Bella mia

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

7

Im Bus nach Rom höre ich zerstreut meiner Sitznachbarin zu, die am Handy mit ihrem Freund redet. Mit weiblichem Geschick manipuliert sie das Gespräch, legt im entscheidenden Moment auf, dann ruft er wieder an, und sie erhöht den Einsatz. Ich lehne die Stirn an die kalte Scheibe, auf die Regentropfen in der Dunkelheit feine schräge Linien zeichnen. Schnell überqueren wir die Viadukte, in weniger als einer Stunde werden wir da sein. Ich habe nur eine große Umhängetasche dabei, schiebe die linke Hand hinein, um mich zu vergewissern, dass ich die Schachtel mit den Tabletten und die volle Flasche in der Plastiktüte dabeihabe. Diesmal habe ich ein anderes Hotel gebucht als in den vergangenen Jahren, laut Webseite hat es mehrere Ebenen und Hunderte von Zimmern, ich werde das Schild »Bitte nicht stören« an die Tür hängen, und niemand wird bemerken, dass ich das Zimmer nicht verlasse. In unserer Gegend wäre das unmöglich, eine Frau mittleren Alters käme und würde freundlich anklopfen, um zu fragen, geht es Ihnen gut, soll ich Ihnen etwas bringen.

Meiner Mutter habe ich gesagt, dass ich in Rom eine Freundin besuche und übermorgen zum Mittagessen zurückkomme. Bestimmt ist ihr nicht entgangen, dass ich die letzten beiden Male zum selben Datum die gleiche Flucht angetreten habe; fahr nur, hat sie geantwortet, mich aber hinausbegleitet und mir nachgesehen, während ich die Treppe hinabging, wie man jemandem nachsieht, der zu einer langen Reise mit unsicherer Rückkehr aufbricht. Ich habe sie gebeten, Marco von mir zu grüßen, und mir ein Lächeln abgerungen, bevor ich aus ihrem Blickfeld entschwunden bin.

Das Mädchen neben mir teilt demselben Gesprächspartner mit, dass wir um 19.15 ankommen, nicht etwa Viertel nach sieben. Er solle pünktlich da sein, ermahnt sie ihn, um ihr zu helfen, der Koffer sei zu schwer für sie, es seien nur noch zwanzig Minuten. Stimmt, die Leuchtanzeige im Bus bestätigt es.

Morgen ist unser Geburtstag. Der dritte, seither. Ich konnte nicht zu Hause bleiben, das hätte niemandem geholfen. Ihm, der die Mutter verloren, und ihr, die die Tochter verloren hat, habe ich nichts zu geben, ich bringe keinen Trost, meine Anwesenheit würde nur ausdrücken, dass die richtige Person fehlt.

Heute um diese Zeit hatten wir die Fächer im Kühlschrank schon auf zwei reduziert, um für die beiden gleich aussehenden Torten Platz zu schaffen, die ihn ganz ausfüllten, eine oben und eine unten. Für die Creme hatte sich unsere Mutter bei den Bäuerinnen, die ihre Erzeugnisse auf dem Marktplatz verkaufen, frische Kuhmilch und Eier von freilaufenden Hühnern besorgt. Eine alte verwitwete Tante verwahrte einstweilen unsere Alltagslebensmittel, für die kein Platz mehr war; zum Dank würden wir ihr dann eine großzügige Portion Torte vorbeibringen. Ich weiß nicht, ob sie wirklich mit uns verwandt war oder ob wir sie bloß Tante nannten, weil es so Brauch war. Olivia wartete ab, bis sie mit mir und dem Kühlschrank allein war, um sich mit dem Finger etwas von der Mokkacreme zu holen, die sie vom Seitenrand des Bisquits nahm, wo es am wenigsten auffiel. Mit einer Kopfbewegung lud sie mich ein, es ihr nachzutun, und wenn ich Angst hatte, erwischt zu werden, schob sie mir kurz entschlossen ihren verschmierten Finger in den Mund. Dann glättete sie, ebenfalls mit der Hand, die helle Oberfläche, wie ein Maurer eine Unebenheit im Putz behebt. Zur Sicherheit drehte sie die Torte vorsichtig so, dass die ausgebesserte Stelle auf den ersten Blick nicht zu sehen war.

Noch lange blieben wir dabei; auch als wir beide schon jede für sich in L’Aquila wohnten, versuchten wir, mindestens einen Tag vorher ins Dorf zurückzukehren, um gemeinsam in unserem alten Kinderzimmer zu schlafen. Mit der Flasche Moscato, die Papa schon gekühlt für uns bereithielt, zogen wir uns zurück und ließen pünktlich um Mitternacht zum Auftakt des Festes den Korken knallen. Nachdem wir uns einmal im Stehen zugeprostet hatten, wanderte die Flasche, auf den Nachttisch tropfend, von einem Bett zum anderen. Zwischen Gelächter und Bläschen drohten wir schier zu ersticken, wir tranken sonst nie so.

Marcos Geburt bereitete dieser Gewohnheit ein Ende, Olivia kam nicht mehr. Wenn möglich, besuchte ich sie zu Hause, um zu gratulieren, doch unser beider Aufmerksamkeit war ganz auf das Baby mit dem Lockenschopf gerichtet. Als sie dann mit Roberto, der in einem neuen Quintett spielte, nach Rom umzog, blieb von unserem Fest nur noch ein Telefonat. Wir mussten warten, bis sie für ein Wochenende ins Dorf zurückkehrten, dann trafen wir uns alle zu einem Familienessen, das viel üppiger war als gewöhnlich, als müsse es das unterschwellige Gefühl verpasster Gelegenheiten ausgleichen. Dass es nur noch eine Torte gab, wies taktvoll darauf hin, dass unsere Eltern jetzt, da sie Großeltern waren, endlich den Übergang ihrer Töchter ins Erwachsenenalter akzeptiert hatten.

Der Mann am Empfang registriert mich ohne einen einzigen Blick, und ich bin froh darüber. Ich gehe ins Zimmer hinauf.

Die Nacht vergeht irgendwie. Die schweren Vorhänge riechen nach Staub und abgestandenem Rauch, als ich sie so fest wie möglich zuziehe, um bei Sonnenaufgang das Licht auszuschließen, das in den noch geweiteten Pupillen schmerzt wie ein Messerstich. Ich setze mich, zum Nachttisch gewandt, auf das zerwühlte Bett. Beim schwachen Schein der Lampe gieße ich mir aus der Flasche, die ich für mich allein mitgebracht habe, ein Glas Cognac ein und lege daneben in einer Reihe die zehn Tavor-Tabletten auf der Platte aus Kunstholz bereit. Ich spüre den bitteren Geschmack der ersten auf der Zunge, der Schluck Cognac brennt auf der schon so lange abstinenten Schleimhaut, dann spüle ich die nächste runter, wieder mit Cognac, dann noch eine und noch eine, immer gefolgt von dem Schluck, der nie das unendlich große Glas leert. Oder vielleicht habe ich es ein oder zwei Mal nachgefüllt. Meine Speiseröhre steht von oben bis unten in Flammen, mein Magen revoltiert. Ich halte durch. Unterdrücke den Brechreiz durch mehrmaliges trockenes Schlucken. Ich drücke auf den Schalter und wickle mich in die Decken, wieder zum Zwilling geworden, schlafe ich in dieser großen dunklen Gebärmutter meinen vorübergehenden Todesschlaf.

Irgendwann am Abend wache ich auf. Ich weiß nicht, wohin ich kotze. Danach falle ich in einen zweiten stundenlangen Schlaf, aber kürzer. Am Ende knipse ich die Nachttischlampe an und spucke noch etwas Salzsäure auf den Boden zwischen Bett und Teppich. Mein Kopf brummt wie ein wild gewordener Bienenschwarm, allmählich nimmt er den Körper wieder wahr, die Schwäche. Im Bad trinke ich Wasser aus dem Hahn am Waschbecken. Sorgsam meide ich den Spiegel und bleibe lange unter der Dusche, achte aber auf den Verband an meiner verletzten Hand. Dann trockne ich meine fremde, stumpfe Haut ab, eine Zellwüste, wo das Blut noch stockt, die Nerven nur langsam reagieren. In dem einen Tag Schlaf ist der Organismus auf ein zentrales pulsierendes Klümpchen geschrumpft, ein kleiner Kern verdichteten Lebens, von dem aus sich nun eine Welle noch vorhandener Wärme wieder bis an die blasse, erloschene Oberfläche fortpflanzt. Das Gewebe macht sich bereit, Nahrung zu empfangen, der Kreislauf kommt wieder in Gang. Ich wehre mich nicht.

Ich ziehe die Vorhänge auf. Die Zeit, die ich verlieren wollte, ist schon Gestern. In einem länger zurückliegenden Gestern habe ich meiner Mutter geholfen, Olivia zu waschen und anzukleiden. Zuerst war noch jemand bei uns in dem eisigen Raum, eine verschwommene Gestalt im Hintergrund vor der weißen Wand, bestimmt eine Frau, ich weiß nicht, wer. Dann muss sie hinausgegangen sein; als sie begriff, dass wir im Augenblick die Kraft gefunden hatten für das, was getan werden musste, hat sie uns allein gelassen. Niemandem hätten wir erlaubt, sich um Olivias nackten Körper zu kümmern, um ihre ungeschützten Öffnungen, den zerquetschten Brustkorb. Sie leistete uns passiv Widerstand, mit mineralischer Starre. Grobkörniger Staub bedeckte vor allem ihre Hände und ihr unversehrtes Gesicht, wie ein schwerer Puder für einen grausamen Karneval. Ihre Haare konnten wir nicht waschen, wir haben nur den trockenen, bröselnden Schmutz vorsichtig herausgeschüttelt. Zuletzt war sie schön, wir haben sie angeschaut und geküsst, ich einmal, auf die Stirn, und ihre Mutter wieder und wieder, auf die Füße, die Hände, die Wangen und den Kopf, während sie sie streichelte. Erst da hat sie geweint, nicht vorher, während sie sie zurechtmachte. Sie hat lange zu ihr gesprochen, an die Worte erinnere ich mich nicht.

Olivia war bereit für die Begegnung mit Marco. Auch daran erinnere ich mich nicht, oder vielleicht bin ich hinausgegangen.

In letzter Minute habe ich ihr eine Strähne abgeschnitten, hinten im Nacken, sonst hätte sie mir nie verziehen. Ich habe sie eingesteckt und bewahre sie in einem Schächtelchen aus geblümtem Papier auf, das ich ab und zu öffne, um nachzusehen, ob wenigstens diese Locke die Zeit, die sie von ihr trennt, unverändert überdauern kann. Die einzige erkennbare Veränderung ist bisher, dass die Haare ein wenig spröder und stumpfer wirken; wenn man sie mit Daumen und Zeigefinger befühlt, merkt man den Unterschied sofort. Sie sind nicht ans Leben angeschlossen.

Ich trete hinaus in dieses eherne Licht des frühen Morgens. Den restlichen Cognac werfe ich in die Mülltonne, nicke dem Mann in der Bar zu, der mir nach einem prüfenden Blick einen starken Espresso vorschlägt. Er serviert ihn in einem dieser dickwandigen Tässchen, die ich mir auch für zu Hause gekauft hatte, das Erdbeben hat sie fast alle zertrümmert. Daneben legt er drei kleine Hefeteilchen, die ich brav aufesse. Ich zahle und verabschiede mich mit einer Handbewegung; an der Tür wird mir klar, dass ich kein einziges Wort gesprochen habe. Ich gehe Richtung Stazione Tiburtina.

An einem Stand, der gerade am Bürgersteig aufgebaut wird, halte ich inne, in den Kartons liegen alte Comics. Der Mann hat einen Packen mit Dylan-Dog-Bänden geöffnet und legt sie in die erste Reihe. Spontan rufe ich Marco an, der um diese Zeit wahrscheinlich seine Milch trinkt. Auf meine Frage zählt er mir verblüfft die Nummern auf, die ihm fehlen, und ja, der Großmutter geht es gut, wir beenden das Gespräch rasch, er ist schon etwas spät dran. Drei davon finde ich, so ein Glück, und in der Tasche wiegen sie weniger als der Cognac. Jetzt muss ich mich beeilen, die Beine bestehen die Prüfung.

 

Auf dem Rückweg ist der Bus halb leer, ich sitze sehr weit hinten am Fenster, doch das schützt mich nicht vor der Bekannten, die einsteigt und beschließt, sich neben mich zu setzen. Sie fängt an zu reden, fragt nach meinem bandagierten Finger und erzählt, wann sie in die Hauptstadt gekommen ist und wozu und wie. Nach einer kurzen Pause will sie das Gleiche von mir wissen. Ich antworte nicht sofort, blicke hinaus auf die vorbeiziehende römische Campagna, dann bitte ich um Verzeihung, ich muss mich weiter nach vorn setzen, die übliche Autoübelkeit. Selbstverständlich, selbstverständlich, und sie hat nicht den Mut, mir zu folgen.

Der Fahrer verlangsamt, um in L’Aquila West abzufahren, an der Mautstelle wabert der leichte Nebel einer unfruchtbaren Jahreszeit. Die Stadt bietet den Heimkehrenden keine Sehenswürdigkeiten, sie nimmt uns wieder auf und fertig; es schnürt mir die Kehle zu, dass sie mich mit kreuz und quer verlaufenden Rissen an den Häuserfassaden, fehlenden Stockwerken, um ihre eigene Achse gedrehten Pfeilern empfängt. Freiwillig kehre ich an den Ort zurück, der meine Schwester ermordet hat.

8

Marco kommt mürrisch nach Hause, wirft seinen Rucksack hinter die Tür und geht ins Bad, wobei die Hosenbeine seiner Jeans aneinanderreiben. Er war zum Mittagessen und Lernen bei einem Freund, der Großmutter hatte er Bescheid gesagt. Als er dann ins Wohnzimmer tritt, wirft er aus Versehen mit dem Ellbogen meine Handtasche herunter, die auf einem Schränkchen steht. Mit spitzen Fingern, wie einen Wurm, hebt er sie auf und stellt sie wieder hin. Jedes Mal, wenn er mit den Armen, den Beinen oder einer Kante seines Körpers die imaginäre Blase durchstößt, die ich um ihn gezogen habe, passiert ihm ein Missgeschick. Er ist so schnell gewachsen, ist noch nicht an seine Länge gewöhnt, muss noch die Maße verinnerlichen, um nicht in der Welt anzuecken. Ich gebe ihm die in Rom gekauften Comics; nervös nimmt er sie an sich und legt sie irgendwohin, ohne sie überhaupt anzuschauen. Merkwürdig, als ich ihn heute Morgen am Telefon nach den fehlenden Nummern gefragt habe, schien er sich zu freuen. Doch was konnte ich anderes erwarten, nach gestern? Auch an diesem Geburtstag habe ich ihn wieder allein gelassen.

Nun sitzt er mir bei Tisch wie gewohnt gegenüber. Meine Mutter hat schon vorher gegessen und ist zu einer Messe für das Seelenheil der Erdbebenopfer gegangen. Sie versucht gar nicht erst, uns zu fragen, ob wir mitgehen. Also habe ich ihn direkt vor mir, mit abgewandtem Blick, den Kopf über den bunten Teller gesenkt. Aus seiner Ferne wirft er mir eine Frage zu.

»Warum hat das Erdbeben manche Stadtteile zerstört und andere fast unversehrt gelassen?«

»Wie meinst du das?«, erwidere ich ausweichend, erschreckt über seine Direktheit. Dieses Thema hatte er noch nie angeschnitten.

»Ich meine, dass in der Via xx Settembre die Häuser eingestürzt sind und dabei alle diese Studenten umgekommen sind. Auch noch andere, wie Mamas Zahnarzt. In der Via Strinella, die die Fortsetzung ist, hat es nur ganz wenige Schäden gegeben. Dort wohnt Rash, mein Klassenkamerad.«

»Es hängt davon ab, wie gebaut wurde, von den verwendeten Materialien. Sie haben minderwertigen Stahlbeton genommen, mit wenigen, glatten, zu dünnen Eisenstreben. Und man kann die Verantwortlichen nicht einmal mehr verklagen, denn die sind inzwischen an Altersschwäche gestorben. Außerdem hat eine geologische Untersuchung ergeben, dass sich in der Via XX Settembre Abraum unter den Gebäuden befindet, ein besonders ungeeigneter Untergrund«, erkläre ich und trockne mir mit der Serviette die Hände ab, die sofort schweißnass geworden sind.

»Was bedeutet das?«

»Dass Erde aus der Umgebung hier abgeladen worden war, als man dort Gruben für die Fundamente von Neubauten ausgehoben hat. Logisch, dass so ein Boden bei einem Erdbeben keinen fünf- bist sechsstöckigen Wohnblock aushält.«

»Und in der Altstadt?«, bohrt er nach.

»Viele Häuser haben nicht standgehalten. Früher waren die Renovierungen nicht erdbebensicher«, erkläre ich weiter, während ich das liegen gebliebene Fleisch betrachte, das auf meinem Teller kalt und hart wird.

»Warum ist unser Haus eingestürzt?« Der Ton wird schärfer, und ein paar Speichelspritzer treffen mein Gesicht.

»Ich weiß es nicht. Deine Mutter und ich haben einem erfahrenen Ingenieur vertraut, der nach den ersten Stößen zur Inspektion vorbeikam, sowohl bei euch wie bei mir. Auch im Dorf bei der Großmutter. Er hat uns garantiert, dass wir in Sicherheit seien.« Unbehaglich rutsche ich auf dem Stuhl hin und her.

»Wer ist dieser Arsch?«, schreit er, und seine seit kurzem erwachsene Stimme kippt in ein lächerliches Falsett.

»Beruhige dich. Das ist doch jetzt egal, ich wüsste überhaupt nicht, wo ich ihn suchen sollte …«, antworte ich, ohne auf seine spuckende Wut einzugehen.

»Ach ja, egal?! Auch bei Rash hatten sie kontrolliert und gesagt, es bestünde keine Gefahr, aber dort ist das Haus nicht eingestürzt! Vielleicht haben sich seine Eltern nicht an dasselbe Genie gewandt wie ihr!«, keucht er anklagend.

»Warum legst du dich mit uns an? Es gab keinen Einzigen, der dieses Erdbeben vorhersehen konnte! Marco, die Experten der Risiko-Kommission hatten die gesamte Bevölkerung beruhigt, und dafür sind sie jetzt verurteilt worden. Niemand von uns konnte sich vorstellen …« Und ich breite hilflos die Arme aus.

»Na klar, natürlich nicht! Und jetzt weiß auch niemand was. Von allen diesen Scheißkerlen, die was von Abraum faseln, weiß keiner, warum ein Haus eingestürzt ist und das andere nicht!« Er zappelt unter dem Tisch, und wir stoßen mit den Füßen zusammen, ein leichtes Zittern überläuft seine trockene, blutleere Unterlippe. Ich brauche nicht viel Einfühlungsvermögen, um zu begreifen, dass er seinen Freund Fabio, genannt Rash, nicht um die heile Wohnung beneidet, sondern um seine Mutter, die noch am Leben ist.

Er hat den Haarvorhang wieder fallen lassen, doch bald hebt er den Blick vom Salat, den er seit zehn Minuten auf dem Teller hin und her schiebt, und sagt brüsk: »Du sollst morgen in die Schule kommen.«

Die Klassenlehrerin fordert mich auf, ihr ins multimediale Klassenzimmer zu folgen. Ich gehe im Rhythmus ihrer klappernden Absätze, gehüllt in ihr zu starkes Parfüm. Sie zeigt mir die zwei von Marco geknackten Computer, sie sehen aus wie ganz, lassen sich aber nicht mehr anschalten, er hatte an ihnen gearbeitet. Ein Techniker hat sie schon überprüft, der Schaden lässt sich nicht mehr beheben. Sie waren fast neu, gespendet von ich verstehe nicht genau wem nach dem 6. April von vor drei Jahren. Sie erläutert mir ausführlich, wie schlimm das für die Schule ist, angesichts des chronischen Mangels an Mitteln.

»Sind Sie wirklich sicher, dass es mein Neffe war?«, frage ich, und prompt zieht sie ein Handy aus der Handtasche und hält mir ein Video des Sabotageakts unter die Nase. Gedreht von einem Klassenkameraden, der dann, wie alle anderen vom Direktor unter Druck gesetzt, den Beweis geliefert hat. Feigling, denke ich zu laut, die Lehrerin hört es und sieht mich streng an.

Wir haben uns einander gegenüber an einen Schreibtisch gesetzt, sie umfasst nun den Rand wie mit einer Schraubzwinge, die Daumen auf der Unterseite der Platte. Ich konzentriere mich auf die vom morgendlichen Eincremen weichen Finger, auf die verschiedenen Ringe, die hell, beinahe fleischfarben lackierten Fingernägel ohne das kleinste Nagelhäutchen. Sie hat nie in Trümmern gegraben, vermute ich. Sie spricht über den Jungen, immer mit dem Kopf in den Wolken, schade, er ist so intelligent, aber das hätten sie ihm nie zugetraut. Dann wechselt sie den Tonfall, beugt sich mit ihrer untadeligen Frisur zu mir herüber, wird mütterlich, mitfühlend, und sagt: »Ich verstehe Ihre Situation.«

»Welche Situation verstehen Sie?«, frage ich, und sie verhaspelt sich, einen Augenblick aus dem Konzept gebracht, bevor sie wieder in ihre Rolle schlüpft.

»Die familiäre Situation, Signora«, verrät sie mit leiserer Stimme, als säßen im Schränkchen mit dem Feuerlöscher Spione, die uns belauschen. »Nur deshalb haben wir beschlossen, Marco mit Anwesenheitspflicht zu suspendieren.«

In ihrem beinahe selbstgefälligen Blick lese ich ihre Sicht auf einen fremden und fernen Schmerz.

»Bemühen Sie sich nicht um Verständnis«, erwidere ich, schon im Stehen. »Schicken Sie mir einfach die Rechnung über den Schaden.«

»Wie Sie meinen. Sie hätten sowieso nicht zu erscheinen brauchen.« Es ist ihr abschließender Dolchstoß. »Wir haben den Vater einbestellt.«

»Ich bin gekommen, weil Marco mich darum gebeten hat«, stelle ich klar.

Eine letzte Frage, ich will genau wissen, wann es passiert ist. Vorgestern, wie ich erwartet habe, an dem Tag, dem ich mich seit drei Jahren verweigere. Während ich anderswo meinen künstlichen Schlaf schlief, hat Marco sich hier arrangiert, so gut er konnte.

Lasch drücke ich mit der Linken die Rechte, die die Lehrerin mir hinhält; diesmal gehe ich voraus, höre hinter mir ihre Absätze klappern und erspare mir das Parfüm. Draußen vor dem Behelfsbau warte ich in der kränkelnden Sonne auf Marco, es ist kurz vor Schulschluss. Als er herauskommt, sieht er mich sofort, nähert sich, sucht meinen Blick, der streng ist, ich hatte seine Augenfarbe schon fast vergessen. Beinahe zitternd murmelt er ein kaum hörbares Ciao, die Klassenkameraden wenige Schritte hinter ihm schauen uns besorgt an.

»Gehen wir, der Wagen steht da hinten«, informiere ich ihn knapp.

Im Auto dreht er sich halb zu mir, fahren tue ich allein. Ich erkenne an seinem angestrengten Atem, dass er sich aufs Sprechen vorbereitet, es aber nicht schafft. Ihn so leiden zu sehen ist unerträglich, ich fahre langsamer und frage: »Marco, was ist los?«

»Wirst du es meinem Vater sagen?«, flüstert er. »Wirst du es der Großmutter sagen?«

»Der Großmutter sage ich nichts, und deinem Vater auch nicht, ich telefoniere selten mit ihm. Allerdings weiß ich, dass die Schule ihn angerufen hat.«

Er seufzt, setzt sich wieder gerade hin, und wir sind zu Haus. Ich stelle den Motor ab, er berührt mich am Arm und haucht: »Es wird nicht mehr vorkommen.« Dann plötzlich: »Aber lass ihn den Schaden bezahlen«, damit steigt er aus und knallt die Tür zu.

Noch vor mir sieht er die Nachbarin, die bei dem Erdbeben ihr Kind verloren hat. So dünn und kraftlos, wie sie ist, schafft sie es nicht, mit dem Fuß den Hebel herunterzutreten, um den Müllcontainer zu öffnen. Marco hilft ihr, nimmt ihr den Abfall ab und wirft ihn hinein.

Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?