden Tourmanager, waren nach Florida gekom­men, um uns zu hören, und was sie hörten, gefiel ihnen. Sie dachten, sie hätten durch ihre Freundschaft mit Mike und John die Band „entdeckt“ und könnten uns nun über ihre Beziehungen zu den Young Rascals ins Geschäft bringen. Sie hatten Recht. Es war sicherlich der beste Kontakt zu einem Prominenten, den wir seit The Cyrkle gehabt hatten.

Der Auftritt sollte in einem kleinen Club in Manhattan stattfinden, dem Fillmore East. Die Gebrüder Allman hatten dort kurz vor uns gespielt. In Sachen Erfolg preschten sie uns voran. Duane hatte sich einen Namen als her­vorragender Studiomusiker gemacht, sie hatten in L. A. ein Album aufgenom­men und den Namen Allman Joys zugunsten von The Hourglass aufgegeben. Über Freunde in Daytona und Gainesville blieben sie jedoch mit uns in Ver­bindung, und wir wünschten einander alles Gute.